10

Der Mond ging auf, als Chap übers Deck lief, begleitet vom Rauschen des Winds und der Wellen. Seine Gedanken trieben dahin. Er hatte so viel aufgegeben, um Leesil und Magiere zu schützen, und erneut fragte er sich, welcher Weg der richtige war.

Wie hatten die Chein’âs von Magiere wissen können? Was erwarteten sie als Gegenleistung für den Dolch und jenen Gegenstand, den Wynn Thôrhk nannte? Bestimmt etwas, das über Rache hinausging. Und was hatte es mit dem Artefakt auf sich, das Magiere suchte?

Sie und Leesil wollten nur diese letzte Aufgabe lösen und dann heimkehren. Chap wünschte ihnen von ganzem Herzen Erfolg. Aber abgesehen von Sorge um sie gab es an diesem Abend noch etwas anderes, das ihn nicht in Ruhe ließ, als er an der Seitenwand entlanglief. Er spürte eine starke Präsenz dort draußen, die sich näherte, die er aber nicht lokalisieren konnte, wie ein Loch in der Welt.

Chap sprang auf eine neben der Seitenwand stehende Kiste und blickte in die Dunkelheit.

Mehrere Elfen beobachteten ihn neugierig. Sie fanden es unnatürlich, dass ein Majay-hì aus freiem Willen sein Heimatland verließ. Die junge Frau mit dem dicken Zopf und den zu großen Stiefeln sah ihn wie ein Rätsel an, das unbedingt gelöst werden musste. Doch Neugier und Unbehagen der Besatzung spielten keine Rolle für Chap. Er blickte weiter in die Nacht über dem Meer.

»Wo bist du, Chap?«, rief Wynn.

Er schaute zurück, als sie aus der Luke beim Vorschiff kam, gekleidet nur in ihr weißes Unterhemd, Stiefel und Chanes alten Mantel. Chap seufzte. Auch um die junge Weise machte er sich Sorgen.

Seine Artgenossen, die Feen, sähen sie vielleicht am liebsten immer noch tot. Nicht nur, weil sie ihre Präsenz wahrnehmen konnte, sondern auch, weil sie wusste, dass es jenen Geschöpfen um mehr ging als nur darum, Magiere von Chap schützen zu lassen. Und warum trug Wynn lieber den alten Mantel anstatt ihres neuen?

Es beunruhigte ihn, dass sie immer wieder an Chane dachte. Erneut blickte Chap übers Wasser vor dem Bug des Schiffes, hielt Ausschau und spürte, wie seine Anspannung zunahm.

»Da bist du ja.« Wynn eilte zu ihm. »Es wird spät.«

Dass sie ihn wie jemanden behandelte, um den sie sich kümmern musste – obwohl es sich in Wirklichkeit genau umgekehrt verhielt –, ärgerte ihn ein wenig, aber manchmal fand er es auch rührend. Normalerweise kam Wynn nur mit Osha oder Sgäile an Deck. Es überraschte ihn, dass sie allein war, und er wusste, dass es besser wäre, sie unter Deck zu bringen. Aber das Loch in der Welt, das er nicht finden konnte, setzte ihm immer mehr zu. Es weckte den Wunsch in ihm zu … jagen?

Chap spähte in die Dunkelheit, sah aber nichts.

»Was ist los?«, fragte Wynn.

Chap zögerte. Dort draußen ist etwas.

Wynn legte ihm die Hand auf den Kopf und strich ihm dann über den Rücken. »Ich sehe nichts.«

Du bist nur ein Mensch.

»Nur?«, fragte sie empört.

Ein Licht erschien kurz in der Dunkelheit.

Mit den Vorderpfoten auf der Seitenwand richtete sich Chap auf.

»Schiff voraus!«, rief jemand in der Takelage.

Chap sah es. Wieder erschien das Licht in der Ferne, zeigte Segel, und Chap spürte, wie sich ihm das Nackenfell sträubte.

Chane saß auf einer alten Plane, die am Boden ausgebreitet war. Er hatte die Luke geöffnet, aber im Frachtraum roch es noch immer nach Blut. An Deck war alles still.

Welstiel trat ein und richtete einen finsteren Blick auf ihn.

Chane stand auf, halb in der Hoffnung, dass Welstiel selbstgerecht eine Erklärung verlangte. Er hatte die gegenwärtige Situation satt und sehnte eine Konfrontation herbei.

Welstiel musterte die ehemaligen Mönche nacheinander.

Inzwischen ging es ihnen eindeutig besser. Sie waren sich der eigenen Existenz bewusst und brachten ihrer Umgebung größere Aufmerksamkeit entgegen. Dem Mann, den Sabel Jakeb genannt hatte, ging es viel besser. Die Kratzspuren waren fast ganz aus seinem Gesicht verschwunden, und ruhig erwiderte er Welstiels Blick. Auch Sethè zeigte weniger Unruhe.

Alle neuen Untoten waren blutbesudelt, doch Welstiel sagte nichts.

