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Brot’ân’duivé eilte durch den Küstenwald, beunruhigt von dem, was er an diesem Abend erfahren hatte. Er musste unbedingt mit Sgäilsheilleaches Großvater Gleannéohkân’thva sprechen, und dafür gab es nur eine Möglichkeit. Er näherte sich einem knorrigen Ahornbaum und holte das glatte Oval des Wortholzes unter seinem Mantel hervor.
Nach den Jahren ihrer Ausbildung führten alle Anmaglâhk ein Wortholz bei sich. Die ovalen Stücke stammten von der Eiche des Ältesten Vaters und ermöglichten es, von jedem lebenden Baum aus eine Verbindung mit dem greisen Patriarchen herzustellen. Doch solche Kontakte standen nur den Anmaglâhk oder Clanältesten zu, die mit Crijheäiche in Kontakt bleiben mussten.
Die Kapitäne von Elfenschiffen besaßen ebenfalls Worthölzer, die es ihren Clanschiffen ermöglichten, im Notfall Nachrichten zu übermitteln. Aber jene Stücke stammten aus dem Holz ihrer Schiffe.
Das Oval in Brot’ân’duivés Händen hatte einen anderen Ursprung.
Nur wenige wussten von diesen speziellen Worthölzern, denn sie wurden insgeheim von Gleannéohkân’thva hergestellt und erlaubten eine Verbindung nur mit seinem Wohnbaum. Er war nicht nur ein geschätzter Heiler der An’Cróan, sondern auch ein Gestalter, mit dem Talent geboren, Einfluss auf lebende Dinge zu nehmen und sie zu formen.
Brot’ân’duivé drückte das Wortholz gegen die Rinde des Ahorns und sprach: »Gleannéohkân’thva, bist du zu Hause?«
Einige Momente verstrichen, und dann hörte er in Gedanken eine klare Stimme. Ja. Ich habe nicht damit gerechnet, heute Abend von dir zu hören.
»Es ließ sich nicht vermeiden.«
Es beruhigte Brot’ân’duivé, seinen alten Freund zu hören. Er dachte an das ironische Wesen des alten Heilers, an sein zerfurchtes Gesicht und das stahlgraue, in alle Richtungen abstehende Haar.
»Ist Cuirin’nên’a bei dir?«, fragte er.
Ja. Stimmt was nicht?
Brot’ân’duivé schloss die Augen und legte auch die freie Hand an den Ahornstamm.
»Es kam zu einer unerwarteten Entwicklung, und sie bedeutet, dass unser erster Schritt früher als geplant erfolgen muss. Nimm den ersten Nachrichtenstein, den ich graviert habe, und auch die Schieferplatte mit meinen Zeichnungen. Wickel beides ein und versiegle es, damit keine neugierigen Blicke darauffallen. Gib das Paket den Äruin’nas, im Namen der Anmaglâhk. Sie werden es an die Séyilf weitergeben, und einer der Vom-Wind-Getragenen bringt es dann wie vorgesehen zum Berg der Chein’âs.«
Warum diese kleine Sache überstürzen? Léshil kehrt mit seinen Reisegefährten heim. Wir wissen, wo wir ihn finden können, wenn es so weit ist.
»Nein, Magiere bringt sie zu einem unbekannten Ziel. Glücklicherweise segeln sie an unserer Ostküste entlang nach Süden, und ich habe Sgäilsheilleache aufgefordert, sie zu begleiten. Ich werde ihn anweisen, das Schiff an der richtigen Stelle vor Anker gegen zu lassen, damit er Léshil – Léshiârelaohk – zu den Höhlen der Chein’âs führen kann. Unser erster kleiner Schritt muss getan sein, bevor er dort eintrifft.«
Du schickst Léshil zu den Chein’âs … mit meinem Enkel als Führer? Sgäilsheilleache weiß nichts von unseren geheimen Bemühungen oder …
Bevor Brot’ân’duivé antworten konnte, erklang eine zweite Stimme in seinem Bewusstsein.
Wir verstehen. Und ich danke dir für das Wohlergehen meines Sohns.
Die Worte stammten von Cuirin’nên’a. Brot’ân’duivé erinnerte sich an das Gesicht von Léshils Mutter: die perfekte karamellfarbene Haut, das Haar wie Seide, fedrige Brauen über großen, glänzenden Augen.
Mein Sohn muss auf seine Bestimmung vorbereitet werden. Wir werden tun, worum du uns gebeten hast.
Cuirin’nên’a fügte nichts mehr hinzu, und Brot’ân’duivé beendete das Gespräch. »Ich muss bleiben, bis Léshil aufbricht. Anschließend kehre ich zu euch zurück, und dann gibt es viel zu erzählen.«
Ich freue mich auf deine Rückkehr, Brot’ân’duivé.
Er nahm das Wortholz von der Rinde und seufzte erleichtert. Es war ihm gelungen, die Ereignisse in Bewegung zu setzen, aber vor Léshils Abreise musste noch eine weitere Aufgabe erledigt werden. Er ging los, zur landwärts gelegenen Seite von Ghoivne Ajhâjhe, denn die Aufgabe erforderte zwei breite Streifen Leder, lose Wolle, eine Nadel und gewachste Schnüre. Brot’ân’duivé wusste, wo er diese Dinge finden konnte.
Der Älteste Vater wartete in seiner riesigen Eiche in Crijheäiche, Ursprung-Herz. Es war die zentrale Siedlung der von den Menschen »Reich der Elfen« genannten Region und auch Heimat der Anmaglâhk-Kaste. Der Älteste Vater war so alt, dass sich selbst die Clanältesten der An’Cróan nicht mehr daran erinnerten, woher er gekommen war oder warum er sein Volk in die Abgeschiedenheit dieses entlegenen Teils der Welt geführt hatte. Und die riesige Eiche war fast so alt wie er.
