Sechstes Kapitel

Wir verließen den Tempel und wandten uns nach rechts in Richtung der reicheren Viertel. Je weiter wir gingen, desto mehr dunkelhaarige Leute begegneten uns, und mehr als nur ein paar von ihnen warfen mir böse Blicke zu. Jeatars Hand lag noch immer an meinem Oberarm, hielt ihn mit festem Griff, aber nicht fest genug, um mir Schmerzen zu bereiten, während Morell neben uns herhumpelte, mich aber nicht anrührte. War das auch mit Tali passiert ? Hatten sie sie auf dem Heimweg von den Gärten geschnappt und ihr gedroht, mich bloßzustellen ? Ein Schrei wollte aus meiner Kehle brechen, aber Morell sah aus, als würde er jede Gelegenheit willkommen heißen, mich mit einem oder zwei Schlägen zum Schweigen zu bringen.

»Wohin bringt ihr mich?« Ich sah mich um, aber niemand wollte meinem Blick begegnen.

»Mein Auftraggeber ist an einem Treffen mit dir interessiert.«

»Gehört er zum Herzog oder zur Gilde?«

Er legte die Stirn in Falten und sah mich sonderbar an, antwortete aber nicht.

Mein Zittern wich einem Schaudern. »Hat er meine Schwester?«

Jeatar seufzte, und eine Sekunde lang glaubte ich Mitgefühl in seinen Augen zu sehen. »Wir haben mit deiner Schwester nichts zu schaffen. Wir haben dir lediglich ein Angebot zu unterbreiten, an dem du interessiert sein könntest.«

Wenn sie Tali nicht hatten, brauchte ich auch meine Angst nicht mehr runterzuschlucken und mitzuspielen. Außerdem sah das weniger nach einem Angebot aus als vielmehr nach einer Entführung. Ich blieb stehen, was auch ihn zum Stehen brachte. »Was für ein Angebot soll das sein?«

»Tut mir leid, aber ich habe strikte Anweisung, dich zuerst zu meinem Herrn zu bringen.«

»Und wenn ich nicht mitgehe?«

»Dann ziehen wir dir einen Sack über den Kopf und schleifen dich hin«, knurrte Morell direkt an meinem Ohr. Inzwischen schwitzte er heftig, und die Seide an seinem Kragen war feucht und dunkel gefleckt.

Ich trat ihn, riss meinen Arm aus Jeatars Griff los. Morell schrie und schlug mit der Faust nach meinem Kopf. Ich stolperte zurück, glitt auf der nassen Straße aus und landete auf dem Hinterteil. Ein paar Leute drehten sich zu uns um, einer lachte sogar.

»Hilfe!« Diejenigen, die hergesehen hatten, wandten sich eilig ab. Ich stemmte mich hoch, aber meine Beine rutschten in alle Richtungen wie bei einem neugeborenen Lamm.

Jeatar fing mich auf, presste mir meine Arme an den Körper. Er schüttelte mich einmal kräftig, und mein Kopf schnappte zurück. »Beruhige dich«, flüsterte er heiser. »Es tut mir leid, aber mein Auftrag lautet, dich zu meinem Herrn zu bringen, und es wird keinen guten Eindruck machen, wenn ich das nicht tue. Du bist in keiner Weise in Gefahr, aber es ist wichtig, dass wir nicht in aller Öffentlichkeit über Einzelheiten reden.«

Morell hob eine Hand, offensichtlich in der Absicht, mir eine kräftige Ohrfeige zu verpassen. Der Druck an meinem rechten Arm ließ nach, und Jeatar stoppte den Schlag gerade ein paar Zoll vor meinem Gesicht.

»Du bist ein Idiot, Morell.«

»Ich habe genug von dem Mist, den die Kleine verzapft.«

»Dann hör auf, sie zu provozieren.« Er drehte sich zu mir um und packte wieder meine beiden Arme. Morgen würde ich bestimmt blaue Flecken haben. Falls es ein Morgen für mich gab. Trotz all seiner Versicherungen fiel mir nur eine Sache ein, die mit einer Entführung anfangen könnte, und ich wäre für die Heilung von Soldaten in Verlatta nicht geeignet. Es würde mich aber näher zu Tali führen, falls sie doch mit ihrem Verschwinden in Zusammenhang standen.

Jeatar fuhr fort: »Ich würde ja Abbitte für meinen Kameraden leisten, aber ich bin leider nicht für ihn verantwortlich.«

Eine Entschuldigung? Greifer waren niemals höflich, niemals zuvorkommend, und sie flüsterten einem auch keine Beschwichtigungen zu, wie beängstigend diese auch sein mochten. Vielleicht hatte das alles wirklich nichts mit Tali zu tun oder mit der Gilde oder mit irgendetwas von den anderen möglichen Gründen, die mir durch den Kopf gegangen waren, seit ich ihn das erste Mal gesehen hatte.

