Siebzehntes Kapitel

Sie sind am Leben?«, wiederholte ich. Ich wollte ihm glauben und fürchtete mich doch davor.

»Die meisten. Ein paar sind gestorben, und ich denke, das hat den Erhabenen auf die Idee gebracht zu behaupten, sie wären alle tot. Ein paar seiner Männer wurden gesehen, als sie Leichen in die Leichenhalle gebracht haben.«

Tali lachte, und die Erleichterung rötete ihre Wangen. »Das ist wunderbar. Dann können wir sie immer noch retten.«

»Was? Nein!«, sagte ich. »Wenn wir zurückgehen, sind wir alle tot.«

»Aber wir müssen, Nya. Wir können sie nicht dort lassen.«

Kione nickte. »Darum bin ich losgezogen, um dich zu suchen. Sie haben Lanelle wehgetan. Ich habe sie in dem Dachzimmer in einem der Betten liegen sehen. Der Älteste, dieser Irre, der sie da oben wegsperren wollte ...«

»Vinnot.«

»Ja, Vinnot. Er hat mich beauftragt, ein paar Sachen nach oben zu bringen, und ich habe Lanelle und die anderen gesehen. Ich habe gehört, wie der Erhabene zu ihm gesagt hat, sie könnten die Sache in Ruhe zu Ende bringen, wenn der Herzog glaubte, die Heiler wären tot. Dass sie längst davongesegelt sein könnten, ehe er herkäme, um nachzusehen, was los ist.«

»Der Herzog kommt hierher?«

»Ich bin nicht sicher.« Er zuckte mit den Schultern. »Ich konnte nicht alles verstehen, aber ich hatte den Eindruck, dass sie damit rechnen und dass sie weg sein wollen, ehe das passiert.«

»Warum sollte der Erhabene lügen?«, fragte Danello und wich zurück, sodass Kione ganz eintreten konnte.

»Ich weiß es nicht.«

Es ergab keinen Sinn. Ich musterte die fünf verängstigten Gesichter im Zimmer. Der Erhabene mochte grausam sein, dumm war er nicht. Er musste gewusst haben, dass es die Leute wütend machen würde, wenn er ihnen erzählte, dass die Heiler tot waren, und wenn Geveger wütend waren, kam es beinahe immer zu Ausschreitungen. So etwas würde er nicht tun, es sei denn...

Ich erstarrte. »Kann er den Aufstand mit Absicht herbeigeführt haben?«

Aylin schlang die Arme um den Leib. »Warum sollte er so etwas tun?«

»Ich weiß es nicht.« Der Erhabene hatte einen Plan, so viel stand fest, aber was er vorhatte, war so undurchsichtig wie sumpfiger Morast.

»Wer weiß, was die da oben im Schilde führen?«, sagte Kione. »Ich weiß nur, dass, kurz nachdem ich das Gespräch mit angehört habe, diese Bekanntgabe gemacht wurde. Jetzt stehen die Dinge wirklich schlimm, Nya. Du musst zurückgehen und Lanelle retten.«

Sein Ton brachte mich auf die Palme. Ich musste, nicht er. Nicht wir.

Ich schüttelte den Kopf. »Wir kommen da nie wieder rein. Die ganze Gilde ist auf der Hut. Tausende von Leuten verstopfen die Straßen. Und überall sind Soldaten.«

»Ich weiß, aber du bist schon einmal reingekommen. Wenn es jemand schafft, dann du.«

Möge Saea mich davor bewahren! »Lanelle hat ihnen geholfen, Kione. Das weißt du doch, oder?«

»Sie hatte keine Wahl! Ich habe ihnen auch geholfen, aber ich habe auch dir geholfen.«

Ich schnaubte verächtlich, und er wandte den Blick ab.