Es handelte sich um einen der ältesten Bäume des Waldes, und der unterirdisch im Herzholz der Eiche gelegene Wohnraum ging auf die Einflussnahme längst vergessener Gestalter zurück. Der Älteste Vater ruhte in einer Mulde im dunklen Holz. Um ihn herum breiteten sich die Wurzeln aus und hielten nicht nur den Baum am Leben, sondern auch ihn, auf dass er weiterhin über sein Volk wachen und Gefahren von ihm fernhalten konnte.
Der Älteste Vater wandelte nicht mehr unter den Seinen. Dass noch Leben in seinem vertrockneten Leib steckte, verdankte er den Anstrengungen des Waldes. Doch er war noch immer Gründer und Oberhaupt der Anmaglâhk.
»Darf ich dir Tee bringen?«
Mit milchigen Augen sah der Älteste Vater seinen neuen Bediensteten an.
Juan’yâre – Ode des Hasen – stand im Eingang der unterirdischen Kammer und wartete geduldig auf eine Antwort. Sein Gesicht zeigte wie immer die Bereitschaft, ihm alle Wünsche zu erfüllen, aber dem Ältesten Vater fiel es noch immer schwer, sich an die jüngste Veränderung zu gewöhnen.
Seine letzte Bedienstete – Fréthfâre, Hüterin des Waldes – war zwei Jahrzehnte bei ihm gewesen. Er schätzte die Tochterliebe in ihren Augen, wenn sie den Blick auf ihn richtete. Sie sah nicht den uralten, verfallenen Körper, sondern vor allem seine Weisheit.
Fréthfâre war auch seine offizielle Covârleasa, vertraute Beraterin, aber derzeit litt sie an einer schweren Verletzung – die halbtote Abscheulichkeit namens Magiere hatte ihr ein Schwert in die Seite gestoßen. Fähige Heiler kümmerten sich um sie, doch der Älteste Vater wusste, dass sie nur langsam genesen würde, wenn überhaupt.
Er vermisste sie. Zwar liebte er alle Kinder seiner Kaste, aber er konnte sich nicht vorstellen, dass Juan’yâre auf Dauer Fréthfâres Platz einnehmen und gar zu seinem neuen Covârleasa werden würde.
Juan’yâres Augen enthielten nur wenig Wärme, dafür aber viel demütige Loyalität. Derzeit war nur seine Loyalität nötig. Er hatte die volle Ausbildung mit den besten Empfehlungen seiner Lehrer abgeschlossen und diente der Kaste seit mehr als dreißig Jahren. Seine zarte Statur und das jungenhafte Gesicht ließen ihn jünger aussehen.
»Nein«, antwortete der Älteste Vater schließlich. »Wir brauchen keinen Tee. Nach dieser Audienz wirst du Vorbereitungen treffen für deine Reise nach …«
Eine andere Stimme erklang von oberhalb der Treppe, die in den kleinen unterirdischen Raum führte. »Ich bin da, Vater.«
Sofort vergaß der Älteste Vater seinen neuen Bediensteten. »Komm herein, Hkuan’duv. Ich habe dich erwartet und heiße dich willkommen.«
Hkuan’duv trat ein, strich seine Kapuze zurück und schenkte Juan’yâre keine Beachtung. Er verneigte sich vor dem Ältesten Vater.
»Es ist mir eine Ehre, Vater«, sagte er, und seine Stimme war wie immer tonlos.
Hkuan’duv, Geschwärztes Meer, war einer der noch lebenden vier Greismasg’äh, ein Meister, dessen Fähigkeiten über die der Anmaglâhk hinausgingen. Er kehrte nur selten nach Crijheäiche zurück und ging einsamen Aufgaben in fernen Ländern nach – seit drei Jahren hatte der Älteste Vater ihn nicht gesehen. Er war mittelgroß und drahtig, hatte ledrige hellbraune Haut. Als Sohn eines seefahrenden Clans hielt er sich an entsprechende Traditionen und trug sein Haar kurz, obwohl andere Anmaglâhk es lang wachsen ließen – es war längst nicht mehr blond, sondern zeigte ein erstaunliches Weiß. Die Augen waren schmal und so dunkel, dass ihr bernsteinfarbener Ton in Topas überzugehen schien.
»Du hast mich gerufen?«, fragte er mit für ihn typischer Direktheit.
Der Älteste Vater bedeutete Juan’yâre, auf einem blaugrünen Kissen Platz zu nehmen. »Setz dich und hör zu. Was du jetzt erfahren wirst, muss unter uns bleiben. Es sei denn, du bekommst andere Anweisungen von mir.«
Juan’yâre verbeugte sich, sank aufs Kissen und kreuzte die Beine.
Hkuan’duv stand still da und wartete.
Der Älteste Vater kam sofort zur Sache. »Hast du Kenntnis von den Ereignissen in Hinsicht auf Cuirin’nên’as Sohn und die Fremde namens Magiere?«
Hkuan’duv nickte kurz, ohne dass sich sein Gesichtsausdruck veränderte.
»Der Rat der Clanältesten hat ein Schiff bereitgestellt, das sie an der Küste entlang nach Süden bringen soll«, fuhr der Älteste Vater fort, und dabei klang seine Stimme bitter. »Ich möchte, dass du eine kleine Gruppe zusammenstellst und ihnen folgst, ohne dass sie euch bemerken. Ein anderes Schiff wird für euch vorbereitet.«
»Willst du über das Ziel informiert werden, das sie ansteuern?«, fragte Hkuan’duv.