»Du bist kein Greifer, oder?«, fragte ich so leise, dass Morell mich nicht hören konnte.

Etwas flackerte in seinen blauen Augen, aber ich konnte es nicht recht einordnen. »Nein, Merlaina, das bin ich nicht.«

Ich stutzte angesichts der sonderbaren Art und Weise, in der er meinen Namen betonte, so, als wüsste er, dass es nicht mein richtiger war. »Wohin bringt ihr mich?«

»Möchtest du heute etwas essen?«

Ich blinzelte. Ein offensichtliches Ablenkungsmanöver, aber ein gutes.

»Vielleicht etwas über deine Schwester herausfinden?«

»Ja.«

Er lächelte, und es sah beinahe vertrauenswürdig aus. »Dann komm mit, und hör dir an, was mein Herr zu sagen hat. Um mehr bitte ich nicht.«

»Abgesehen davon, dass du überhaupt nicht bittest.«

Zwei in ihr Gespräch vertiefte Händler wären beinahe mit uns zusammengestoßen. Nun blickten sie mit offenen Mündern, den Anfang von »Verzeihung« auf den Lippen, auf, nur um sogleich die Münder zuzuklappen, eilends vorüberzuziehen und sich anschließend über ihre Schultern nach Jeatar umzusehen.

Sie hatten ihn erkannt! Für wen arbeitete er? Vielleicht für den Generalgouverneur?

»Kommst du, Merlaina?«

Konnte ich ihm trauen? Hatte ich überhaupt eine Wahl? Wenn ich mich weigerte, würde er mich einfach hinschleifen. Aber wenn ich etwas darüber in Erfahrung bringen konnte, wo Tali sich aufhielt, war es das Risiko vielleicht wert.

Ich schluckte und nickte. Wir gingen weiter. Seine Hände hielten mich wie Stahlklammern fest, während er sich so unterkühlt gab wie ein Seekiesel. So verängstigt war ich seit dem Krieg nicht mehr gewesen, und dabei sagte mir mein Bauch, dass ich derzeit in viel größerer Gefahr schwebte.

Vielleicht waren sie Söldner. Gegen Ende des Krieges waren viele hergekommen, einige zum Kämpfen, andere, um Leuten, die fliehen wollten, gegen bare Münze ihren Schutz anzubieten. Andere waren geblieben, um die Baseeris vor denjenigen zu beschützen, die immer noch kämpften, nachdem der Rest sich ergeben hatte. Viele dieser Beschützer waren immer noch da, auch wenn heute kaum einer von den Gevegern mehr die Absicht hatte, den Kampf wieder aufzunehmen. Es war schwer, Leute zum Kampf zu ermutigen, die sich mehr Sorgen um ihr tägliches Brot als um die Freiheit machten.

»Seid ihr Söldner?«

Er zog eine Braue hoch. Aber ich hörte keinen Widerspruch. Morell stierte mich immer noch finster an, humpelte stärker als zuvor und war inzwischen so weiß wie Milch.

Wir bogen in die Strangbaronstraße ein und blieben vor einem Steingebäude stehen, das von einer hohen Mauer umgeben war. Die Art Mauer, die man baut, wenn man das, was sich hinter ihr befindet, schützen will. Ich nahm an, dass es dabei nicht nur um die Obstbäume ging, die über die Mauerkrone lugten.

Jeatar öffnete das Tor und streckte einen Arm aus. »Nach dir.«

Er ließ mich los, und einen Herzschlag lang dachte ich daran, einfach wegzulaufen. Aber wenn man mir hier wirklich ein Angebot unterbreiten wollte und man mir außerdem helfen konnte, Tali zu finden, dann musste ich ihnen eine Chance geben. Ich sah mich zu Morell um, der aussah, als wäre er nur noch Minuten von einer Ohnmacht entfernt. Vielleicht konnte ich mir ein wenig von dem Schmerz zurückstibitzen, um ihn zu benutzen, falls ich überstürzt verschwinden musste. Ich rückte näher an ihn heran.

»Das würde ich nicht tun.« Jeatar musterte mich tadelnd und schob mich in einen mittelgroßen Raum, dessen Wände samt und sonders von Regalen eingenommen wurden. Beinahe wie in einem Laden.

Gewürze und ein bitterer, metallischer Geruch drangen in meine Nase. Unbearbeitetes Pynvium? Allerdings alt. Der Geruch blieb in meiner Nase, aber er legte sich nicht auf meinen Rachen, wie es das frische Erz stets getan hatte.