Er ging zu einer freien Stelle unter der offenen Luke, nahm dort Platz und holte sofort den Messingteller hervor, um herauszufinden, wo sich Magiere befand. Vielleicht war er erleichtert, dass Chane sich um die Neuen gekümmert und ihnen Nahrung gegeben hatte. Oder er verlor sich erneut in seiner Besessenheit.

Was auch immer der Fall sein mochte, es war Chane gleichgültig.

Oben auf dem Deck erklang ein lauter Ruf. Welstiel sah auf. Er hatte sich gerade in den Stumpf des kleinen Fingers geschnitten, und nur ein Tropfen schwarze Flüssigkeit war auf den Teller gefallen.

»Was ist?«, fragte Chane.

»Ein fremdes Schiff …«, begann Welstiel, und dann fiel sein Blick auf den Teller.

Einen Moment später sprang er auf und lief aus dem Frachtraum. Chane starrte ihm verdutzt hinterher und sah dann auf den Teller.

Der eine Tropfen befand sich genau in der Mitte und rollte nicht zum Rand.

Chane lief ebenfalls los.

Magiere befand sich in unmittelbarer Nähe.

Welstiel erreichte das Deck und stellte fest, dass das gerissene Segel gesichert war. Hinter ihm kam Chane die Treppe hoch und sah sich um.

»Wo ist es?«, krächzte er. »Hast du das andere Schiff gesehen?«

Welstiel drehte sich zum Heck um.

Der Kapitän und Klâtäs standen am Steuer, und scharf klingende Worte flogen zwischen ihnen hin und her. Welstiels Blick ging an ihnen vorbei, bis hin zu den Segeln eines anderen Schiffes, die der Mondschein am Horizont zeigte.

Welstiel packte Chane am Hemd.

»Wir müssen Magiere zwingen, an Land zu gehen!«

Chane starrte in die Ferne.

»Wie?«, zischte er.

»Wir versenken ihr Schiff.«

»Nein!« Chane schüttelte Welstiels Hand ab. »Wynn befindet sich an Bord!«

»Wir müssen sie dazu bringen, dass sie an Land gehen«, beharrte Welstiel. »Nur dann können wir ihnen noch folgen. Sie werden Zeit haben, das Schiff zu verlassen, die beiden, und auch deine kleine Weise!«

Er ging zum Heck, bevor Chane weitere Einwände erheben konnte.

Klâtäs sah ihn kommen und rief: »Geh in Frachtraum nach unten!«

Der Kapitän erteilte Anweisungen, und Sorge erklang dabei in seiner Stimme. Er stapfte an Klâtäs vorbei in Richtung Bug. Welstiel schenkte den Worten des Steuermanns keine Beachtung und folgte dem Kapitän in geringem Abstand. Chane schloss sich ihm an.

Ylladonische Matrosen machten sich eilig daran, die Befehle des Kapitäns auszuführen. Zwei liefen zum Heck und zogen die Plane von der dortigen Balliste. Nacheinander wurden die Laternen auf dem Deck gelöscht. Als Dunkelheit das Schiff einhüllte, drehte Klâtäs das große Steuerrad.

Das Schiff nahm Kurs aufs offene Meer und neigte sich so stark zur Seite, dass Welstiel nach der Reling griff, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Matrosen in der Takelage machten sich in aller Eile daran, noch mehr Segel zu setzen.

»Er flieht«, sagte Chane und beobachtete, wie sich der Kapitän an einem Seil festhielt.

»Ja«, erwiderte Welstiel und erinnerte sich an die beiden gefangenen Elfinnen. »Aber wir werden seine Meinung ändern!«

Er wandte den Blick vom mittschiffs stehenden Kapitän ab und ging in Richtung Steuer.

»Nach unten!«, rief Klâtäs und stemmte sich mit seinem ganzen Gewicht gegen das Steuerrad.

»Ihr könnt dem anderen Schiff nicht davonsegeln«, sagte Welstiel mit gedämpfter Stimme.

Der Steuermann spuckte. »Was du davon weißt?«

»Ich weiß, dass es ein Elfenschiff ist«, sagte Welstiel und trat noch näher. »Und ich habe die beiden Gefangenen des Kapitäns gesehen. Jenes Schiff dort wird nicht aufhören, euch zu verfolgen; der Grund sind die beiden Elfinnen, die ihr an Bord habt. Es ist schneller als euer Schiff, und das bedeutet: Eure einzige Chance besteht darin, zu wenden und zu kämpfen.«

Klâtäs schüttelte den Kopf, antwortete aber nicht. Es bestand kein Zweifel daran, dass sowohl er als auch der Kapitän eine Verfolgung fürchteten. Der Steuermann zischte einige Worte, die Welstiel nicht verstand, und dann näherten sich schwere Schritte. Welstiel drehte sich um.

Der Kapitän stapfte auf ihn zu, mit seinem schweren Kurzschwert in der Hand. Chane zog sein Langschwert.