»Na gut, nur ein bisschen. Aber ich hätte auch nein sagen können.«

»Nya«, sagte Aylin, »wenn du recht hast und dieser Aufruhr mit Absicht eingefädelt wurde, dann geht es bei dem, was der Erhabene tut, nicht nur um Lanelle - oder die Lehrlinge«, fügte sie hastig hinzu. »Sieh da raus. Diese Leute sind wütend, weil ihnen gesagt wurde, die Heiler seien tot, nicht, weil sie wirklich tot sind. Du hast sie doch schreien hören, dass sie das für eine Lüge halten, dass sie glauben, der Herzog hätte sie entführen lassen, so wie er es im Krieg getan hat.«

»Es ist eine Lüge«, sagte Danello, die Hände zu Fäusten geballt. »Ist es wirklich wichtig, welche Lüge der Erhabene erzählt?«

Doch, das ist es, sagte mein Bauch. Der Erhabene erzählte eine Lüge, um uns aufzuhetzen, obwohl er auch einfach nur den Herzog hätte belügen können. Es gab keinen Grund, uns aufzuhetzen, es sei denn, dies diente in irgendeiner Weise seinen Plänen. Vielleicht dachte der Erhabene, der Herzog würde ihm nicht glauben, wenn er es nicht in ganz Geveg verkündete? Der Herzog musste Spione in der Stadt haben, und ein Aufstand würde die Behauptungen des Erhabenen bestätigen.

Aber welchem Zweck dienten die Behauptungen? Seufzend strich ich mir mit einer Hand durch das Haar. Der Erhabene und Vinnot wollten irgendetwas in Ruhe zu Ende bringen, und sie wollten nicht, dass der Herzog Kenntnis davon erhielt. Wenn sich die Lüge also um die Heiler drehte, dann musste es etwas sein, in das die Heiler irgendwie einbezogen waren. Welchen Nutzen konnten die Heiler für den Erhabenen haben, den sie nicht zugleich für den Herzog hatten?

Lanelle hatte gesagt, Vinnot würde im Auftrag des Herzogs »spezielle Nachforschungen« anstellen, also musste diese gruselige Symptomliste auch irgendwie in das Bild passen, wenn ich mir auch nicht erklären konnte, wie. Das Einzige, was den Herzog interessierte, war Pynvium und die Frage, wie er immer mehr davon bekommen konnte. Nein, es musste um etwas gehen, das beide, er und der Erhabene, für sich allein wollten. Etwas, das wertvoll genug war, einen stadtweiten Aufstand dafür in Kauf zu nehmen.

Keuchend riss ich den Kopf hoch. Natürlich!

»Anormale Löser!«, rief ich. Niemand hörte zu. Ich kletterte auf das Bett und brüllte: »Er ist hinter den anormalen Lösern her!«

Alle stierten mich mit offenem Mund an.

»Während der letzten paar Jahre hat sich der Herzog nur für zwei Dinge interessiert - Pynvium und anormale Löser. Er hat Geld und Soldaten investiert, um beides zu bekommen. Der Erhabene und Vinnot haben unter den verletzten Lehrlingen auf Anweisung des Herzogs nach etwas gesucht, etwas, das selten genug war, dass sie das Risiko eingingen zu lügen, um es zu behalten.«

»Löser?«, fragte Soek verwirrt.

»Löser wie wir. Ich glaube, der Herzog hat eine Möglichkeit gefunden, wie er dafür sorgen kann, dass die Fähigkeiten der Löser sich offenbaren. Tali, du hast gesagt, dass schon vor dem Fährenunglück Lehrlinge verschwunden sind, richtig?«

»Schon beinahe eine Woche lang.«

»Und Kione hat gesagt, es gäbe noch zwei weitere Räume mit kranken Heilern. Kleinere Räume, die vermutlich schon vor dem Fährenunglück eingerichtet wurden. Er hat bereits nach anormalen Lösern gesucht. Der Unfall hat ihm nur eine Gelegenheit gegeben, alle auf einmal zu überprüfen.«

Aylin sah so verwirrt aus wie Soek. »Überprüfen? Wie?«

»Indem sie ihnen Schmerz aufgeladen haben. Massenweise. Es ist wie bei den Zwillingen - ich habe an ihnen nichts gespürt, solange sie keinen Schmerz getragen haben. Aber dann konnte ich es spüren.«

Danello erbleichte und reckte eine Hand vor. »Moment, welche Zwillinge? Meine Brüder? Jovan und Bahari ?«

Ich biss mir auf die Lippe, und ein Gefühl der Schuld erstickte meine Aufregung im Keim. »Ach, Danello, es tut mir leid. Das hätte ich dir längst sagen sollen, aber ich habe versucht, sie zu beschützen.« Ich erklärte ihm, was ich gespürt hatte, als die Zwillinge miteinander verbunden und voller Schmerz gewesen waren. Er wurde noch blasser.