Gegenstände unterschiedlichster Größe lagerten auf den Regalen: Tafelsilber, Tassen, dünne Ruten, Bälle, Statuetten, Windspiele. Die meisten waren bunt bemalt, aber ein paar glänzten in dem unverwechselbaren Blau, das erst vor so kurzer Zeit drohend vor meiner Nase geschwungen worden war. Kostbare Kinkerlitzchen, angefüllt mit eines Menschen Qual, bereit für den Zauber, der den Auslöser darstellte und einen Blitz puren Schmerzes abfeuern würde.

Meine Bibberfüße meldeten sich zurück. »Ihr seid Schmerzhändler.« Neue außerdem, anderenfalls hätte ich den Laden kennen müssen.

»Wir arbeiten für einen Schmerzhändler, auch wenn ich nicht sicher bin, wie lange Morell das noch tun wird.«

Morell setzte eine noch finsterere Miene auf, sagte aber nichts.

»Kündige unseren Gast an, ehe du zum diensthabenden Löser läufst«, bat ihn Jeatar, obgleich sich das weniger wie eine Bitte denn wie ein Befehl anhörte. »Ich glaube nicht, dass es sicher ist, euch zwei allein zu lassen.«

Morell humpelte hinter die schiefergedeckte Ladentheke, die sich beinahe über die ganze Länge einer Wand zog, und zu einer schmucklosen Tür, die mich doch mit banger Ahnung erfüllte.

»Warum seid ihr mir gefolgt?«, fragte ich Jeatar.

»Um uns zu vergewissern, dass deine Fähigkeiten echt sind, was du im Tempel ja nachdrücklich unter Beweis gestellt hast. Mein Auftraggeber wird zufrieden sein. Er war bereits beeindruckt von dem, was die Jungen und der Bauer Heclar im Gildenhaus berichtet haben.«

Bei allen Heiligen! Wie konnte ich nur so dumm gewesen sein? Jetzt alles abzustreiten wäre genauso töricht und würde mir vermutlich auch nicht weiterhelfen.

»Es tut mir leid, wenn wir dir Angst eingejagt haben, Nya«, fuhr er fort, »aber wir mussten sichergehen, bevor wir an dich herantraten.«

Er musste außer mit Heclar noch mit jemand anderem gesprochen haben, wenn er meinen echten Namen kannte. Hatte Heclar ihm von Danello erzählt ? Ganz bestimmt, aber ich konnte mir nicht vorstellen, dass Danello irgendjemandem von mir erzählen würde. Scharf sog ich die Luft ein. Bahari? Er würde schon eher reden, schon um sich dafür zu rächen, dass ich ihn gezwungen hatte, Schmerz auf sich zu nehmen, den er nicht gewollt hatte. Aber was wollte Jeatar? Warum hielt er meinen echten Namen geheim?

Die Tür ging auf, und ein Mann trat heraus. Er war so gut gekleidet, dass die Seidenmänner dagegen wie Flüchtlinge aussahen. Groß wie ein Berg in seinem juwelenbesetzten Seidenbrokat und mit dem schwarzen Haar, das sich ohne das kleinste Kräuseln wellte. Er roch nach Schmiede. Wie Papa. Ein Techniker, so sicher wie Zucker süß war. Allerdings fiel es mir schwer, mir vorzustellen, wie dieser aufgeblähte, geschniegelte Mann über den läuternden Flammen stand und das weiß glühende Pynvium behandelte, während er ihm die Form verlieh, in der es sich am besten verkaufen ließ.

»Ist das unser Mädchen?«, fragte er.

»Ja, Herr.« Jeatar trat zur Seite. Für einen Moment huschte ein Ausdruck des Missfallens über sein Gesicht. Ich schätze, sogar die reichen Leute mögen ihre Arbeitgeber nicht immer.

»Merlaina, bitte komm herein und nimm Platz. Du siehst erschöpft aus.« Der Techniker legte einen Arm, so gewaltig wie ein Baumstamm, um meine Schultern und geleitete mich durch die Tür. Reichtum troff von den perlenbestickten Gobelins an sämtlichen Wänden und sammelte sich dick wie Pudding in den Teppichen. »Setz dich, nimm Platz. Jeatar, hol ihr eine Tasse Tee, bist du so freundlich ?«

Beides im selben Ton, der zugleich die Bitte als Befehl enttarnte.