»Sag ihm, dass er wenden und kämpfen soll!«, rief Welstiel dem Steuermann zu.

Ein anderer Seemann ergriff das Steuer, als Klâtäs losließ und einige weitere Worte an den Kapitän richtete. Der ging langsamer, sah Welstiel an und knurrte etwas.

»Wenn es Kampfschiff sein, wir nicht kämpfen können«, sagte Klâtäs. »Das andere Schiff schnell sein … auch beschädigt und ohne Segel. Etwas unter Wasser beschädigen kann unseren Rumpf, und dann Gefahr wir sinken.«

Ein Kampfschiff der Elfen? Davon hörte Welstiel zum ersten Mal, und die Vorstellung von etwas, dass sich unter Wasser befand und Feinde versenken konnte, klang nach Unsinn.

»Lad deine Ballisten mit Brandpfeilen«, sagte er. »Setze die Segel in Flammen; dann gibt die Besatzung das Schiff auf. Aber du musst den Kurs ändern. Wenn wir angreifen, haben wir das Überraschungsmoment auf unserer Seite.«

Klâtäs übersetzte. Dass er auf die Worte eines Fremden einging und den Kapitän zu überzeugen versuchte, zeigte deutlich, dass er nicht glaubte, den Verfolgern entkommen zu können. Der Kapitän knurrte, packte das Haar des Steuermanns und stieß ihn fort.

»Er sagt, wir fliehen«, wandte sich Klâtäs an Welstiel. »Selbst bei Vollmond wir vielleicht können verschwinden in Dunkelheit.«

Der Kapitän wollte sich nicht überreden lassen. Auf Belaskisch sprach Welstiel leise zu Chane und behielt dabei den Steuermann im Auge.

»Töte den Kapitän! Und zeig diesen Leuten, was du bist.«

Der Kapitän blaffte eine Frage und trat näher zu Klâtäs.

Im gleichen Moment stieß Chane mit seinem Langschwert zu.

Der verblüffte Kapitän versuchte, den Hieb mit seinem Kurzschwert zu parieren, aber Chane hatte bereits seine Lederweste durchbohrt. Das Kurzschwert schlug dennoch gegen Chanes längere Waffe, wodurch ihre Klinge weiter in den Brustkorb des Ylladoners eindrang. Der Mann sank auf die Knie.

Damit wäre der Kampf beendet gewesen, wenn Klâtäs nicht nach seinem Säbel gegriffen hätte. Welstiel zog sein Schwert, bevor der Steuermann seine Waffe heben konnte, und packte Klâtäs an der Kehle. Er hörte, wie Chane einem zornigen Reptil gleich zischte.

Der Kapitän schloss seine große Hand um die Klinge des in seinem Leib steckenden Langschwerts.

Der Matrose am Steuerrad verließ seinen Posten und eilte herbei.

»Beweg dich, und du bist tot!«, sagte Welstiel dicht an Klâtäs’ Ohr und schlug mit seinem Schwert zu.

Die Spitze traf den Matrosen und schnitt ihm durchs Gesicht. Schreiend fiel er zu Boden.

Der Kapitän versuchte erneut, sein Kurzschwert zu heben. Blut rann über Chanes Klinge, entweder aus der Wunde in seinem Leib oder von der Hand am scharfen Stahl. Chane hob einen Fuß.

Er trat auf den Unterarm des Kapitäns, dicht über der Hand.

Die Schneide des Langschwerts trennte die Finger des Kapitäns ab. Mit einem kehligen Schrei ließ der Mann das Kurzschwert los.

Klâtäs erzitterte in Welstiels Griff.

»Sag deinen Männern, dass sie sterben, wenn sie nicht zurückbleiben!«, rief Welstiel. Er ließ sein Schwert fallen und packte das Haar des Steuermanns. »Sag es ihnen jetzt sofort! Oder du stirbst ebenfalls!«

Chane biss in den Hals des Kapitäns und bewegte den Kopf wie ein wilder Hund, der seine Beute zerfetzte. Dunkles Blut spritzte aufs Deck; einige Tropfen trafen Klâtäs im Gesicht und an der Brust.

Aus dem Bauch des Schiffes erklangen Schreie des Hungers.

Chane ließ den Kapitän in die Blutlache sinken, die sich auf dem Deck gebildet hatte. Er spuckte Fleischfetzen aus und sah die herankommenden Besatzungsmitglieder mit glitzernden Augen an.

Welstiel konzentrierte seine Willenskraft auf die neuen Untoten unter Deck.

»Kommt!«, rief er. »Kommt zu mir!«

Gierig schreiend verließen die hungrigen neuen Untoten den Frachtraum.

Wynn bemerkte ein Licht in der Ferne, als der Elf am Steuer nach dem Hkomas rief, doch ein Schiff konnte sie nicht erkennen. Das Licht verschwand, als der Hkomas herbeieilte. Er sah Wynn, die in ihrem Unterhemd auf dem Deck stand, ohne Osha oder Sgäile, und blieb vor dem Achterschiff stehen.