Kione wischte sich mit der Hand über die Lippen. »Lanelle hat gesagt, man hätte sie angewiesen, einige der Lehrlinge, die bestimmte Symptome entwickelt hatten, besonders im Auge zu behalten. Sie hatte eine ganze Liste davon.«

»Sie hat viel mehr auf mich achtgegeben, als es mir langsam besser gegangen ist«, fügte Soek leise hinzu. »Dann habe ich getan, als ginge es mir schlechter, und sie hat wieder damit aufgehört.«

»Aber Vinnot arbeitet für den Herzog«, sagte Danello. »Ebenso wie der Erhabene.«

Kione verschränkte die Arme vor der Brust. »Nur, weil man für jemanden arbeitet, muss man ihm gegenüber nicht loyal sein.«

»Jeder weiß, was der Herzog mit ihnen machen würde, wenn er herausfindet, dass sie ihn hinters Licht führen. Wozu also so ein Risiko eingehen?«

»Was macht das schon? Gehen wir jetzt zurück und holen Lanelle oder nicht?«, jammerte Kione, dessen Blick beständig zwischen Fenster, Fußboden und Tür hin und her jagte, als wäre er irgendwie ...

»Abgelenkt«, sagte ich und erschauderte bei dem Gedanken. »Das ist alles nur ein Ablenkungsmanöver. Darum hat der Erhabene den Aufstand provoziert. Der hilft ihm nicht nur bei der Lüge, wonach all die Löser tot sind, bei dem Chaos würde auch niemand merken, wenn der Erhabene und Vinnot sich heimlich aus dem Staub machen.« Was für herzlose Ratten! Beide besaßen ordnungsgemäße Baseeri-Reisesiegel, aber die Löser, die sie entführen wollten, nicht. Sie wären auf den Reiseberichten aufgeführt worden, die der Herzog regelmäßig erhielt, und das wäre der Beweis dafür gewesen, dass zwei Männer, denen er vertraut hatte, ihn belogen hatten. Ihn bestohlen hatten. Das konnten sie sich nicht leisten. Sie mussten die Kontrollpunkte umgehen, mussten alle anderen von sich ablenken, damit niemand sah, dass sie flohen.

O ihr Heiligen, sie hatten wirklich vor, den Herzog zu betrügen! Ich hatte rein gar nichts dagegen, ihm Schaden zuzufügen, aber nicht auf Kosten von Geveg.

Tali sah mich hoffnungsvoll an. »Wenn also alle erfahren, dass der Erhabene sie belogen hat und dass der Herzog diesmal gar nicht versucht, unsere Heiler zu entführen, dann hören sie auf zu kämpfen, ja?«

»Möglich«, sagte ich, obwohl ich nicht viel Hoffnung hatte. »Es könnte sie auch noch wütender machen, aber zumindest könnte der Generalgouverneur den Erhabenen gefangen nehmen. Das würde die Gemüter beruhigen. Wenn allerdings der Aufstand nicht aufhört...« Ich führte diesen Satz lieber nicht zu Ende. Der Herzog könnte alles niederbrennen wie in Sorille.

»Siehst du?«, sagte Kione. »Du musst noch einmal zur Gilde.«

Musste ich das? Wirklich? All diese Löser waren so hilflos, wie Tali es gewesen war, aber sie hatten niemanden, der kam, um sie zu retten. Aber ... »Wir kommen da nie wieder rein. Es muss eine andere Möglichkeit geben, sie zu retten und zu beweisen, dass der Erhabene lügt.«

»Was, wenn du dir den Weg mit Pynvium freimachst?«, fragte Soek. Ich verzog das Gesicht, als sich alle Augen auf ihn richteten.