Ich setzte mich auf ein Sofa, so weich, ich wäre beinahe darin versunken. »Warum bin ich hier?«

»Ich möchte dir eine Stelle anbieten.« Er lächelte, ein Lächeln, das nur dazu diente, mich für sich zu gewinnen, das aber nichts mit seinen Gefühlen zu tun hatte. »Ich könnte jemanden mit deinen Fähigkeiten brauchen.«

»Ich bin keine Attentäterin.«

Seine Augen wurden ganz groß, und für einen Moment gaffte er mich nur schweigend an, doch dann lachte er. »Hat eine Menge Fantasie, das Mädchen, nicht wahr?«, sagte er zu Jeatar, der soeben mit meinem Tee zurückgekommen war. Wieder dieses Flackern in seiner Miene. Diese stumme Missbilligung zerrte schlimmer an meinen Nerven als Morells Drohungen.

»Zucker?«

»Ja, bitte.«

Er löffelte Zucker in die Tasse und rührte um. Lichtflecken wirbelten umher, als seien sie vom Weg abgekommen, verwirrt und ziellos.

»Nein, meine Liebe, ich benötige dich nicht für etwas derart Unfeines«, fuhr der Techniker fort und griff nach seiner eigenen Tasse. »Ich brauche einen Schmerzlöser, der die Grenzen des Pynviums überschreiten kann.«

»Das ergibt keinen Sinn.«

»Es bedeutet, dass er mehr ...«

»Ich weiß, was das bedeutet, aber was nützt ein Löser, der seinen Schmerz nicht loswerden kann?«

»Du missverstehst mich. Mir geht es nicht darum, ihn loszuwerden, nur darum, ihn zu übertragen.« Er nippte gekünstelt an seinem Tee. »Wenn ich auch noch alltäglichere Anliegen habe, die wir später besprechen können, gilt meine dringendste Bitte einem Klienten, dessen Tochter bei dem Unglück letzte Nacht verletzt wurde. Das Kind liegt im Sterben, und die Gilde ist nicht imstande zu helfen.«

Die gepeinigten Gesichter der Zwillinge flackerten vor meinem geistigen Auge auf, und ich schauderte. »Dann kann ich es auch nicht. Ihre Löser sind geschulte Heiler; ich nicht.«

»Ich sagte nicht, dass sie es nicht wollen. Sie können nicht helfen. Sie haben kein Pynvium mehr.«

Die Tasse entglitt meinen Fingern, und Tee ergoss sich über mein Hemd. Kein Pynvium ? Das war unmöglich! Sie hatten diesen riesigen Block, so groß wie ein Heuballen. Etwas, das so groß war, konnte den Schmerz von Hunderten ...

»Das Fährenunglück«, flüsterte ich. »Sie haben alles verbraucht? Wie kann das möglich sein?«

»Sie erwarten eine neue Lieferung, aber meine Klienten können nicht darauf warten, dass sie eintrifft. Bis dahin wäre ihr kleines Mädchen tot.«

Nicht nur das Kind. Wie viele waren letzte Nacht verwundet worden? Wie viele wurden Tag für Tag verwundet? Was würden die Leute tun, wenn sie wüssten, dass keine Heilung verfügbar war? Sie würden in Panik geraten, womöglich würde es zu Ausschreitungen kommen. Es könnte sogar schlimmer werden als bei dem Aufstand um Lebensmittel, der ausgebrochen war, als die Soldaten des Herzogs die Moorgehöfte erobert und versucht hatten, uns auszuhungern, damit wir uns ergaben.

Galle sammelte sich in meiner Kehle. War das der Grund, warum Tali keine Visite machte ? Zweifellos hatte sie letzte Nacht geheilt. Was, wenn sie keine Gelegenheit bekommen hatte, den Schmerz abzuliefern, ehe der Block voll war?

»Merlaina?« Der Techniker pochte mit den Fingerknöcheln auf den Tisch. »Das Mädchen?«

»Du ... du hast noch Pynvium, nicht wahr? Warum können dir die Schmerzlöser dann nicht helfen?«

Er sah sich nach Jeatar um und räusperte sich. »Meine Pynvium-Lieferung ist ebenfalls noch unterwegs. Sie hat sich wegen des Interesses, das der Herzog neuerdings an Verlatta hegt, verzögert. Ich habe nicht genug für diese Art der Heilung. Eigentlich sind es nur noch ein paar kleine Stückchen, kaum gut für mehr als das Schienen von ein paar gebrochenen Knochen.«