»Ich sehe es nicht mehr!«, rief der Steuermann. Er kam vom Achterschiff herunter. »Es war dort, vor uns.«

Chap knurrte.

»Was ist?«, fragte Wynn.

Er schnaufte und knurrte erneut.

»Geh nach unten!«, rief der Hkomas Wynn zu.

»Nein! Sieh ihn dir an.« Sie deutete auf Chap. »Etwas stimmt nicht.«

»Wynn, wo bist du?« Osha kam durch die Luke beim Vorschiff und hielt im Wind seinen graugrünen Mantel zu.

»Hier«, antwortete sie und drehte sich dann sofort wieder zu Chap um. »Sag mir, was du siehst!«

Chap knurrte lauter und wandte den Blick nicht vom Meer ab.

Der Steuermann packte Wynn am Kragen von Chanes Mantel, den sie über dem Unterhemd trug. »Tu, was man dir sagt!«

Osha erreichte Wynn und ergriff den Mann am Handgelenk. Er schüttelte den Kopf, und der Steuermann ließ die junge Weise los.

»Was ist passiert?«, fragte Osha.

»Ein unbekanntes Schiff voraus«, sagte Wynn. »Es hat Chap unruhig gemacht.«

Osha beugte sich über die Seitenwand und folgte Chaps Blick. »Ich sehe nichts.«

»Es ist im Dunkeln verschwunden, muss aber noch da sein.«

»Schiff voraus!«, rief jemand vom Vormast. »Menschensegel im Mondschein, Kurs offenes Meer.«

»Menschen?«, wiederholte der Hkomas.

»Könnte es jenes Schiff sein?«, fragte der Steuermann.

»Ylladoner!«, rief der Elf im Vormast. »Es ist ein ylladonisches Schiff!«

Osha richtete einen verwunderten Blick auf den Kapitän. »Ihr sucht ein Schiff?«

»Beim letzten Hafen haben wir von einem Überfall auf eine der südlichen Siedlungen gehört«, sagte der Hkomas. Der Steuermann lief zum Achterschiff, als der Kapitän rief: »Alle Mann an Deck! Volle Segel! Âlhkasge soll das Schiff wecken!«

Als Wynn diesen neuen Namen hörte, wandte sie sich an Osha. »Wer ist … Schließender Stein? Und warum soll er das Schiff wecken?«

»Âlhkasge ist der Hkæda«, erwiderte Osha schnell. »Das Schiff schwimmt selbst im Schlaf weiter, aber der Hkomas möchte, dass wir schneller werden. Du solltest nach unten gehen.«

»Komm, Chap!«, sagte Wynn, aber der Hund wollte offenbar an Deck bleiben. Wynn fasste ihn an den Schultern, doch Chap knurrte, ohne sich umzudrehen.

Die Luke klappte auf, und Untote sprangen an Deck.

Chane wusste, dass er in der Klemme steckte.

Irgendwo hinter ihnen befand sich Wynn an Bord des anderen Schiffes.

Er war jeder Anweisung Welstiels nachgekommen. Weil Welstiel sonst von der Besatzung überwältigt worden wäre, was für Chane bedeutet hätte, allein an Bord eines Schiffes mit Plünderern und Marodeuren zu sein, und in Gesellschaft von wilden Untoten ohne einen Herrn.

Hinzu kam: Er war voller Euphorie, seit er den ylladonischen Kapitän getötet hatte.

Er versuchte, sich zu konzentrieren, als Matrosen nach Waffen griffen, um sich gegen die neuen Untoten zu wehren. Welstiel hielt noch immer den Steuermann fest, und sein Gesicht …

Farblose Augen glühten in einem leichenhaft blassen Gesicht. Der Mund öffnete sich, und zum Vorschein kamen lange, spitze Zähne.

Chane hatte Welstiel noch nie in vollständiger Vampirgestalt gesehen. Vielleicht war er inzwischen so sehr übergeschnappt, dass sein aristokratisches Gehabe endgültig von ihm abfiel. Der Anblick brachte Chanes Gedanken erneut durcheinander, bis er sich nur noch wünschte, einen weiteren warmen Körper zu zerreißen.

Hinter ihm stöhnte jemand.

Chane drehte den Kopf und warf einen Blick über die Schulter.

Der Matrose mit der von Welstiels Schwert stammenden Schnittwunde im Gesicht lag auf dem Deck, die Hände vors Gesicht geschlagen. Blut quoll zwischen den Fingern hervor. Chane zog sein Schwert aus der Leiche des Kapitäns und durchbohrte damit das Herz des Matrosen. Der Mann erschlaffte und lag still da.

Die Besatzungsmitglieder hatten inzwischen das erste Entsetzen abgeschüttelt und traten den neuen Untoten entgegen, die den Seeleuten auswichen und sich Welstiel näherten.