Tali sah mich an. »Wovon spricht er?«

»So sind wir rausgekommen. Es war unglaublich«, schwärmte Soek. »Sie hat mit Pynviumklumpen nach dem Wachmann geworfen und sie geblitzt. So etwas habe ich noch nie gesehen.«

Talis Augen wurden so groß wie Oppa. »Du kannst Pynvium entladen? Wie?«

Soek und sein großes Maul. Ich zog einen der Klumpen aus meiner Tasche. »Ich weiß es nicht. Ich war wütend und verletzt und ... es ist einfach passiert.«

Tali sah mich sonderbar an und griff nach dem Klumpen. »Lass mich mal sehen.« Sie hielt ihn in der Handfläche, und ihre sonderbare Miene wich einer ungläubigen. »Der ist leer.«

»Er kann nicht leer sein. Wir haben sie alle benutzt. Ich weiß es mit Sicherheit.«

»Du ... hast es vielleicht aus ihm rausgeschiftet.« Sie hielt den pflaumengroßen Klumpen zwischen den Händen, die Stirn in tiefe Falten gelegt. »Ich weiß nicht, was du getan hast, aber dieser ist wieder brauchbar.«

Gemurmel breitete sich im Zimmer aus. Soek brubbelte irgendwas darüber, dass ich unglaublich sei. Sogar Kione schien die Bedeutung des Geschehens zu begreifen, denn er hielt den Mund.

»Das ist unmöglich«, sagte ich. Die einzige Möglichkeit, Pynvium zu leeren, war, es so zu behandeln, dass es geblitzt werden konnte, und danach konnte es nie wieder Schmerz aufnehmen. Selbst wenn man den Block einschmelzen und zu Waffen verarbeiten würde, wäre der Schmerz nicht weg, was auch der Grund dafür war, dass sich daraus so wirkungsvolle Waffen herstellen ließen. Niemand hatte je eine Möglichkeit gefunden, Pynvium mehrfach zu verwenden, und die Techniker hatten es jahrelang versucht.

»Möglich oder nicht, du hast es jedenfalls geschafft.«

Ich saß da und starrte den Klumpen an. Was, wenn ich wirklich Pynvium leeren konnte? Wen interessierten dann noch die untersuchten Löser? Der Herzog würde eine ganze Armee schicken, um mich zu holen, sollte er davon erfahren. Welch sprudelnde Quelle ich für ihn wäre! Mich schauderte.

»Kann ich das sehen?«, fragte Soek und streckte die Hand aus. Tali nickte und ließ den Klumpen in seine Handfläche fallen. Er musterte ihn angestrengt. Dann nickte er. »Er ist leer.« Einen Moment später seufzte er und gab mir den Klumpen zurück. »Jetzt ist er nur noch fast leer. Es tut gut, den Schmerz loszuwerden. Du bist dran.«

Ich starrte das Pynvium nur an. Danello wirkte wie innerlich zerrissen, als wollte er mir die Verlegenheit einer Erklärung ersparen, wäre aber unsicher, ob ich Soek wissen lassen wollte, dass ich das Pynvium nicht füllen konnte. Tali ergriff den Klumpen und schloss unserer beider Hände um ihn. Meine Finger prickelten, als sie meinen Schmerz herauszog und in einen Brocken Pynvium leitete, der eigentlich hätte nutzlos sein müssen. Sie umfasste das Pynvium für einen Moment, ehe sie es auf den kleinen Tisch legte. Ihre Finger verweilten darüber, als widerstrebe es ihr, es loszulassen.

»Also, was ist jetzt mit Lanelle?«, hakte Kione noch einmal nach.

Soek schüttelte den Kopf. »Ich geh da nicht wieder rein.«

»Nicht einmal, um das Leben all dieser Leute zu retten?«, fragte Danello.

»Das sind nicht meine Leute.«

Danello trat fluchend auf Soek zu, als wollte er ihn schlagen. Aylin ergriff seinen Arm. »Für so etwas haben wir keine Zeit. Wenn der Erhabene erst nervös genug ist, könnte er sie wirklich umbringen. Wir müssen ihn bloßstellen, ehe der Herzog mehr Soldaten schicken kann.«

»Und ehe die Leute anfangen, ihren Zorn am Generalgouverneur auszulassen«, fügte ich hinzu. Sollte es so weit kommen, dann könnte der Herzog auch auf die Idee kommen, dass die Besetzung Gevegs nicht reichte, um uns unter Kontrolle zu halten. Womöglich beschloss er, uns auszulöschen - so wie er es mit Sorille getan hatte. Ich seufzte. »Du hast recht, wir müssen noch mal zurück.«

Rundherum nickten Köpfe, nur der von Soek nicht.