Der kalte Tee, den ich mir auf mein Hemd geschüttet hatte, sickerte durch bis auf die Haut, aber ich fror so oder so schon. Das erklärte die Geheimnistuerei und warum sie mich entführt hatten. Wenn die Leute glaubten, ich könnte ihnen helfen, dann würden sie an mir kleben wie Rankenfußkrebse an einem Boot. Trotzdem hätte mich Jeatar nicht so sehr ängstigen müssen. Hoffentlich hatte er mich nicht belogen, als er mir gesagt hatte, er habe Informationen über Tali. »Also soll ich die Tochter heilen und den Schmerz an die Eltern weitergeben, bis die Gilde wieder gerüstet ist?«

Er lachte, und meine brüchige Gelassenheit löste sich in nichts auf. »Oh nein, meine Liebe, keineswegs. Ich habe einen anderen Empfänger für diesen Schmerz im Sinn.« Er erhob sich und winkte mir zu, ich möge aufstehen. Ich stellte meine Tasse auf einem Tisch ab, der gut und gern ein durchschnittliches Jahreseinkommen wert war, und folgte ihm.

Wir traten in einen weiteren Raum. Dort, auf einem Tisch auf einer Seite des Raums, lag ein kleines, dunkelhaariges Mädchen. Seine Beine waren verkrümmt und blutig, die Haut grau. Neben ihm schluchzte eine in Seide gehüllte Frau an der Schulter eines Mannes, der noch besser gekleidet war als der Techniker. Der Mann blickte auf, als wir eintraten.

»Ist sie das?« Für einen Moment überlagerte purer Abscheu seine Verzweiflung. »Hat sie zugestimmt ?«

Hinter den beiden stand ein ungepflegter junger Mann, der krampfhaft eine Fischermütze umklammerte, wie ein Unkraut in einer Vase voller Blumen.

Jeder auf der Straße geschärfte Instinkt riet mir fortzulaufen, so schnell ich nur konnte. Adlige Baseeris umgaben sich nicht mit Fischern, wenn sie nicht etwas wollten, was sie sich nicht einfach nehmen konnten. Und dieser Mann hatte nur eines zu geben.

»Meine Liebe, diese liebenswerte Familie ist bereit, dir dreißig Oppa zu bezahlen, wenn du ihre Tochter heilst und den Schmerz in diesen Mann dort überträgst.«

Ich musterte den Fischer. Ausgebleichte Mütze, ausgebleichte Hose, ausgebleichtes Hemd. Bezahlten sie ihn auch, oder zwangen sie ihn, das zu tun. »Ich weiß nicht...«

»Du hast uns gesagt, sie wird es tun, Zertanik«, brüllte der Vater.

Zertanik, der Techniker, reckte beide Hände vor und bewegte sie auf und nieder, als wolle er ein Feuer mit den Händen ersticken. »Lasst ihr einen Moment Zeit. Wir haben sie mit unserem Anliegen überrascht. Meine Liebe, dieses Kind liegt im Sterben. Für Geschwätz bleibt uns keine Zeit.«

»Sie will nur mehr Geld. Fünfzig Oppa.«

Ich wette, man hatte mich noch in Verlatta schlucken hören können. Fünfzig Oppa! Mit so viel Geld könnte ich jemanden anheuern, um Tali zu suchen, und hätte immer noch monatelang ausgesorgt. Dennoch ... »Es tut mir leid, aber das ist nicht richtig. Er wird nicht mehr arbeiten können, wenn ich ihm den Schmerz gebe.«

»Er wird gut bezahlt, meine Liebe«, murmelte Zertanik.

Vielleicht, aber es fühlte sich falsch an, so, als würden sie uns kaufen, wie man irgendwelche alltäglichen Dinge kaufte. »Ich habe keine Ahnung, was so viel Schmerz ihm antun wird.«

»Aber wir wissen, was der Schmerz ihr antut«, jammerte die Mutter. Der Vater nahm sie in die Arme und klopfte ihr auf den Rücken.

»Du willst unsere Tochter sterben lassen?«, fragte er und maß mich mit einem finsteren Blick, als glaubte er, er könne mich durch Drohungen überzeugen. Das Gefühl der Schuld hatte erheblich größeren Einfluss auf mich.

Um der Liebe der Heiligen Saea willen, was sollte ich machen? Es war nicht an mir zu entscheiden, wer lebte und wer starb. Ich hatte mich um meine eigene Familie zu kümmern, und Tali war alles, was davon noch übrig war. »Ich werde es tun, wenn ihr einen Teil ihres Schmerzes auf euch nehmt. Auf drei Menschen aufgeteilt wird er leichter zu ertragen sein, bis ihr ihn von einem Heiler der Gilde heilen lassen könnt.«

Die Mutter schrie erneut auf, aber dieses Mal hörte sie sich entsetzt an. Der Vater sah mich an, als hätte ich ihn aufgefordert, einen lebendigen Schlammschnapper zu verzehren. »Wir? Wir haben wichtige Verpflichtungen gegenüber dem Herzog, junge Dame. Verpflichtungen, denen wir nicht nachkommen können, wenn wir bettlägerig sind.«