Sabel sah Chane an und schnupperte, und dann fand ihr Blick das Blut beim Leichnam des Kapitäns. Chane wich an die Steuerbordreling zurück.

Konnte Welstiel seine Diener unter diesen Umständen noch kontrollieren?

»Schick die Männer in die Takelage!«, zischte Welstiel Klâtäs ins Ohr. »Dreh das Schiff – oder du bist ohne Blut, noch bevor deine Leiche aufs Deck fällt.«

»Sie nicht bereit dazu«, erwiderte der Steuermann mit erstickter Stimme. »Sie nicht angreifen Elfenschiff!«

»Sieh dich um! Was fürchten die Männer mehr, die Elfen oder uns?«

Welstiel fühlte den Puls des Steuermanns unter seiner Hand und hörte das Pochen seines Herzens. Beides weckte Gier in ihm, und es fiel ihm schwer, dagegen anzukämpfen.

Die Besatzungsmitglieder blieben außerhalb der Reichweite der neuen Untoten, doch die Anspannung war ihnen deutlich anzusehen, als sie ihre Waffen bereithielten. Klâtäs rief ihnen etwas zu.

Zwei schüttelten den Kopf, und einer erbleichte.

Welstiel schob den Steuermann zum großen Rad.

Klâtäs griff danach, starrte aber entsetzt auf die Leiche des Kapitäns. Er rief Anweisungen, doch keiner der Matrosen reagierte darauf.

Welstiel brauchte mindestens sechs von ihnen, besser zehn, um die Ballisten zu bedienen und das Schiff nach dem Wenden auf Kurs zu halten.

»Nehmt euch Blut!«, rief Welstiel seinen Dienern zu.

Die fünf Untoten schrien gierig und stürzten sich auf die Besatzungsmitglieder. Nur zwei stellten sich ihnen entgegen. Die anderen stoben auseinander und flohen.

Welstiel nahm sein Schwert. »Bring das Schiff nach Norden, an der Küste entlang – solange deine Männer noch leben.«

Klâtäs zog mit seinem ganzen Gewicht am Steuer. »Ruf zurück die Ungeheuer!«

Das Schiff neigte sich zur Seite. Welstiel hielt sich an der Reling fest und schaute übers Deck.

Die beiden Seeleute, die nicht die Flucht ergriffen hatten, waren bereits tot und lagen unter den knurrenden und fauchenden Untoten. Die unterbrachen ihren Festschmaus, als sie übers schiefe Decke rutschten.

Welstiel zählte die Besatzungsmitglieder. Fünf oder sechs waren nicht zu sehen – vermutlich versteckten sie sich irgendwo –, und die anderen waren in die Takelage geklettert.

»Halt!«, rief Welstiel auf Strawinisch.

Als das Deck in die Waagerechte zurückkehrte und der Bug des Schiffes nach Norden gerichtet war, trat Welstiel zwischen seine geduckten Diener. Der Mann mit dem lockigen Haar wich als Letzter von den zerfetzten Leichen zurück und schien gegen den Befehl seines Herrn anzukämpfen – deutlich zeichneten sich Muskeln und Sehnen in seinen Unterarmen ab. Seine Hände kratzten übers Deck und versuchten, den nächsten getöteten Matrosen zu erreichen.

Welstiel sah zu den Seeleuten in der Takelage empor. Klâtäs rief ihnen erneut Anweisungen zu, und diesmal kamen sie ihnen nach.

Nur wenige Momente waren verstrichen, und Welstiel dachte an seinen Reisegefährten. Er drehte sich nach ihm um – Chane stand an der Reling.

»Geh nach unten in die Kajüte des Kapitäns«, sagte Welstiel. »Aber durchsuch die Leiche erst nach Schlüsseln. Hinter dem Tisch in der Kajüte findest du eine Holztafel, die sich bewegen lässt. Verschaff dir Zugang zur verborgenen Zelle und hol mir die beiden Gefangenen.«

Chane kniff die Augen zusammen, machte sich aber wortlos daran, die Leiche des Kapitäns zu durchsuchen. Er fand einen Ring mit Schlüsseln und stapfte in Richtung Bug.

Jemand rief etwas aus der Takelage, und Klâtäs sah nach vorn und spähte in die Nacht.

»Was ist?«, fragte Welstiel.

»Das Elfenschiff. Es schnell näher kommt. Wir entdeckt sind.«

Welstiel blickte über den Bug hinaus. »Schick die Männer zur Balliste! Jetzt sofort!«

Leesil erwachte aus dem Halbschlaf, als Magiere gegen ihn stieß. Sie rollte zur Kante der schmalen Koje, und er versuchte, sie festzuhalten, aber sie war bereits auf den Boden gerutscht.

»Magiere?«

Leesil stützte sich auf einen Ellenbogen und versuchte, ganz wach zu werden.

Magiere hockte auf allen vieren da. Sie waren beide voll angezogen, da sie ihre Kajüte mit Wynn und Chap teilen mussten. Gelbbraunes Licht ließ Magieres zerzaustes Haar glänzen, und sie keuchte.