»Ich kann da nicht wieder hin«, stöhnte er. »Ich möchte ja helfen, wirklich, das möchte ich, aber ich bin der Belagerung von Verlatta und diesem Raum des Schreckens entkommen, und ich hab das Gefühl, ich habe mein Glück aufgebraucht. Ich habe einfach Angst, dass ich nicht noch einmal davonkommen werde.«

Niemand sagte etwas. Kione sah aus, als wäre er bereit, sich ihm anzuschließen, obwohl er derjenige war, der uns so dringend hatte überreden wollen.

»Ich bleibe hier und bewache Aylins Zimmer«, sagte Soek, als das Schweigen unbehaglich wurde. »Ich kann aufpassen, dass niemand es ausplündert. Ich weiß, das ist nicht viel, aber ich ... ich kann einfach nicht mehr dorthin.«

Aylin sah verunsichert aus. »Das ist eine nette Geste, und ich will dich nicht kränken, aber ich habe keine Ahnung, wer du bist. Ich werde dich nicht einfach allein in meinem Zimmer lassen.«

Soek wirkte nicht gekränkt. »Dann halte ich vor der Tür Wache. Oder auf der Treppe.«

Sie dachte einen Moment darüber nach und nickte schließlich. »Also gut. Ich schätze, das ist in Ordnung.«

Ich starrte sie an: Tali, die Schwester, die ich liebte, Aylin, die Freundin, die ich liebte wie eine Schwester, Danello, den ich vielleicht lieben konnte, sollten wir lange genug überleben, um wirklich Zeit miteinander verbringen zu können, um es herauszufinden. Sie alle waren bereit, ihr Leben aufs Spiel zu setzen, um Fremde zu retten. Genau wie Mama und Papa im Krieg. Sollten wir das wirklich tun? Konnten wir es? Großmamas Worte schienen mich anstupsen zu wollen. Das Richtige zu tun ist selten leicht.

»Wir können uns den Weg hinein nicht freikämpfen. Wir sind keine kampferprobten Soldaten, also wird es nicht einmal mit Blitzen funktionieren«, sagte ich und musterte die Klumpen, die nur darauf warteten, geleert und wieder gefüllt zu werden, und langsam entwickelte sich in meinem Kopf ein Plan. »Wir müssen uns hineinschleichen, so wie ich es getan habe, um Tali zu holen. Und dann wieder raus.«

Danello runzelte die Stirn und kratzte sich am Nacken. »Wie schleichen wir uns mit sechzig verwundeten Lehrlingen raus?«

»Das tun wir nicht. Wir entladen dieses Pynvium und benutzen es dann dazu, sie zu heilen, und dann fliehen wir alle gemeinsam. Wir werden die Klumpen wieder komplett auffüllen können, also sollte es uns auch gelingen, uns damit den Weg bis zum Hof freizublitzen. Wenn wir erst den Gildeplatz erreicht haben, können wir jedem in Geveg beweisen, dass der Erhabene ein Lügner ist.« Und zugleich wer weiß wie viele Leben retten.

»Können wir die Wachen so lange in Schach halten?«, fragte Aylin.

Danello zuckte mit den Schultern. »Kommt darauf an, wie viele der Erhabene uns auf den Hals hetzt. Aber wenn wir es hinein schaffen, ohne die Wachen auf uns aufmerksam zu machen, dann bleibt uns vielleicht ein bisschen Zeit, ehe irgendjemand nach den Lehrlingen sieht. Bei dem Mob, der sich draußen versammelt hat, sind vielleicht gar keine Wachen im Gebäude.«

Ein großes Vielleicht. »Die Tür zu dem Turmzimmer ist verriegelbar, richtig?«

Tali nickte.

»Während ihr die Lehrlinge heilt, können wir die Pritschen dazu benutzen, die Tür zusätzlich zu verbarrikadieren«, sagte Danello.

