Elftes Kapitel
Nicht nur klug ist das Kind, sondern auch noch pünktlich«, sagte Zertanik, als der Uhrenturm Mitternacht schlug. Er hielt mir die Tür auf, und ich ging an ihm vorbei und ließ mein Gewissen auf der Veranda zurück. Dort rollte es sich gleich neben meinen Prinzipien zusammen.
Der vordere Raum war leer bis auf die mir bereits bekannte blonde Frau, die Oppa zählte und säuberlich auf dem Tresen aufstapelte. Es waren verdammt viele Stapel.
»Hier entlang, meine Liebe.« Wir traten durch dieselbe Tür wie zuvor, in denselben schwach erleuchteten Raum und durch die Dienertür. Über denselben Gang, durch den ich schon einmal gekommen war. Und schließlich derselbe Raum, in dem ich einen Fischer geopfert hatte, um die Tochter eines reichen Mannes zu retten.
Das waren die einzigen Dinge, die noch dieselben waren wie beim letzten Mal.
»Du weißt, dass es sie umbringt«, sagte ich. »Die, die den Schmerz aufnehmen.«
»Reine Vermutung.«
»Menschen, denen ich den Schmerz übertragen habe, liegen im Sterben. Der Fischer könnte bereits tot sein. Die Leute sollten das wissen, ehe sie dieser Prozedur zustimmen.«
»Wenn auch nur einer geht, sind nicht mehr genug da für all das wunderbare Pynvium, das du haben willst.«
Ich schluckte meine Einwände hinunter. »Wie viele sind hier, die geheilt werden müssen?«
»Neun.«
Kalkulierbare Verluste. Der Krieg hatte mich alles darüber gelehrt.
»Dann lass uns anfangen. Ich habe nicht die ganze Nacht Zeit.«
Zertanik grinste, und für einen entsetzlichen Moment fürchtete ich, er könnte mir durch die Haare fahren. »Wie du wünschst, meine Liebe.«
Er brachte sie herein wie Gäste auf einem Ball des Herzogs. »Die Jonalis. Der Ehemann hat sich beide Beine gebrochen, und sie verteilen den Schmerz auf vier Onkel.
Kestra Novaik. Sie wird heute die zertrümmerte Schulter ihres Sohnes übernehmen.
Die Gebrüder Fortuno bezahlen einen ungenannten Preis an diese junge Dame, die es vorzieht, anonym zu bleiben.«
Die meisten waren Baseeris, was es mir leichter machte. Zwei sahen aus wie Verlatter, die für das hier vermutlich alles gegeben hatten, was sie besaßen. Das war schon schwerer. Eine Familie kam aus Geveg, und denen hätte ich wirklich am liebsten erklärt, sie sollten davonlaufen.
Ich tat es nicht. Stattdessen zog ich. Drückte ich. Und bemühte mich, ihre Gesichter nicht anzusehen, aber jede Heilung begann nun einmal mit meiner Hand auf ihrer Stirn und ihrem Herzen. Schmerz in den Augen des einen, Furcht in denen des anderen. Jeder starrte mich an und wandte dann den Blick ab. Ich wollte gar nicht darüber nachdenken, was sie sahen.
Ein gebrochenes Rückgrat. Eine zertrümmerte Hand. Schmerz um Schmerz glitt durch mich hindurch. Pynviumklumpen um Pynviumklumpen funkelte in dem Sack zu meinen Füßen.
»Die Mustovos mit ihrem Sohn und ... nun ja, jemandem, dessen Name nicht wichtig ist.«
Zwei Männer in den Uniformen der Nachtwache trugen einen nicht ganz so gut gekleideten Mann herein. Seine Hände und Füße waren gefesselt, und in seinem Mund steckte ein Lappen. Hatten sie einfach jemanden von der Straße entführt?
Bibberfüße trippelten meinen Rücken hinunter und zur Tür hinaus und ließen mich wie betäubt zurück. »Was ist hier los ?«
»Nummer sieben, meine Liebe. Wensil Mustovo hat mehrere Messerstiche und eine schwere Kopfverletzung erlitten.«
»Nein.« Ich zeigte auf den gefesselten Mann. Sein Haar war blond, und Mustovos Haar war schwarz und aufwändig frisiert. Zweifellos ein adliger Baseeri. »Er hat sich nicht damit einverstanden erklärt. Und damit bin ich nicht einverstanden.«
»Du hast dich bereit erklärt zu heilen. Über die Bedingungen wurde nie gesprochen.«
»Ich werde niemandem Schmerz aufdrücken, der nicht seine Einwilligung gegeben hat.« Das war nicht besser, als einem Fremden eins über den Schädel zu ziehen und ihm sein Geld zu rauben, um Pynvium zu kaufen. Nein, schlimmer, es hieße, dafür zu morden.