Hatte sie wieder geträumt? Ein weiterer Albtraum?

»Was ist los?«, fragte Leesil.

Er tastete blindlings nach der Laterne, die Wynn offenbar zu löschen vergessen hatte, fand sie aber nicht.

»Leesil …«, flüsterte Magiere und hob langsam den Kopf.

Leesil brummte verärgert, setzte sich auf und streckte die Hand aus. Aber das Licht kam nicht von einer Laterne.

Am Ende der langen Koje sah er das Topas-Amulett, das Magiere ihm gegeben hatte. Es glühte.

Leesil schnappte nach Luft und sah Magiere an.

Das Licht des Amuletts erreichte ihr Gesicht durch den Schleier des zerzausten Haars. Ihre Augen waren dunkler als die Schatten in der Kajüte.

Ein gespenstisches Heulen erklang irgendwo an Bord.

»Chap?«, fragte Leesil, aber Chap war nicht da, und Wynn fehlte ebenfalls. »Oh, bei den toten Göttern!«

Magiere kam auf die Beine, nahm ihr Falchion und riss die Kajütentür auf.

»Wo sind sie?«, knurrte Leesil. »Und wie konnte ein Untoter an Bord gelangen?«

Magiere antwortete nicht und lief los. Leesil schnappte sich das Amulett und legte es sich um den Hals. Er nahm auch eine seiner Klingen, hatte aber keine Zeit, sie festzuschnallen, und behielt sie in der Hand, als er Magiere folgte.

Er holte sie ein, als sie am Ende des Gangs die Luke aufstieß. Auf der Seeseite des Schiffes kamen sie an Deck. Besatzungsmitglieder eilten zielstrebig umher. Mehrere von ihnen hatten Langbögen über die Schulter geschlungen und Köcher auf dem Rücken. Doch Leesil konnte keine Anzeichen eines bevorstehenden Kampfes erkennen.

»Wynn?«, rief er und bemerkte sie fast im gleichen Augenblick.

Sie lief auf ihn zu, gefolgt von Osha. Neben der aufgestoßenen Luke blieb sie stehen.

»Leesil, Magiere … Ich wollte gerade zu euch kommen.« Wynn drehte sich um und deutete nach vorn. »Untote … auf einem anderen Schiff. Chap hat sie gespürt und ist unruhig geworden!«

Magiere sprang an Wynn vorbei und lief übers Deck, und Leesil hörte, wie weiter vorn Chap heulte. Mehrere Elfen warfen besorgte Blicke zum Bug.

Leesil wollte Magiere folgen, zögerte aber, als Sgäile aus einer anderen Luke kam, noch damit beschäftigt, seinen Umhang überzustreifen. Elfenmatrosen eilten an ihnen vorbei, als die Stimme des Hkomas Chaps Heulen übertönte und Anweisungen rief. Sgäile hielt kurz inne und lauschte, trat dann neben Osha und wandte sich an Leesil.

»Der Hkomas bringt uns aufs offene Meer hinaus, um dem anderen Schiff auszuweichen«, sagte er. »Haltet euch bereit, Hilfe zu leisten, falls sie nötig wird.«

»Nein«, widersprach Wynn schnell. »Das andere Schiff segelt seewärts – wir nähern uns ihm.«

»Was?« Sgäile starrte sie überrascht an. »Das wäre sehr dumm, wenn es sich um Ylladoner handelt. Dies ist kein Kampfschiff.«

Chaps Heulen verklang, und Leesil sah zum Vorschiff. Der Hund stand zusammen mit Magiere an der Seitenwand.

»Zeig es mir!«, knurrte sie, und ihre Stimme verlor sich fast in all den Geräuschen an Deck.

Chap streckte den Kopf so weit wie möglich nach vorn. Magiere beugte sich über ihn und folgte seinem Blick.

»Was ist das?«, hauchte Sgäile.

Leesil sah ihn verwirrt an und stellte fest, dass er und auch Sgäile auf seine Brust starrten, wo das Amulett glühte.

»Das habe ich von Magiere«, erklärte er. »Es beginnt zu glühen, wenn ein Untoter in der Nähe ist.«

»Deshalb hat Chap geheult«, fügte Wynn hinzu. »Er will jagen, weil er einen Untoten an Bord des anderen Schiffes spürt!«

Sgäile wirkte fassungslos.

Vier Elfen öffneten die Achterluke. Die ersten beiden trugen ein großes Gestell aus Holz, die anderen beiden etwas, das in eine Plane gehüllt war. Sie liefen an der seewärtigen Seitenwand zum Achterschiff.

Das Gestell wurde auf der dem Meer zugewandten Seite des Achterschiffs aufgestellt und dann der Inhalt der Plane darauf montiert. Als die Elfen die Plane beiseitezogen, kam ein breiter Stahlbogen zum Vorschein, eine Balliste.