Ein Teil meiner Schuldgefühle verflüchtigte sich. Kein Wunder, dass sie glaubten, das Leben ihrer Tochter sei mehr wert als das eines Fischers. Genau wie all die adligen Baseeris, die ganze Familien aus ihren Häusern gescheucht hatten, als die Besatzung durch den Herzog ihren Anfang genommen hatte, Aristokraten, die dafür gesorgt hatten, dass wir uns benahmen und die Versorgung des Herzogs mit kostbarem Pynvium nicht störten. Es war nicht leicht zu rebellieren, wenn man sich schon um Nahrung streiten musste. Ich verschränkte die Arme vor der Brust. »Tut mir leid, die Antwort ist nein.«

Stimmen explodierten. Der Vater schrie, die Mutter jammerte, Zertanik brüllte lauter als alle anderen. Für einen Moment gelang es ihm, Ruhe zu erzwingen, und eine schwache Stimme erklang in aller Klarheit in dem Zimmer.

»Bitte. Für mich«, sagte der Fischer.

So viel Trauer lag in seinen Worten, dass ich beinahe geweint hätte. »Du weißt nicht, worum du bittest.«

»Doch, ich weiß es. Bitte, mein Fräulein, ich habe mein Boot vor ein paar Monaten verloren. Ich bekomme keine Arbeit mehr, und meine Frau trägt unser viertes Kind unter dem Herzen.« Er zeigte mit einem Nicken auf die Eltern. »Sie haben mir angeboten, unsere Miete für ein ganzes Jahr zu übernehmen, wenn ich ihnen helfe. Meine großen Jungs kratzen Rankenfußkrebse von Bootsrümpfen, seit sie sechs waren, sie können arbeiten, während ich es nicht kann. Und sie können fischen, also werden wir nicht hungern.«

Bei allen Heiligen, nein, ich wollte so etwas nicht noch einmal tun. »Du könntest sterben.«

Er nickte. »Ich weiß. Aber auch dann bleibt meiner Familie ein ganzes Jahr, um wieder auf die Beine zu kommen. Diese Zeit könnten wir jetzt wirklich brauchen.«

Ich musterte das sterbende Kind und seine Eltern. Den Techniker und den Seidenmann. Jeatars unergründliche Augen ruhten auf dem sterbenden Kind. Dann beugte er sich vor und flüsterte Zertanik etwas ins Ohr. Die Augen des Technikers weiteten sich einen halben Atemzug lang, dann nickte er.

»Meine Liebe, wenn du es tust, werde ich meine Freunde in der Gilde nach deiner Schwester fragen. Meine Freunde sind überaus einflussreich.«

Fünf Gesichter starrten mir entgegen, alle hoffnungsvoll, aber aus sehr verschiedenen Gründen.

»Bitte«, sagte der Fischer erneut mit seiner leisen Stimme.

Er versuchte, seine Familie zu retten. Sie versuchten, ihre Tochter zu retten. Ich musste Tali retten. Das war nicht so anders, als Danello und seiner Familie zu helfen, oder?

Mein Bauch sagte immer noch nein. Aber fünfzig Oppa! Und ich musste nicht einmal Krokodilen entkommen, um sie mir zu sichern.

Ich nickte, und die Mutter fing wieder an zu schluchzen. Ich legte die Hand auf das Kind und bemühte mich, nicht über die Zukunft des Fischers nachzudenken. Was schwerfiel, als ich spürte, wie schwer das Mädchen verletzt war. Wie verletzt er sich fühlen würde, wenn ich es geheilt und ihm all den Schmerz auferlegt hatte. Das war dann keine wirkliche Verletzung mehr, aber konnte so viel Schmerz nicht auch tödlich sein?

Wieder einmal sah ich Mamas Gesicht vor mir. Du darfst nie wieder Schmerz in einen anderen drücken, Nya. Das ist böse, sehr böse. Versprich mir, dass du das nie wieder tust. Ich hatte mich wirklich bemüht, aber ich hatte auch versprochen, auf Tali achtzugeben. Dieses Versprechen musste einfach wichtiger sein.

»Bist du sicher?«, fragte ich den Fischer. »Das ist...«, ich warf einen Blick auf die Eltern, »... schlimm.«

»Bitte.«

Ich drehte mich zu Zertanik um. »Hast du noch einen Tisch oder eine Lagerstätte für ihn?«

Er winkte Jeatar zu, der sogleich hinausschlüpfte und mit einem der billigen Ladentische zurückkehrte, die die Händler auf den Märkten zu benutzen pflegten.