»Ich möchte, dass du ihnen folgst … und das von ihnen gesuchte Objekt in deinen Besitz bringst.«
Hkuan’duv fragte nicht einmal, um was für ein Objekt es sich handelte. Er wartete nur, und der Älteste Vater gab das wenige weiter, das er von Sgäilsheilleache erfahren hatte.
»Wenn dieses Artefakt wirklich so alt ist wie die Vergessene Geschichte der Menschen, so darf es nicht in ihren Händen bleiben. Vielleicht hat nur Magiere Zugang dazu. Ich bin zu der Einsicht gelangt, dass sie … einzigartig ist. Warte also, bis sie das Objekt gefunden hat, bevor … du es nimmst.«
Der Älteste Vater zögerte, denn die letzte Aufgabe, die er Hkuan’duv übertrug, konnte den Anschein erwecken, dem Willen des Ältestenrats zu widersprechen.
»Töte Magiere, wenn du das Objekt hast! Um der Sicherheit unseres Volkes willen darf nicht gestattet werden, dass etwas so Monströses jemals wieder unser Land betritt.«
Erstaunen huschte über Hkuan’duvs schmales Gesicht und verschwand sofort wieder.
Der Älteste Vater verstand. Die Mission klang zu einfach für einen Greismasg’äh. Andere Mitglieder ihrer Kaste hätten in der Lage sein sollen, das Artefakt in ihren Besitz zu bringen und Magiere zu töten, doch der Älteste Vater wollte jemanden, dessen Fähigkeiten – und dessen Loyalität – über jeden Zweifel erhaben waren.
»Wenn ich das richtig verstanden habe …«, sagte Hkuan’duv. »Du möchtest, dass ich dem Halbblut und der Menschenfrau zu einer Burg irgendwo in den hohen Bergen folge?«
»Mehr ist mir nicht bekannt, und angeblich wissen sie selbst nicht mehr von ihrem Ziel. Folge ihnen und gib dich erst dann zu erkennen, wenn es für sie zu spät ist. Ich muss mir dieses Artefakt ansehen.«
Der Älteste Vater hob eine dürre, faltige Hand und kam damit weiteren Fragen zuvor.
»Ich werde für zusätzliche Augen an Bord ihres Schiffes sorgen. Ihr Name lautet Avranvärd. Sie wird ein Wortholz haben, das es ihr erlaubt, mit deinem Schiff zu kommunizieren und alles zu melden: Kursänderungen, Zwischenaufenthalte und so weiter. Nutze diese Informationen für dein Vorgehen.«
Hkuan’duv runzelte die Stirn, und das war die erste echte Veränderung in seinem Gesicht. »Ich kenne den Namen nicht.«
Der Älteste Vater zögerte. »Nein, sie ist keine Anmaglâhk, obwohl sie um Aufnahme in unsere Kaste gebeten hat. Es wäre nicht klug, wenn jemand von uns in diese Rolle schlüpft. Avranvärd ist eine Seefahrerin, und niemand wird ihre Präsenz an Bord des Schiffes, das die Menschen befördert, infrage stellen.«
Es war beispiellos, auf die Dienste eines An’Cróan außerhalb der Kaste zurückzugreifen, ganz zu schweigen davon, einen Spion unter den Angehörigen des eigenen Volkes zu platzieren. Aber der Älteste Vater sah keine andere Möglichkeit.
»Ich würde dich nie um so etwas bitten, wenn nicht die Sicherheit unseres Volkes auf dem Spiel stünde«, sagte er. »Ergreife alle notwendigen Maßnahmen, um mir dieses Objekt zu bringen. Der Alte Feind kehrt zurück, und wenn dies eins seiner Werkzeuge ist …«
»Natürlich«, sagte Hkuan’duv. »Ich verstehe.«
Diese Antwort hatte der Älteste Vater erwartet, aber er war erleichtert, sie zu hören. An Hkuan’duvs Loyalität bestand tatsächlich kein Zweifel, ganz im Gegensatz zu dem verräterischen Brot’ân’duivé.
»Wähle deine Begleiter mit großer Sorgfalt«, sagte der Älteste Vater. »Zieh dafür nur erfahrene Anmaglâhk in Betracht. Einen guten Spurenleser, der mit den menschlichen Regionen entlang der Ostküste vertraut ist. Vielleicht einen guten Bogenschützen und einen dritten Gefährten, der dir geeignet erscheint.«
Hkuan’duv blickte ins Leere und dachte an die Kastenmitglieder, die sich derzeit in Crijheäiche aufhielten.
»Deine letzte Schülerin, Dänvârfij, ist kürzlich zurückgekehrt. Hat sie dich nicht mit dem Bogen übertroffen?«
In Hkuan’duvs Augen erschien ein seltsamer Glanz. »Sie ist hier?«
»Ich glaube schon. Sie wäre eine gute Wahl.«
Hkuan’duv nickte kurz und wandte sich zum Gehen. »In Stille und Schatten«, sagte er.
Der Älteste Vater ließ den Kopf wieder aufs Moos in der Ruhemulde sinken, und sein Blick ging zu Juan’yâre, der alles gehört hatte.
»Wie schnell kannst du Ghoivne Ajhâjhe erreichen?«, fragte der Älteste Vater.