Zwei weitere Besatzungsmitglieder liefen an Leesil vorbei zum Vorschiff und der dem Land zugewandten Seite.

»Offenbar hat der Hkomas für diese Reise zusätzliche Vorbereitungen getroffen«, sagte Sgäile und sah Osha an. »Es befinden sich Schwimmer im Herz-Raum.«

Osha blickte überrascht zum Heck.

Bevor Leesil fragen konnte, was es mit den Schwimmern auf sich hatte, eilten beide Anmaglâhk die Treppe zum Vorschiff hoch. Leesil ergriff Wynns schmale Hand und folgte ihnen.

Magiere und Chap standen noch immer am Bug und blickten übers Meer. Inzwischen heulte Chap nicht mehr, aber er war sehr unruhig, und Magieres Augen enthielten kaum mehr Weißes.

Leesil sah an ihr vorbei zum anderen Schiff.

Er hatte erwartet, dass es noch ein ganzes Stück entfernt war, aber die quadratischen Segel zeigten sich deutlich im Mondschein. Es schien auf der seewärtigen Seite vorbeisegeln zu wollen – doch dann änderte es plötzlich den Kurs.

Leesil hielt noch immer Wynns Hand und fühlte, wie ihre Finger plötzlich fest zudrückten. »Das Schiff kommt direkt auf uns zu!«

Chane zerrte die beiden Elfinnen an ihren Handfesseln aufs Deck. Die ältere von ihnen war so groß wie er, aber so schlank, dass sie fast ebenso zart wirkte wie ihre jüngere Begleiterin. Ohne Widerstand zu leisten, hatten sie sich von ihm aus ihrer kleinen Zelle holen lassen, doch beide zuckten zusammen, als er sie durch die Luke zog.

Selbst im Dunkeln sahen sie die wilden Untoten. Die Leichen der beiden getöteten Matrosen waren fort, aber der ehemalige Mönch mit dem lockigen Haar leckte Blut vom Deck. Die jüngere Elfin sagte etwas zur älteren, und Furcht zitterte in ihrer Stimme.

Chanes Sorge um Wynn wuchs.

Unter den wachsamen Blicken der hungrigen Untoten bereiteten die Seeleute ihre Ballisten vor. Männer zogen Planen beiseite und spannten mit Kurbeln die Kabel der schweren Waffen. Alle Ballisten ließen sich drehen, und sie wurden nach vorn gerichtet. Die Männer luden sie mit Pfeilen so lang wie Chanes Körper, und in Öl getränkte Tücher umhüllten ihre stählernen Spitzen.

Zwei weitere Matrosen kamen von unten und brachten Eimer mit glühenden Kohlen.

»Lasst die Deckel auf den Eimern, bis wir bereit sind, das Feuer zu eröffnen!«, rief Welstiel, und Klâtäs gab die Anweisungen weiter.

Welstiel lief übers Deck, vorbei an den Besatzungsmitgliedern und seinen Untoten, erreichte die beiden Gefangenen und griff nach der Handfessel der älteren Frau.

»Bring die andere!«, sagte er und eilte weiter.

»Dies ist zu riskant!«, zischte Chane und blieb mit seiner Gefangenen stehen. »Was, wenn Wynn – oder deine kostbare Magiere – unter ein herabfallendes brennendes Segel gerät?«

Welstiel ging nicht darauf ein und schob die Elfin vor sich her zum Bug. Er drehte sich um und rief dem Steuermann zu. »Wann können wir schießen?«

Chane drehte sich ebenfalls.

Die Leiche des Kapitäns war nicht mehr da – vermutlich hatte sie jemand über Bord geworfen –, und Klâtäs hielt das Steuer mit beiden Händen. Sein Gesicht war starr und so weiß wie die Fingerknöchel.

»Wir noch etwas näher heranmüssen«, erwiderte der Steuermann. »Erst schießen wir auf Deck. Um zu schaffen Furcht und Durcheinander und Elfen halten beschäftigt.«

»Nein!«, rief Chane. »Es könnte jemand getötet werden!«

Wieder schenkte ihm Welstiel keine Beachtung. Chane folgte ihm und zerrte die jüngere Elfin hinter sich her.

Welstiel bückte sich und band ein Seil um die Fußfesseln seiner Gefangenen. Sie versuchte, Widerstand zu leisten, bis er sie an der Kehle packte und ihr einen Stoß gab – sie kippte über die Reling. Die jüngere Frau in Chanes Griff schrie entsetzt.

»Was machst du da?«, knurrte Chane.

Welstiel hielt das Seil in den Händen, und Chane blickte über die Reling. Auf halber Höhe der Schiffswand hing die ältere Elfin mit dem Kopf nach unten.

»Nimm das Seil!«, befahl Welstiel.

Chane griff mit der freien Hand danach, und Welstiel drehte sich um und versetzte der jüngeren Frau einen Schlag an die Schläfe.