Ich verschränkte die Arme vor der Brust. »Ich weigere mich.«
Die Mustovos musterten mich ohne die Tränen und das Gejammer, das man von besorgten Eltern erwarten sollte. Was immer ihrem Sohn widerfahren war, es war nicht auf der Fähre passiert. Dieser Mann war später niedergestochen worden, und er hatte es sich vermutlich selber zuzuschreiben.
Der Vater beugte sich zu Zertanik. »Corraut hat uns gesagt, wir könnten uns darauf verlassen, dass diese Sache gedeckelt wird, bis unser Pynvium eingetroffen ist. Das war die Abmachung. Ich gebe dir das Boot nur, wenn ...«
»Wir kriegen das schon hin, kein Grund, ungeduldig zu werden.« Zertanik tätschelte seinen Arm und widmete sich wieder mir. »Du hast zugestimmt, meine Liebe.«
»So nicht. Nicht, wenn jemand dazu gezwungen wird.« Ich hatte vielleicht einundzwanzig Pynviumklumpen in meinem Beutel. Reichte das, um Tali, Danello und die Zwillinge zu retten? Um sie alle zu retten?
Es musste reichen. »Ich bin hier fertig.« Ich schnappte mir meinen Sack und warf ihn mir über die Schulter.
»Das ist unprofessionell, meine Liebe.« Zertanik legte mir eine Hand auf den Arm, zarter, als man es von so großen Händen erwarten sollte. »Die Mustovos geben sehr viel für diese Heilung.«
»Dann gib ihnen ihr Geld zurück.« Ich schob mich an ihm vorbei, und die leichte Berührung verwandelte sich in einen stählernen Griff.
»Wir haben eine Vereinbarung. Andere Leute haben Vereinbarungen mit mir getroffen, die auf deiner Mitarbeit basieren. Du kannst es dir nicht einfach anders überlegen.«
Ich wäre eine Närrin gewesen, wäre mir der drohende Ton entgangen, aber ich lernte schnell, und er hatte mich gut unterrichtet. »Wir haben vereinbart, dass ich den Gegenwert dessen, was ich heile, in Pynvium erhalte. Ich habe nicht mehr genommen, als ich verdiene.«
»Wir haben von drei Dutzend Stücken gesprochen.«
»Dann bist du ja billig weggekommen.« Ich riss meinen Arm los und knallte die Tür hinter mir zu.
Es gelang mir, noch ein paar Stunden zu schlafen, aber meine Finger zitterten, als ich in Aylins Zimmer Danellos Adresse auf einem Stück Papier notierte. Die Sonne ging gerade auf. Wenn Kione sein Versprechen hielt, dann würde er bald eintreffen, um Lanelle zum Frühstück abzuholen.
Ich reichte Aylin die Adresse. »Wenn ich nicht im Lauf des Vormittags zurück bin, ruf einen Löser von einem der Schmerzhändler für ihn und die Zwillinge. Ich hab jetzt das Pynvium dafür, also können sie uns diesmal nicht abweisen. Nimm einen von denen an den Docks, keinen von den etablierten, zu denen die Aristokraten gehen, und auf keinen Fall den neuen in der Nähe des Marktes!«
Aylin schüttelte den Kopf, sie war auf einmal ganz blass. »Nicht die Schmerzhändler, Nya. Denen ist nicht zu trauen.«
»Im Augenblick könnten wir der Gilde nicht trauen. Die Händler sind Danellos einzige Hoffnung.«
»Sie werden ihn und seine Brüder umbringen.«
Der Zorn und die Furcht in ihrer Stimme ließen mich aufhorchen. Aylin wurde nur selten ärgerlich, umso weniger zornig. »Es geht schon in Ordnung, glaub mir.«
»Nein!« Aylin biss sich auf die Lippe und musterte die Hand voll Pynviumklumpen, die ich ihr gegeben hatte. Der kleinste war so groß wie eine Walnuss, der größte so groß wie eine Mandarine. »Was, wenn sie sie nicht heilen?«
»Sie müssen ihnen nur den Schmerz nehmen. Jeder Löser kann das.«
Sie sah mich voller Entsetzen an. »Und es ist dir egal, wenn die Verletzung nicht geheilt wird?«
»Aylin«, ächzte ich verzweifelt. Ich hatte keine Zeit für lange Erklärungen. »Sie sind nicht wirklich verletzt. Der Schmerz, den sie in sich tragen, stammt von ihrem Vater.«
»Das ist unmöglich.«
»Es ist möglich«, sagte ich.