»Wie schnell? Die Reise dauert acht Tage mit einem Lastkahn.«
»Aber du bist ein guter Läufer«, sagte der Älteste Vater. »Wenn du losläufst und nur wenige Pausen machst … Wann kannst du an der Küste sein?«
Juan’yâre senkte den Blick. »Wenn ich auch nachts laufe, könnte ich die Küste in fünf Tagen erreichen, vielleicht sogar in vier.«
»Gut. Brich noch heute Abend auf. Finde Avranvärd und stell sicher, dass sie uns die gewünschten Dienste leistet.«
Juan’yâre blinzelte. »Hast du noch nicht mit ihr gesprochen?«
»Nein, nicht in dieser Angelegenheit«, erwiderte der Älteste Vater. »Glücklicherweise arbeitet sie bereits an Bord von Magieres Schiff, und deshalb brauchen wir sie jetzt. Ich habe ihre Aufnahme in die Kaste abgelehnt, weil sie über das passende Alter für den Beginn der Ausbildung hinaus ist. Sprich mit ihr. Erkläre ihr, was ich von ihr erwarte und … dass es mich dazu bewegen könnte, ihren Herzenswunsch neu zu erwägen.«
»Ich soll ihr die Aufnahme in die Kaste versprechen?« Juan’yâre stand auf. »Liegt das in meiner Macht?«
»Es liegt in meiner Macht, und du sprichst für mich!«, erwiderte der Älteste Vater scharf. »Hkuan’duv darf nicht gesehen werden, und deshalb braucht er Augen und Ohren. Versprich Avranvärd die Erfüllung ihres Wunsches. Bring sie dazu, uns die gewünschten Dienste zu leisten.«
Juan’yâre straffte die Schultern. »Ich werde dich nicht enttäuschen.«
Der Älteste Vater deutete zum Nebenzimmer. »Unter meinen persönlichen Dingen befindet sich ein Kästchen aus Zedernholz, mit einer Darstellung von Mast und Segel gekennzeichnet. Darin findest du ein Wortholz von dem Schiff, dass Hkuan’duv benutzen wird. Gib es Avranvärd.«
Elfenschiffe waren älter als alle, die auf ihnen arbeiteten. Manche von ihnen waren so alt wie die großen Bäume des Waldes, denn es dauerte Jahre, eins zu schaffen. Sie hielten viel länger als alle von Menschen gebauten Schiffe. Im Lauf der Jahre hatte der Älteste Vater viele Gegenstände gesammelt, und die meisten von ihnen erwiesen sich schließlich als nützlich.
»Vater …« Juan’yâre verbeugte sich respektvoll. »Ich werde mich von Ghoivne Ajhâjhe melden, sobald meine Aufgabe erfüllt ist.«
Der Älteste Vater schloss die müden Augen und hoffte, dass der neue Bedienstete seine Erwartungen erfüllte.
Léshiârelaohk.
In der Nacht nach der Befreiung seiner Mutter, hatte er Magiere, Wynn und Chap fortgeschickt, damit sie ruhten. Er hatte vor Nein’as Wohnbaum Wache gehalten, während sie zum ersten Mal seit vielen Jahren in Freiheit schlief.
Nach einer Weile war Brot’ân’duivé gekommen, der verschlagene, hinterlistige Mörder, in Begleitung einer älteren Frau, die einen kastanienbraunen Mantel trug.
»Erinnerst du dich an mich?«, fragte sie. »Ich war bei der Verhandlung vor dem Rat der Clanältesten.«
Sie sprach überraschend gutes Belaskisch, wenn auch mit einem starken Akzent. Abgesehen von den Anmaglâhk gab es nur wenige Elfen, die irgendeine Menschensprache beherrschten.
»Ich bin Tosân’leag«, sagte sie. »Eine Älteste des Clans vom Eschenfluss.«
Leesil nickte. Er erinnerte sich tatsächlich. Sie hatte bei der Verhandlung hinter ihm bei den »Gelehrten« gestanden. Tosân’leag nahm Brot’ans Hand, kniete sich hin und musterte Leesil.
»Sag ihr, was du bei Roise Chârmune gesehen hast!«, forderte Brot’an ihn auf. »Die Gesichter der Ahnen … was sie gesagt haben.«
Es lag Leesil nichts daran, Brot’an irgendetwas zu erzählen, aber die ältere Frau streckte die Hand aus und berührte die Spitze seines Ohres. Die Bewegung war so verblüffend schnell, wenn man das Alter dieser Frau bedachte, dass er nicht sofort reagierte und erst zurückwich, als sie ihn bereits berührt hatte. Seufzend schüttelte sie den Kopf, wie unzufrieden mit seinem Ohr, nickte ihm dann zu.
»Sag mir, was du gesehen und gehört hast. Ich kann dir helfen zu verstehen.«
Leesil wollte den abergläubischen Unsinn dieser Elfen gar nicht verstehen. Aber der Blick der älteren Frau blieb auf ihn gerichtet, und schließlich gab er sein Schweigen auf.
»Eine Frau erschien, mit Narben am linken Oberarm und Kriegsdolchen im Gürtel. Dolche der Menschen, nicht der Elfen. Und sie trug einen kurzen Speer mit einem Schaft aus Stahl. Das Haar war zerzaust, und ein wilder Glanz lag in den Augen. Sie … lächelte mich an.«
Tosân’leag runzelte wie missbilligend die Stirn, und dann lächelte sie ebenfalls.
»Das war vermutlich Hoil’lhân, deren Name ›Heller Strahl‹ bedeutet. Sie gilt als große Kriegerin, und vielleicht war sie die erste Anmaglâhk, noch vor der Verwendung dieses Namens. Hat sie zu dir gesprochen?«
»Nein«, antwortete Leesil, und vor seinem inneren Auge entstanden Bilder der Geister, die er auf der Lichtung mit der alten Esche gesehen hatte. »Zuerst hat ein Mann zu mir gesprochen, ein großer Krieger mit einer Narbe an der Schläfe. Sein Name lautete Sne…, Sneha…«
»Snähacróe, ›Ins-Nadelöhr-Fädeln‹.« Tosân’leag nickte, und ein sonderbarer Glanz zeigte sich in ihren Augen.