Das war kein großartiger Plan, aber unsere einzige Hoffnung. Ich zog eine Hand voll Pynvium hervor. »Alles steht und fällt jetzt mit der Frage, ob ich diese Dinger bewusst entladen kann.« Wenn nicht, war unser Rettungsplan zum Scheitern verurteilt. Ich drehte mich zu Tali um, die mich mit einer Mischung aus Furcht und Begeisterung musterte. »Hast du immer noch die Klumpen, die ich dir gegeben habe, um Danellos Schmerz zu heilen?«

»Ja. Ich wusste nicht, was ich mit ihnen machen sollte.« Sie wühlte in ihren vielen Taschen und reichte sie mir.

»Macht mal Platz. Ich weiß nicht, wie stark der Blitz sein wird.«

»Ich bin dann draußen«, murmelte Kione. Soek und Aylin nickten und gingen mit ihm hinaus auf den Korridor.

»Ich bleibe«, sagte Tali.

»Ich auch.« Danello lehnte sich lächelnd an die Wand.

Ich atmete tief durch und bemühte mich, meinen brodelnden Geist frei zu machen. Das Pynvium fühlte sich kalt und rau an. Wie hatte ich mich gefühlt ? Hitzig und wütend ? Ich suchte nach dem Zorn, stieß ihn hervor und warf.

Rums.

Das Pynvium prallte von der Wand ab und rollte unter das Bett.

»Es hat nicht funktioniert, oder?«, fragte Tali.

»Nein. Vertrau mir, du wirst es merken, wenn es klappt.«

Zorn war nicht richtig. Ich war zornig gewesen, aber als ich es entladen hatte, hatte ich noch viel mehr Furcht empfunden. Ich atmete tief durch und versuchte es noch einmal.

Rums.

»Vielleicht, wenn du ...«

»Tali, ich arbeite daran.«

»Ich versuche nur zu helfen.«

»Vielleicht solltest du draußen warten.«

»Wie wäre es, wenn ...«

»Tali, würdest du bitte einfach ...« weggehen. Ich starrte die Pynviumklumpen in meinen Händen an, während Papas Worte wie ein Flüstern in meinen Ohren erklangen. Einen Entladungsblitz auszulösen fühlt sich an wie Pusteblumen im Wind. Ich war sechs gewesen, vielleicht sieben, als ich neben der Schmiede gesessen und zugeschaut hatte, wie Papa Pynviumziegel geformt und verzaubert hatte. Es ist ganz einfach, sie zu machen, Nya-Schätzchen, hatte er gesagt. Du fühlst, wie sich der Schmerz im Metall sammelt, es prickelt unter deinen Fingern. Dann denkst du daran, was es tun soll, und gibst ihm einen Befehl. Und dann lässt du einfach los. Du musst es dir nur vorstellen, und deine Vorstellung treibt davon wie die Samen einer Pusteblume imWind.

Pusteblumen.

»Ich hab's. Bleibt zurück.«

Ich atmete noch einmal tief durch und warf, stellte mir vor, wie die leichten, flockigen Samen auseinanderstoben und von einem Wind davongetragen wurden, den ich nicht sehen konnte.

Wumm!

Ein Prickeln wie von feinem Sand rann über meinen Körper, genauso wie in dem Moment, in dem ich den Wachmann getroffen hatte. Tali und Danello jaulten hinter mir auf.

»Alles in Ordnung«, sagte Tali, als ich herumwirbelte. »Hat nur ein bisschen gestochen.« Sie sah mich staunend an. Und ein bisschen stolz. »Du kannst es wirklich. Und du hast gedacht, du wärest nutzlos.«

Mir stiegen die Tränen in die Augen, aber bevor ich mir eine Antwort darauf einfallen lassen konnte, war sie schon hinausgelaufen. Vielleicht nicht nutzlos, aber war das die Art, auf die ich mich nützlich fühlen wollte ?

Ich hörte aufgeregte Stimmen auf dem Flur. Zum Guten oder Schlechten, ich konnte es wirklich. Nun gab es keine Ausrede mehr hierzubleiben.

O ihr Heiligen, steht uns bei!

Es ging zurück zum Gildenhaus.