»Was meinst du?« Aylin starrte mich an, und obwohl ich mein ganzes Leben lang verheimlicht hatte, was ich tun konnte, wusste ich nun doch auch mit absoluter Sicherheit, dass es das Ende unserer Freundschaft wäre, würde ich sie jetzt belügen.
»Ich ... äh... hab ihn geschiftet.«
»Du hast was?«
Ich erzählte ihr die ganze Geschichte. Der Hühnerfarmer, die Fähre, die verzweifelte Bitte in einer mondbeschienenen Gasse. Aylins Augen wurden größer und größer, und ihr Zorn wuchs mit jedem Wort, das ich sagte.
»Hast du ihren Vater geheilt oder nicht?« So, wie sie mich ansah, hätte sie mir im letzteren Fall vermutlich einen Stuhl über den Kopf gezogen.
»Natürlich habe ich das. Aylin, was ist so schlimm?«
»Die Schmerzhändler haben meine Mutter umgebracht«, sagte sie leise und umklammerte das Pynvium. »Sie war auf dem Markt und hat auf diese Lebensmittelzuteilungen gewartet, nach denen die Baseeris uns haben anstehen lassen. Ein paar Männer haben sie verprügelt, weil sie ihren Platz in der Schlange nicht aufgeben wollte. Wir hatten nicht genug Geld, um zur Gilde zu gehen, also habe ich sie zu einem Schmerzhändler gebracht. Er hat gesagt, er hätte sie geheilt und es ginge ihr besser, aber er hat gelogen.« Sie schloss die Augen. Tränen rannen über ihre Wangen. »Er hat ihr den Schmerz genommen, aber er hat die Verletzungen dagelassen. Sie hat es nicht einmal gewusst. Sie wurde nur schwächer und schwächer, und dann war sie tot.«
»Das tut mir leid, Aylin.« Ich setzte mich neben sie und nahm sie in die Arme. Ich fühlte mich schuldig, aber ich konnte nicht bleiben, um sie zu trösten. »Ich muss jetzt wirklich gehen. Wirst du sie zu einem Schmerzhändler bringen, wenn Tali es nicht bis hier schafft?«
Sie nickte schniefend. »Brauchst du die nicht für Tali?«
»Ich habe genug, die sie füllen kann.« Bitte, lass mich wirklich genug haben. Ich stand auf und packte den nun etwas leichteren Beutel so, dass er aussah wie ein Bündel frischer Wäsche aus der Wäscherei. Er war immer noch ziemlich unhandlich, aber so ließ er sich wenigstens etwas leichter in das Gildegebäude schmuggeln.
»Wo hast du so viel davon herbekommen?«
»Gekauft.«
»Nicht für neun Oppa, ganz bestimmt nicht.« Sie drehte die Klumpen in ihren Händen. »Das muss ein Vermögen wert sein.«
»Es ist drei Leben wert, Aylin. Und zwei davon gehören Kindern.«
»Wie hast du ... ?«
»Später. Die Sonne ist fast schon aufgegangen. Sehen meine Zöpfe ordentlich aus ?«
Sie sah nach und nickte. Nun sah sie der Aylin, die ich kannte, schon ähnlicher. »Ein bisschen zerzaust, aber in Ordnung.«
»Tali wird etwas zu essen brauchen, wenn wir herkommen.« Ich reichte ihr drei Oppa, ein Drittel meines Vermögens. »Kauf genug, dass es für ein paar Tage reicht.«
»Das ist zu viel für Lebensmittel für ein paar Tage.«
»Du musst ja auch hierbleiben und auf Tali warten. Du wirst so lange nicht arbeiten können und kein Geld verdienen.«
Sie nagte an ihrer Unterlippe, als wäre ihr dieser Gedanke noch gar nicht gekommen. »Danke.«
»Ich habe dir zu danken.« Ich umarmte sie. Sie roch nach Kaffee. »Denk daran, was ich dir über Danello und die Kinder gesagt habe. Vergiss sie nicht.« Und lauf nicht davon und verkauf das Pynvium. Das hatte ich nicht denken wollen, aber der Gedanke war trotzdem plötzlich aufgetaucht. Aylin war kein böser Mensch, auch kein verzweifelter. Sie würde tun, worum ich sie gebeten hatte, trotz ihres Misstrauens gegenüber den Schmerzhändlern, selbst wenn sie den Gegenwert für die Miete und Lebensmittel für ein Jahr und womöglich noch ein neues Kleid in Händen hielt.