»Bei ihm stand eine weitere Frau«, fügte Leesil hinzu. »Gekleidet wie du. Sie gaben mir meinen Namen … meinen neuen Namen.«
»Das war Léshiâra«, hauchte Tosân’leag. »Sie war eine große Heilerin und Lehrerin, und schließlich wurde sie Snähacróes … Gemahlin, würdest du sagen. Ich wusste, dass du sie gesehen hast, als ich deinen Namen hörte. Sie galt als eine der letzte Angehörigen des Hohen Rates in längst vergessener Zeit. Ihr Name bedeutet ›Kummerträne‹.«
Selbst mit seinen geringen Kenntnissen des Elfischen begriff Leesil, wie eng der Name jener Frau mit dem verbunden war, den sie ihm gegeben hatte.
Tosân’leag beugte sich ein wenig vor. »Dein Name bedeutet in der menschlichen Sprache ›Kummertränes Verteidiger‹ oder ›Retter‹. Vergiss das nicht! Die Bedeutung, die dein Name für dein Volk hat.«
Leesil wich von ihr zurück.
Diese Elfen waren nicht sein Volk. Er wollte nichts mehr davon hören und nur für seine Mutter Wache halten.
Tosân’leag hob die Hand, und Brot’an half ihr auf die Beine. Als sie längst gegangen waren, flüsterte jener Name noch immer durch Leesils Kopf.
Léshiârelaohk, Kummertränes Verteidiger. Retter.
Wenn er doch nur etwas anderes bedeutet hätte als ein kaum verhülltes Schicksal, bestimmt von Geistern und abergläubischem Unsinn.
Im schwach beleuchteten Zimmer des elfischen Gasthauses schob Leesil diese Gedanken beiseite, indem er auf die Frau hinabblickte, die an seiner Brust schlief.
Magiere lag nackt neben ihm, die weiße Hand auf seinem Arm.
Leesil strich ihr dichtes schwarzes Haar zurück und sah ihr schönes Gesicht. Sie murmelte etwas im Schlaf und runzelte kurz die Stirn. Zwar wollte er, dass sie schlief und neue Kraft schöpfte, aber ihm fiel auch eine sehr angenehme Möglichkeit ein, sie zu wecken.
Magiere schnappte plötzlich nach Luft, und ihre Finger bohrten sich ihm in den Arm.
»Au! Magiere!«
Sie trat nach ihm und rollte halb über die Bettkante, bevor er die Arme um sie schlang.
»Es ist alles in Ordnung, Magiere. Wach auf!«
Magiere drehte sich und grub die Finger in die Strohmatratze. Sie zuckte und krümmte den Rücken, und ihre Augen wurden dunkel. Dann sah sie Leesil und wich hastig von ihm zurück.
Ihr Verhalten bereitete ihm Schmerz.
Erst nach langer Zeit hatte sie zu akzeptieren gelernt, dass ihr Dhampir-Wesen keine Gefahr für ihn darstellte. Wenn es zu stark für sie wurde, war er der Einzige, den sie erkannte und an sich heranließ. Doch irgendwo tief in ihrem Innern fürchtete sie noch immer, ihn zu verletzen.
Leesil packte sie an den Armen und zog sie an sich. Sie zitterte, und ihre Haut war kalt und feucht.
»Es ist alles in Ordnung«, flüsterte er.
»Ich habe es wieder gesehen«, brachte Magiere hervor. »Das Eis … die Burg. Wir müssen nach Süden.«
Magieres Blick strich umher und erreichte schließlich das Fenster auf der anderen Seite des Zimmers. Sie stand auf und wickelte sich in eine Decke, und Leesil versuchte nicht, sie aufzuhalten.
Magiere öffnete das Fenster und sah nach draußen, nach links.
Leesil wusste, dass ihr Blick erneut dem im Hafen liegenden Schiff galt. Während der vergangenen Tage hatte sie Dutzende Male dorthin gesehen.
»Wann können wir diese Stadt endlich verlassen?«, fragte sie.
»Bald«, antwortete Leesil und versuchte, sie zu beruhigen. »Nur noch einige wenige Tage, meinte Sgäile.«
»Ich … wir müssen aufbrechen«, flüsterte Magiere und senkte den Kopf.
Leesil trat hinter sie und wusste nicht, was er sonst sagen sollte. Er umarmte sie und schenkte ihr seine Wärme.
Magiere hatte die Hände auf die Fensterbank gelegt und straffte die Gestalt. Dann neigte sie sich zurück, und Leesil drückte das Gesicht in ihr Haar. Nach einigen Momenten drehte sie den Kopf zur Seite und starrte erneut in die Nacht, diesmal aber nicht in Richtung Hafen. Ihre Lippen teilten sich und formten zwei lautlose Worte.
Nach Süden.
Zeit verstrich, strömte dahin wie das Wasser eines Flusses. Chane erwachte auf dem Boden unweit des Kamins im Eingangsraum. Welstiel würde ihn bald oben erwarten, auf dass er die Nachtwache übernahm.
Chane brachte es noch nicht über sich, die Treppe hinaufzugehen. Er stemmte sich hoch, verharrte auf allen vieren und hörte die hungrigen Schreie, die hinter den geschlossenen Türen im Obergeschoss erklangen. Am Abend wurden sie immer lauter.