»Stell ihn neben ihr auf«, wies ich ihn an, »sodass ich zwischen beiden stehen kann. Ich muss beides gleichzeitig machen.« Zwar verdienten die Baseeris nicht, verschont zu werden, der Fischer aber schon, und ich wollte nicht sagen, dass das Kind so schwer verletzt war, dass ich fürchtete, ihrem Schmerz nicht lange genug standhalten zu können, um ihn anschließend weiterzugeben. Manchmal waren die Leute besser dran, wenn sie bestimmte Dinge nicht wussten.

Ich legte je eine Hand auf Kind und Fischer, biss die Zähne zusammen und zog. Höllenqualen rasten meinen Arm empor, quer über meine Brust und den anderen Arm hinunter, schneller noch, als ich zog, so, als wollten sie raus, ehe irgendetwas sie festhalten konnte. Helle Punkte leuchteten am Rand meines Blickfelds auf, färbten sich rot, erst hellrot, dann immer dunkler, vermehrten sich, bis sie den ganzen Raum tönten. Dann ergoss sich der Schmerz in den Fischer, und nichts, was ich zu tun versuchte, konnte ihn noch aufhalten.

Während ich darum kämpfte, auf den Beinen zu bleiben, versperrte ich die Ohren gegen seine Schreie und dachte an Tali.

 

Jeatar legte mir ein feuchtes Tuch auf die Stirn, während Morell mein Erbrochenes in der Eingangshalle aufwischte. Beinahe hätte ich seine Schuhe erwischt, als ich zur Tür gestürzt war, aber davon fühlte ich mich auch nicht besser. Jeatar hatte mich zum Sofa getragen, nachdem ich meinen Magen entleert hatte, aber auch im Liegen schwankte der ganze Raum um mich herum.

»Geht es dir besser?«, fragte er mit einem Ausdruck echter Besorgnis im Gesicht. Morell stierte mich immer noch finster an, sah aber besser aus; also musste es wohl noch irgendwo ein bisschen Pynvium gegeben haben, da sie offenbar in der Lage gewesen waren, ihn zu heilen.

»Etwas.« Der Fischer hatte aufgehört zu schreien. Ich hatte versucht, einen Teil seines Schmerzes in mir zu behalten, aber er war so schnell wie ein Fluss durch mich hindurchgerauscht, und ich hatte ihn nicht dämmen können. Nie zuvor war ich dem Gefühl des Todes so nahe gekommen, und der arme Mann musste nun damit leben. Bitte, Heilige Saea, lass ihn leben. »Was wird nun aus ihm?«

»Zertanik hat Vorbereitungen getroffen, ihn nach Hause zu bringen. Man wird sich um ihn kümmern.«

»Er kann diesen vielen Schmerz nicht lange aushalten. Und wenn ihr nur ein paar Pynvium-Gegenstände übrig habt, nehmt etwas davon für ihn. Bitte. Es war so viel schlimmer, als wir angenommen haben. Er kann das nicht schaffen.« Mein Magen geriet erneut in Wallung.

»Ruhig.« Besänftigend legte er eine Hand auf meine Schulter, aber ich erkannte den Zweifel in seinen Augen, auch wenn er ihn schnell wieder zu verbergen wusste. »In ein oder zwei Tagen werden die Pynvium-Schiffe eintreffen, und dann werden wir dafür sorgen, dass ihm der Schmerz genommen wird.«

»Wie könnt ihr sicher sein, dass die Lieferungen überhaupt hier eintreffen werden?« Solange Verlatta belagert wurde, konnte er sonst was versprechen.

Jeatar warf einen finsteren Blick auf Zertaniks Tür. »Er ist sehr genau über solche Dinge informiert. Keine Sorge, dem Fischer geht es bald wieder gut.«

Gut? Wie sollte es ihm mit all diesem Schmerz gut gehen? Genug Schmerz, um ein Kind umzubringen, vielleicht auch einen Mann. Ich schloss die Augen, aber das machte es noch leichter, seine Qualen zu sehen. Ich schlug sie wieder auf. Ich hatte das alles nur für Tali getan. Ich konnte es ertragen, wenn ich das nicht vergaß. »Wirst du eure Leute nach Tali fragen ?«

»Ich werde mit meinen Leuten reden, ich verspreche es.«

»Wann werde ich etwas erfahren?«

»Derzeit gibt es nicht viele Informationen, die das Gildenhaus verlassen. Es könnte ein oder zwei Tage dauern, etwas in Erfahrung zu bringen.«

Würde der Fischer dann noch leben? Was hatte ich getan?