Hoffte ich.
»Ganz bestimmt nicht.«
»Ich bin in ein paar Stunden zurück. Dieses Mal hole ich Tali da raus, und wenn ich sie huckepack an dem Erhabenen vorbeitragen muss.«
Der Sonnenaufgang tauchte Geveg in fahlgoldenes Licht. Gemeinsam mit Tavernenköchen und Küchenmeisterinnen auf dem Weg zum Markt eilte ich die Straße hinunter, bis sie sich gabelte. Dann ging ich über die Brücke und fand mich, von ein paar der stets präsenten Soldaten abgesehen, plötzlich ganz allein wieder. Der Gildeplatz war ungewöhnlich leer an Verletzten und Hoffnungsvollen. Vielleicht waren sie gestern alle abgewiesen worden und hatten den Bescheid erhalten, dass es die nächste Zeit keine Heilungen geben würde. Außer für diejenigen, die für ein herzogliches Honorar zur Hintertür hereingelassen wurden.
Davon wusste natürlich niemand; anderenfalls wäre hier ein ganzer Menschenhaufe aufmarschiert und würde schreiend und drohend Stöcke oder Angelruten schwenken oder was sie an Waffen auch finden konnten. Ich hatte solch einen Zorn schon früher erlebt. Und ich hatte gesehen, wie wirkungslos er war.
Ich zog den weißen Schal von meinem Kopf und verlagerte die »Wäsche« an meine Hüfte. Nur ein einfacher Lehrling, der mit sauberer Kleidung zurückkommt. Ich war wieder in Talis Uniform geschlüpft; daher nickte mir die Torwache nur zu, ohne mich einer genaueren Betrachtung zu würdigen, und gähnte. Ich nickte ebenfalls und ging durch das Tor.
Ohne Menschen sah der Vorraum gleich zweimal so groß aus, hallten meine Schritte doppelt so laut. Ich zwang mich, nicht auf Zehenspitzen zu gehen. Lehrlinge mussten sich nicht in ihr eigenes Haus schleichen, aber ich trat trotzdem so vorsichtig auf, wie ich nur konnte. Vorbei an dem Wachmann vorm Schlaftrakt. Durch den Krankensaal, den Korridor mit den geschlossenen Türen hinunter und schließlich die Stufen hinauf, die zu Tali führten. Ich griff nach dem Kupfergeländer und trat auf die Stufen.
»Wo willst du hin?«
Ach, um der Liebe der Heiligen Saea willen, ließen die denn diese Treppe überwachen? Ich drehte mich um. Eine dunkelhaarige Frau stand wenige Schritte von mir entfernt im Korridor. Vier goldene Litzen prangten an ihrer Schulter.
»Was?«, fragte ich.
»Dieser Bereich ist gesperrt.«
»Ich löse Lanelle während ihrer Frühstückspause ab.« Ich bemühte mich um eine natürlich gelangweilte Miene, eine ungerührte Miene, eine Miene, die besagte, dass das für mich die normalste Sache von der Welt sei.
»Wie ist dein Name?«
»Tatsa.« Ich zuckte innerlich zusammen. Führten sie Listen darüber, wen sie nach oben geschickt hatten? »Ich bin ein bisschen spät dran. Lanelle denkt bestimmt schon, ich hätte sie vergessen.« Ich lachte leise und wedelte mit der Hand in Richtung der oberen Etagen. »Kann ich jetzt gehen?«
Meine vernünftige Bitte kämpfte gegen die Lüge gleich welcher Art, die als Grund dafür genannt worden war, dass niemand die Treppe hinaufgehen dürfe. Die Heilerin runzelte die Stirn und blickte sich um.