Jeder Schrei weckte in Chane den Wunsch nach einer Jagd, und damit wuchs auch das Verlangen nach Blut. Er beugte sich zum Kamin, nahm ein Stück Holz, an dessen Ende eine kleine Flamme züngelte, und ging zur weiter hinten gelegenen Werkstatt. Eine Laterne stand dort auf dem nächsten Tisch, unter einigen von der Decke hängenden Bündeln getrockneter Kräuter. Er zündete sie an und blies dann die kleine Flamme des Holzstücks aus.
Einige Nächte zuvor hatte Chane dunkle Torbögen in der Rückwand der Werkstatt bemerkt, aber nicht den Wunsch verspürt, das Kloster weiter zu erforschen.
An diesem Abend widerstrebte ihm der Gang ins Obergeschoss. Er wandte sich der linken hinteren Ecke der Werkstatt zu und trat durch den dortigen Torbogen.
Ein Teil von ihm schreckte davor zurück, den Weg fortzusetzen und eine Bestätigung dafür zu finden, was er befürchtete: dass dies mehr war als nur ein Konvent für Mönche, die die Einsamkeit liebten.
Türen säumten den Gang, aber Chane öffnete keine von ihnen. Seine Aufmerksamkeit galt dem vom Laternenlicht nicht erhellten Bereich am Ende dieses Flurs. Einen weiteren Torbogen gab es dort und dahinter einen finsteren Raum.
Chane ging mit langsamen Schritten und beobachtete, wie der Schein der Laterne nach vorn kroch und einen alten Ecktisch erreichte. In einem Regal an der Wand standen kleine Flaschen, Ampullen und Behälter aus Ton in verschiedenen Größen und Formen, alle mit Korken oder Deckeln verschlossen. Auf dem Tisch lagen in Leder gebundene Bücher und eine Schriftrolle an einer alten hölzernen Spindel.
Eine Armeslänge vom Torbogen entfernt blieb Chane stehen und starrte auf die Objekte.
Zuerst fiel es ihm schwer, einzelne Komponenten zu identifizieren. Kräuter, Blumenöl, Wachs, altes Leder, muffiges trockenes Papier und Pergament …
Er wollte nicht eintreten, aber er konnte sich auch nicht abwenden. Schließlich zwang er sich zu einem Schritt in den Raum.
Weitere kleine Tische standen an den Wänden, jeder von ihnen mit seinem eigenen Durcheinander aus Schreibutensilien, Ampullen, Gefäßen und Schriften. Chanes Blick fiel auf einen breiten Tisch am linken Ende des Raums, mit einem einfachen Stuhl dahinter.
Dies war ein Studierzimmer, vielleicht der Arbeitsraum des Klosteroberhaupts. Hinter dem Bücherregal an der rechten Wand bemerkte er eine graue Tür, die ein kleines Stück offen stand, als hätte es jemand zu eilig gehabt, sie zu schließen. Doch Chane wandte sich dem Schreibtisch zu, ging um ihn herum und blieb neben dem Stuhl stehen.
Lose Pergamente, zusammengeschnürte Papierbündel und uralte Schriftrollen lagen auf diesem Tisch. Chane sank auf den Stuhl und sah sich den Text direkt vor ihm an: ein Tagebuch, geschrieben in einem strawinischen Dialekt. Er blätterte, las verschiedene Einträge und fand ganze Kapitel in anderen Sprachen. Auch die Handschriften unterschieden sich – das Tagebuch schien über viele Jahre hinweg von verschiedenen Personen geführt worden zu sein.
In diesem alten, in den Fels der Schlucht gehauenen Gebäude war ein Orden von Heilern zu Hause gewesen. Mönche, die den Lehren eines längst vergessenen Schutzheiligen folgten, eines Heilers, der vor langer Zeit auf diesem Kontinent unterwegs gewesen war. Dies war das Sanktuarium der Sluzhobnék Sútzits, der Diener des Erbarmens.
Chane sah sich in dem Raum um, und sein Blick kehrte zur grauen Tür neben dem Bücherregal zurück. Plötzlich begriff er, dass er nicht umkehren konnte, bevor er alles gesehen hatte. Er hob die Laterne, trat erneut um den Tisch und zog die graue Tür ganz auf. Mattes Licht fiel in den Bereich dahinter.
Bücherschränke standen in Reihen, mit den Schmalseiten an der Rückwand, sodass beide Seiten eines jeden Schranks genutzt werden konnten. Oben reichten sie bis zur Decke.
Die Bibliothek war nicht besonders groß, kaum größer als die in den Herrenhäusern, die Chane zu Lebzeiten gesehen hatte. Aber hier ruhten keine hübsch gebundenen Bücher, die meisten von ihnen ungelesen. Nein, hier wirkte alles alt und ehrwürdig, sorgfältig bewahrt und geordnet. Schriftrollen aus brüchigem Papier steckten in schützenden Zylindern, und lederne Hüllen umgaben abgegriffene Bücher. Hier war alles über viele Jahrhunderte hinweg benutzt worden und wurde weiter verwendet, geschätzt und gehütet.
Chanes Blick strich über Papierbündel, Buchrücken und verblichene Etiketten an Schriftrollen-Zylindern. Er wählte einige aus, die in Belaskisch oder Neustrawinisch geschrieben waren.
Die ersten Texte trugen Titel wie Destillation und Infusion und Gewürze der sumanischen Länder: Eigenschaften, überprüfte und angebliche. Mit Mühe entzifferte er Die frühen Werke von Meister Ewar Woskôwiskän, dann ein dünnes Buch mit dem Titel Die sieben Blätter von … Das letzte Wort war nicht klar. Schließlich fand er einen Kasten, der mehrere zueinandergehörende Bände enthielt und die Aufschrift trug: Antithesen, mit Kommentaren, Band 1 bis 8.