Die Tür öffnete sich, und das reiche Baseeri-Ehepaar trat heraus, das schlafende kleine Mädchen sicher in Mutters Armen. Der Vater griff in seine Tasche und ließ eine Hand voll Münzen auf meine Brust fallen. Ich zuckte zusammen, aber sie brannten nicht, obwohl sie das hätten tun sollen nach dem, was ich getan hatte, um sie mir zu verdienen.

Zehn Oppa.

Ich setzte mich auf, und sie rutschten in meinen Schoß. »Du hast mir fünfzig versprochen.«

»Du hast uns nicht um unseretwillen geholfen, du hast es für diesen Mann und für dich getan. Du kannst froh sein, dass ich dir überhaupt etwas gebe.« Und dann trampelten sie hinaus und warfen krachend die Tür hinter sich ins Schloss.

Jeatar sah ihnen erbosten Blickes nach und legte aufrichtig angewidert die Stirn in Falten. »Das Doppelte hätten sie dir bezahlen sollen«, murmelte er.

»Ich muss hier raus.« Mein Hemd fühlte sich plötzlich zu eng an; ich konnte nur noch winzige, flache Atemzüge tun. Ich steckte hastig die Münzen in die Tasche, wollte sie nicht länger als notwendig berühren. »Komm zu mir, sobald du etwas über Tali erfahren hast.«

»Wo finde ich dich?«

Ich zögerte. Ich hatte kein Zuhause mehr. Und würde er sein Versprechen überhaupt halten, oder würde er mich genauso hinters Licht führen, wie die Baseeris es eben getan hatten. »Ich werde dich finden. Ich komme jeden Tag her.«

Er sah sich erneut nach der Tür zu den prunkvollen Räumen um. »Nein, komm nicht wieder hierher. Schick eine Nachricht, dann können wir uns irgendwo treffen. Du sagst, wo.«

»In Ordnung. Jetzt muss ich gehen.«

»Du solltest dich noch eine Weile ausruhen.«

»Ich muss hier raus.«

In dem Moment, als ich mich auf den Weg zur Tür machen wollte, tauchte Zertanik auf. »Nun, meine Liebe, dein Verhalten war zweifellos unangemessen. Diese Leute haben einen fairen Preis für einen Dienst geboten, den nur du anbieten kannst, und du hast sie abscheulich behandelt. Ich hoffe, so etwas wird beim nächsten Mal nicht mehr passieren.«

Jeatar räusperte sich. »Herr, ich glaube, wir sollten nicht...«

»Unsinn. Sie ist ein Naturtalent.«

Mein Herz hämmerte in meiner Brust. »Es wird kein nächstes Mal geben.«

»Wie bitte?«

»Ich werde das nie wieder tun.«

»Denk an all das Geld, das du verdienen kannst.«

»Ja, ganze zehn Oppa.« Papa hatte immer gesagt, auch Prinzipien hätten ihren Preis. Ich hatte meine billig verkauft.

Er runzelte die Stirn und strich seine Ärmel glatt. »Nun ja, sie waren am Ende ein wenig knauserig, nachdem du dich geweigert hattest, ihnen zu helfen. Wärest du ein wenig liebenswürdiger gewesen, hätten sie sicher mehr bezahlt.«

Ich griff zur Türklinke der Eingangstür, aber er packte meinen Arm und hielt mich auf.

»Wir haben andere Klienten, die bereit sind, teuer für diesen Dienst zu bezahlen.«

»Nein.«

»Du wirst nie wieder Hunger leiden. Du könntest dir ein Zuhause mit einem eigenen Waschraum leisten.«

Mein altes Haus erschien vor meinem geistigen Auge. Ein eigenes Zimmer, zwei Waschräume, Zimmer zum Essen und zum Kochen und um am Feuer zu sitzen und zu lesen. Ein Garten hinter dem Haus, klein, aber unser Eigen.

Ein Haus ohne Tali, ohne Familie ? Bedeutungslos.

»Ich werde das nie, nie wieder tun.« Wie hatte ich nur dumm genug sein können, so etwas mit echtem Heilen zu verwechseln? Echte Heiler verletzten keine Menschen. Nie. Blut rauschte in meinen Ohren, aber nicht laut genug, um die Schreie in meinem Kopf zu übertönen.

»Oh, ich bin überzeugt, du wirst, meine Liebe. Ich habe da nicht den kleinsten Zweifel.« Und er lächelte wie ein Mann, der etwas wusste, das ich nicht wusste.

Ich riss meine Hand los und stieß die Tür auf, rannte, so schnell meine zitternden Beine mich tragen wollten.