»Niemand hat mir gesagt, dass Lanelle eine Ablösung hat.« Die Turmuhr schlug sieben, ein scharfer Klang in der morgendlichen Stille. »Du kommst mit, während ich deine Behauptung von einem Ältesten bestätigen lasse.« Wieder sah sie sich auf dem Korridor um, dann packte sie mein Handgelenk
Wummm! Die Pynvium-Perlen von Aylins Armreif entluden sich unter dem Druck und blitzten. Mein Handgelenk und meine Hand juckten, doch wer die Perlen geladen hatte, hatte seine Arbeit gut gemacht. Der Schmerz blitzte auf und strahlte nach außen ab, in die Hand der Vierlitzerin.
Sie schrie auf und riss die Hand weg, starrte mich aus großen Augen an.
»Warum hast du ...«
Ich stürzte mich von den Stufen auf sie, wie ein Frosch, der von einem Baum hüpft. Sie kreischte, als ich sie zu Boden schlug, dann schnappte sie nach Luft. Es war nur eine Frage von Sekunden, bis sie ihre Überraschung überwunden hatte und sich wehren würde. Im Laufen war ich gut, aber im Kämpfen? Ich schwang den Beutel und schlug ihn ihr gegen den Schädel. Ihr Kopf flog zurück und knallte auf die Fliesen. Sie regte sich nicht mehr.
Eine entsetzliche Sekunde lang fürchtete ich, ich hätte sie umgebracht, aber dann hörte ich ihr leises Stöhnen. Ich tastete mich in Eile durch ihren Körper und seufzte. Nur bewusstlos. Sie fortzuschaffen könnte mich zu viel Zeit kosten, aber ich konnte sie auch nicht einfach hier liegen lassen. Heutzutage mochten die Angehörigen der Gilde bereit sein, viele Dinge zu übersehen, aber eine bewusstlose Vierlitzerin auf dem Flur gehörte wahrscheinlich nicht dazu.
Zitternd zerrte ich sie in einen der leeren Behandlungsräume und ließ sie auf eine Pritsche fallen. Es war kaum anzunehmen, dass irgendjemand diesen Raum so früh am Morgen benötigen würde. Ich fesselte ihre Hände und Füße mit ihren Litzen, die dazu recht praktisch waren, und stopfte ihr Aylins Schal in den Mund. Mit ein bisschen Glück würde niemand sie suchen, ehe Tali und ich fort waren.
Ich schlüpfte zur Tür hinaus und machte mich wieder auf den Weg nach oben. Kione lehnte an der Tür am Ende des Korridors, genau wie am Tag zuvor. Er nahm Haltung an wie ein Soldat, als ich den Treppenabsatz erreichte, ließ aber gleich die Schultern sinken, als er mich erkannte.
»Ich hatte gehofft, du würdest nicht kommen.«
»Tja, da bin ich.« Ich bezwang das Bedürfnis, mich umzusehen.
Er beäugte meine »Wäsche«, sagte aber kein Wort, wie wir es besprochen hatten. Mit einem tiefen Atemzug öffnete er die Tür und ging hinein. »He, Lanelle, deine Ablösung ist hier. Ich lade dich zum Frühstück ein.«
Lanelle gähnte und glättete die Falten in ihrer weißen Uniform. Hinter ihr lag ein grünes Leibchen am Fußende einer Pritsche. Schlief sie auch hier ?
»Ich bin am Verhungern«, sagte sie zu Kione, ehe sie sich mir zuwandte. »Habe ich Zeit, mich zu waschen, oder musst du schnell wieder weg?«
Du kannst dir den ganzen Tag Zeit lassen, du herzlose Ratte. Ich rang mir ein Lächeln ab. »Lass dir Zeit. Ich werde erst am Nachmittag im Krankensaal gebraucht.«
Sie schnappte sich ihr Leibchen und streifte es über die hageren Schultern. »Sie waren in der Nacht die ganze Zeit ruhig. Die beiden unter der Lampe sehen ziemlich wächsern aus. Du solltest vielleicht öfter nach ihnen sehen. Sie werden den Tag möglicherweise nicht überstehen.«
Ich packte das Pynvium mit noch festerem Griff. »Ich gebe auf sie acht.«
»Komm schon, Lanelle, ich hab auch Hunger.« Kione zog sie am Arm.
»Und falls der Älteste Vinnot schon so früh kommen sollte, mein Bericht liegt dort auf dem Tisch. Drei der vier Symptome, nach denen ich Ausschau halten sollte, sind aufgetreten. Er wird auch alle Toten wollen.« Sie hielt inne und musterte die Betten. »Zur Sektion, meine ich, damit sie herausfinden können, was der Grund für diese Krankheit ist.« Sie sprach hastig, als versuchte sie, uns beide davon zu überzeugen, dass das die Wahrheit war.