Chane wich zurück, bis er mit der Schulter an den Türrahmen stieß. Er taumelte in den anderen Raum und rutschte an der Wand herunter zu Boden. Die Laterne löste sich aus plötzlich kraftlosen Fingern, fiel zu Boden und kippte um. In ihrem Innern spritzte flüssiges Wachs ans Glas, und die Flamme ging aus.
Wie oft hatte sich Chane vorgestellt, in Wynns Welt zu leben, einer Welt des Intellekts und des Wissens? An einem Ort wie diesem, in einem kleinen, vergessenen Kloster – bis eines Abends ein Ungeheuer hereingekommen war, Chaos und Tod gebracht hatte.
Chane zog die Beine an und presste die Hände an die schmerzenden Schläfen. Er ertrank in Kummer und konnte doch keine einzige Träne vergießen.
Tote konnten nicht weinen.
Avranvärd, Lied der Aue, lief durch die dunklen Straßen von Ghoivne Ajhâjhe. Ihr dicker Zopf schwang hin und her, während sie zum Schiff eilte.
Seit es im Hafen lag, hatte der Hkomas – der Kapitän – sie zwei Mal gescholten, weil sie sich bei Besorgungen und Botengängen zu viel Zeit ließ. Avranvärd wollte sich nicht erneut seinen Ärger zuziehen. Zu gern hätte sie ihm gesagt, dass er sich eine neue Bedienstete suchen und seine nervtötenden Strafpredigten für sich behalten konnte.
An diesem Abend hatte sie, schneller als erwartet, Federkiele, Tinte und Pergament besorgt und dafür nur ein kurzes Seil und sechs Kerzen eintauschen müssen. Damit sollte der Hkomas eigentlich zufrieden sein, dachte Avranvärd, blieb stehen und sah über die Straßen.
Als sie am Tag in der Stadt unterwegs gewesen war, hatte sie drei graugrün gekleidete Gestalten in Begleitung zweier Menschen und eines Halbbluts gesehen. Ihre Präsenz in Ghoivne Ajhâjhe hatte sich schnell herumgesprochen, doch Avranvärd interessierte sich nicht für Menschen. Sie hoffte, einen weiteren Blick auf die Anmaglâhk werfen zu können.
Der Jüngste der drei war nur einige Jahre älter gewesen als sie, wirkte aber dumm, unbeholfen und alles andere als beeindruckend. Der zweite war das genaue Gegenteil – ein Greismasg’äh!
Brot’ân’duivé war ein sehr großer Mann, der Avranvärd mit so viel Ehrfurcht erfüllte, dass sie ihn lange anstarrte und den dritten Mann fast übersehen hätte. Dann erkannte sie ihn.
Sgäilsheilleache … Sgäilsheilleache á Oashâgäirea gan’Coilehkrotall – Weidenschatten, geboren von Plötzlichen-Windes-Lachen, aus dem Clan des Flechtenwalds.
Als Avranvärd die Augen schloss, sah sie noch immer sein schmales, glattes Gesicht und den graugrünen Mantel, der perfekt von seinen Schultern hing. Sie war ihm schon einmal begegnet und hatte kurz mit ihm gesprochen. Das Schiff ihres Clans hatte ihn nach Bela gebracht, einer stinkenden Stadt der Menschen. Im Gegensatz zur Besatzung war Sgäilsheilleache dort an Land gegangen, um mehr über fremde Länder und ihre Bewohner zu erfahren. Als sie beobachtet hatte, wie ihn das Ruderboot im Dunkeln zum Ufer brachte, war Avranvärd klar geworden, dass sie alles tun würde, um Anmaglâhk zu werden.
Sie hatte es satt, an Bord der Schiffe ihres Clans zu arbeiten oder auf denen anderer Clans zu lernen. Sie wollte fremde Länder sehen, mit ihren eigenen Augen, und dieses Privileg genossen nur die Anmaglâhk.
Avranvärd wusste, dass sie inzwischen zu alt war für die Bitte um Aufnahme in die Kaste. Die meisten begannen mit der Ausbildung kurz nach dem Namensritual bei den Ahnen. Sie hatte erst spät herausgefunden, wozu sie berufen war, doch jener Ruf, einmal erkannt, erwies sich als besonders stark. Umso größer war ihre Verzweiflung über die Ablehnung durch den Ältesten Vater. Doch jetzt gab es drei Mitglieder der Kaste in Ghoivne Ajhâjhe, und zwei von ihnen hatten an dem Abend bei den Anlegestellen gestanden, als ihr Schiff in den Hafen gelaufen war.
Darin sah Avranvärd ein Zeichen – ihr Schicksal musste sich ändern. Wenn sie doch nur den Mut gefunden hätte, sich an den Greismasg’äh zu wenden – er hätte die Leidenschaft in ihren Augen gesehen und verstanden. Sie verabscheute die langweilige Arbeit an Bord, und das Leben im Landesinnern war noch langweiliger. Aber wenn der große Brot’ân’duivé beim Ältesten Vater ein gutes Wort für sie einlegte, konnte der alte Patriarch der Kaste sie nicht erneut zurückweisen.
Sie setzte den Weg zur Küstenstraße fort, kam dabei an einer Gerberei und einem Räucherhaus vorbei. Der würzige Duft von geräuchertem Fisch erinnerte sie daran, dass sie noch nicht gegessen hatte. An der nächsten Ecke sah sie den dunklen Laden eines Schusters, und eine andere Art von Sehnsucht regte sich in ihr. Die Stiefel, die sie trug, waren zu groß. Wie Hemd, Hose und Mantel stammten sie von einem älteren Bruder. Neue Sachen konnte sie nicht bezahlen.
Das würde sich ändern, wenn sie Anmaglâhk war. Die Mitglieder der Kaste trugen extra für sie genähte weiche Stiefel, mit denen sie sich schnell und leise fortbewegen konnten. Und sie bezahlten nicht. Es genügte, wenn sie einen Wunsch äußerten.
Sie sah die Laternen über dem Deck des Schiffes im Hafen, eilte zur Küstenstraße und dann zur Anlegestelle, wo das Ruderboot auf sie wartete. Noch einmal überprüfte sie ihren Rucksack und vergewisserte sich, dass er alles enthielt, was sie für den Hkomas besorgen sollte. Dann bückte sie sich, um das Boot loszubinden.
»Bitte warte«, sagte jemand.
Avranvärd zuckte zusammen und wirbelte herum.
Jemand, der einen Kapuzenmantel trug, stand auf der nahen Straße und war dort wie aus dem Nichts erschienen. Die Gestalt trat zum Kai, und als sie dabei ins Licht einer Laterne geriet, sah Avranvärd, dass ihr Mantel graugrün war.
»Bist du Avranvärd?«, fragte der Mann und deutete zur Bucht. »Arbeitest du an Bord jenes Schiffes?«
Es verschlug Avranvärd die Sprache. Diesen Mann hatte sie nie zuvor gesehen, aber es handelte sich eindeutig um einen Anmaglâhk. Und er kannte ihren Namen. Woher? Warum? Plötzliche Hoffnung erfasste sie. Hatte der Älteste Vater seine Meinung geändert? War er doch bereit, sie in die Kaste aufzunehmen?
»Ja«, brachte sie hervor. »Ja, die bin ich.«
Der Mann war feingliedrig, und Schweiß glänzte in seinem jungen, schlichten Gesicht. Weißblondes Haar klebte an den Schläfen und Wangen; Blätter und Grashalme hafteten an seinem Mantel. Sein Blick huschte umher, als wollte er sich vergewissern, dass sie allein waren, und dann holte er tief Luft.
»Ich komme mit einer Bitte des Ältesten Vaters.« Er trat so nahe an Avranvärd heran, dass sie seinen Geruch wahrnahm. »Es ist keine schwere Aufgabe, aber sie erfordert Diskretion. Bist du bereit, mich anzuhören?«
Avranvärd nickte, und bei dieser Bewegung lief es ihr kalt über den Rücken.
»Weißt du, dass zwei Menschen und ein Halbblut auf deinem Schiff mitfahren werden?«
»Was? Nein. Nein, davon wusste ich nichts.«
»Sie werden an Bord kommen, sobald das Schiff beladen ist.«
Wie konnten Menschen an Bord eines Schiffes der An’Cróan erlaubt sein? Würde ein Anmaglâhk sie begleiten, oder erwartete man von den Besatzungsmitgliedern, dass sie die Wilden unter Kontrolle hielten?
»Einige Kastenmitglieder werden ihnen in sicherem Abstand an Bord eines anderen Schiffes folgen«, fuhr der müde junge Mann fort. »Ein Greismasg’äh und mehrere andere, von ihm ausgewählt. Er muss informiert werden, wenn dein Schiff anhält, den Kurs ändert oder etwas in Hinsicht auf die Menschen geschieht.«
Er holte ein Kästchen hervor und bot es Avranvärd an.
»Dies enthält ein Wortholz des Schiffes, das euch folgen wird. Damit kannst du dem Greismasg’äh Bericht erstatten. Verstehst du?«
Avranvärd zögerte einen Moment. Worthölzer von Schiffen waren nur für die Hkomas bestimmt oder für Hkæda, die Gestalter, die sich um das Schiff kümmerten. Wie war ein solcher Gegenstand in den Besitz eines Anmaglâhk gelangt?
»Ja«, hauchte sie. »Bedeutet das, dass ich jetzt zu den Initiierten zähle?«
Der junge Anmaglâhk schüttelte den Kopf.
»Ich bin angewiesen, dir Folgendes mitzuteilen: Wenn du diese Aufgabe übernimmst, zieht der Älteste Vater in Erwägung, dich in die Kaste aufzunehmen.«
Avranvärd riss ihm das Kästchen aus den Händen. »Wann soll ich damit beginnen, Berichte zu übermitteln?«
Der Mann schürzte die Lippen und wich zurück.
»Wenn der Abend des ersten Tages auf See dämmert. Der Greismasg’äh wartet jeweils morgens und abends darauf, dass du dich mit ihm in Verbindung setzt. Niemand darf davon erfahren, dass du Kontakt mit ihm aufnimmst, nicht einmal dein Hkomas. Es ist ganz einfach: Du hältst das Wortholz ans Schiff und sprichst. Der Greismasg’äh wird dich hören und in deinen Gedanken antworten.«
Der Anmaglâhk ging zur Straße und blieb dort noch einmal stehen.
»Versage nicht!«, sagte er, und dann verschwand er in der Nacht.
Avranvärd stand zitternd da und starrte auf das Kästchen in ihren Händen. Der Hkomas würde sie erneut schelten, weil sie zu spät kam, aber das war ihr gleich. Sie hatte eine Mission, übernahm eine wichtige Aufgabe für die Kaste.
Und wenn sie nach ihrer Erfüllung heimkehrte, würde sie zu den Anmaglâhk gehören.