Aber ihr musste klar sein, dass sie logen. Unmöglich konnte sie so viel Zeit in diesem Raum verbringen und nicht erkannt haben, was hier nicht stimmte. Ich kämpfte gegen den Wunsch an, sie zur Tür und zum nächsten Fenster hinauszuschubsen.
»Und wenn ...«
»Jetzt komm schon, Lanelle.«
»Ich komme, ich komme!«
Kione nickte mir kurz zu, als er die Tür schloss.
Ich rannte zu Tali. Sie atmete noch, war immer noch blass und immer noch am Leben. Ich riss mein Bündel auf. »Tali ? Ich habe Pynvium. Wach auf, Tali. Du musst den Schmerz abladen. Schnell, wir haben nicht viel Zeit.«
Flatternd öffneten sich ihre Augen, und sie stieß einen leisen Schrei aus, beinahe wie ein Kätzchen.
Ich ergriff ihre Hand und legte einen Klumpen Pynvium hinein. »Fühlst du es? Du musst es füllen.«
Sie wimmerte und schüttelte langsam den Kopf.
»Du kannst das, Tali. Drücke, bitte, tu es für mich.« Für einen Moment fühlte ich es, ein Beben unter meinen Fingern, als sie ihren Schmerz fortdrückte. Ich reichte ihr den nächsten Klumpen. »Jetzt den.«
Ein Schluchzen trat über ihre Lippen und brach mir das Herz. Ihre Hände zitterten, waren kaum fähig, das Pynvium zu halten, geschweige denn, es zu umfassen.
»Bitte, versuch es.«
Ein weiteres Prickeln, wieder eine Verletzung entsorgt. Nacheinander reichte ich ihr die Klumpen der Hoffnung, flehte sie an, die Kraft zu finden, ihren Schmerz zu entladen. Betete, dass niemand die Vierlitzerin in dem Behandlungszimmer vorzeitig entdecken würde.
Beim siebten Klumpen kamen ihre Hände zur Ruhe. Beim zehnten kehrte ihre Farbe zurück. Beim zwölften hatten sich ihre eingefallenen Wangen wieder ein wenig gefüllt. Ich reichte ihr den dreizehnten Klumpen, kaum größer als ein Hühnerei. »Der Letzte, Tali, drück, so gut du kannst.«
Sie tat es, und nebem dem Schmerz, der sich in ihren feuchten Augen spiegelte, regte sich nun auch ihr Bewusstsein. »Wo? Woher? Du?«
»Ein Schmerzhändler. Ich erkläre es dir später, aber jetzt müssen wir hier raus. Kannst du stehen?«
Mühsam setzte sie sich auf, fiel aber gleich mit einem gepeinigten Aufschrei zurück auf die Pritsche. »Nein. Tut zu weh.«
Ich berührte ihr Herz und ihre Stirn. Immer noch so viel Schmerz, aber ich spürte noch etwas, etwas Schlimmeres. Verdicktes Blut wie bei Danello. O ihr Heiligen, habt Erbarmen! Löser waren nicht immun; es bedurfte nur einer höheren Dosis Schmerz über einen längeren Zeitraum, ehe auch sie dadurch zu Tode kamen.
Ich hatte kein Pynvium mehr. Und sie keine Zeit.
»Tali, hör genau zu, denn später kann ich dir das vielleicht nicht mehr erklären. Wenn du hier rausgehst, gehst du direkt zu Aylin.«
»Rausgehe?«
»Du weißt doch noch, wo Aylin wohnt?«
Sie zögerte. »Ja.«
»Geh direkt zu ihr. Sie hat etwas zu essen und frische Kleider für dich. Sie wird dich zu einem Jungen namens Danello und seiner Familie bringen. Du musst sie heilen. Sie hat Pynvium für ihren Schmerz.«
»Wie?«
Ich nahm ihre Hände. »Geh, so schnell du kannst, zu Danello, Tali. Sie haben nicht mehr viel Zeit, ehe ihr Schmerz sie umbringt.«
»Nya, nicht!« Tränen flossen über ihre Schläfen zu den Ohren.
Mit geschlossenen Augen legte ich meine Stirn an ihre. »Ich liebe dich, Tali.«
Ich küsste sie auf die Wange und zog.