Sie fiel, und Chane ließ ihre Handfessel los, um das Seil unter Kontrolle zu halten. Halb bewusstlos prallte die jüngere Elfin aufs Deck. Chane achtete kaum auf sie und interessierte sich mehr dafür, was Welstiel plante, der eine baumelnde Laterne von ihrem Haken nahm und sie ihm reichte.

»Wenn ich dir Bescheid gebe, öffnest du ihre Klappe und hängst sie über die Reling, damit ihr Licht auf die baumelnde Frau fällt. Wir müssen an Bord des anderen Schiffes einen Schock bewirken, der uns einen Vorteil gibt. Schneid das Seil durch, sobald ich dir das Zeichen gebe.«

Plötzlich verstand Chane, doch seine Sorge um Wynn blieb.

»Achte auf den Kurs«, sagte Welstiel.

Er setzte sich mit überkreuzten Beinen, schloss die Augen, legte die linke Hand auf die rechte und ergriff den Ring am Mittelfinger. Seine Lippen bewegten sich in einem leisen Singsang.

Chane duckte sich hinter der Reling, hielt Seil und Laterne und dachte an Wynn.

Welstiel konzentrierte seine Willenskraft auf den Ring.

Klâtäs hatte darauf hingewiesen, dass sie näher heranmussten, um die Ballisten einzusetzen. Das bedeutete, dass ihre Distanz zu Magiere und Chap schrumpfte, deren Aufmerksamkeit die Präsenz so vieler Untoter an Bord bestimmt nicht entging.

Die Macht des Rings verbarg Welstiel und jene, die er »berührte«, vor übersinnlicher Wahrnehmung, doch jetzt ging es ihm um noch mehr. Einmal hatte er den Wirkungsbereich des Rings erweitert, um nicht von Ubâds Geisteraugen gesehen zu werden, als der Nekromant Magiere in seine Gewalt gebracht hatte. Jetzt musste er die Präsenz aller Untoten an Bord dieses Schiffes so lange wie möglich vor Chap und Magiere verbergen.

Er setzte den leisen Singsang fort und spürte den Einfluss des Rings als ein Prickeln. Seine Wirkung breitete sich aus, wuchs übers Deck und umhüllte schließlich das ganze Schiff.

Chane fühlte, wie seine Haut für einen Moment taub zu werden schien.

Er wusste nicht, was Welstiel machte. Seine Gedanken suchten nach einem Weg aus dieser verfahrenen Lage, bevor Wynn in Gefahr geriet. Wenn der Steuermann befahl, auf das Deck des anderen Schiffes zu schießen, konnte Wynn getötet werden – es sei denn, der Elfenkapitän hatte alle Passagiere unter Deck befohlen. Aber dort steckte sie vielleicht in der Falle, wenn das Schiff in Brand geriet.

Mit geschlossenen Augen saß Welstiel da, die Hände aufeinandergelegt, und plötzlich kam Chane eine seltsame Idee.

Er brauchte nur sein Schwert zu ziehen und Welstiel zu köpfen. Die freien Untoten würden die Besatzungsmitglieder töten, und in all dem Durcheinander konnte Chane über Bord springen.

Und wenn einige der Matrosen überlebten? Was mochte geschehen, wenn die Elfen die über dem Wasser hängende Frau bemerkten und angriffen? Chane stellte sich vor, wie die Ylladoner das Feuer erwiderten und die Untoten in dem Chaos aus Flammen und Pfeilen in Panik gerieten.

Und selbst wenn ihm die Flucht gelungen wäre – es hätte keine Sicherheit für Wynn bedeutet.

Welstiel wollte Magiere am Leben erhalten und sie zwingen, an Land zu gehen. Was bedeutete, dass der Besatzung des anderen Schiffes Zeit genug bleiben musste, das Ufer zu erreichen – und Wynn mit ihr.

Die auf dem Deck liegende junge Elfin stöhnte leise.

Chane hielt sich bereit, die Klappe der Laterne zu öffnen.

Magiere beobachtete das herankommende Schiff, und ihre Nachtsicht zeigte ihr die Segel im Mondschein besonders deutlich. Es kam schnell näher, aber dennoch nicht schnell genug – das Dhampir-Feuer begann in ihr zu brennen.

Jemand rief etwas, und unter den elfischen Worten hörte Magiere die lange Version von Sgäiles Namen.

»Der Hkomas befiehlt uns unter Deck«, sagte er. »Ich halte das nicht für klug, aber wir sollten das Vorschiff verlassen, damit wir die Besatzungsmitglieder nicht behindern.«

Magiere sah zurück und stellte fest, dass der Hkomas bei der Treppe des Achterschiffs stand. Als sich ihre Blicke trafen, schien er zu erstarren und musterte sie argwöhnisch.

»Magiere …«, begann Leesil, sprach aber nicht weiter. Sgäile seufzte resigniert.

Magiere nahm sie kaum mehr bewusst wahr. Erinnerungen stiegen in ihr auf, an kopflose Leichen zu ihren Füßen, an schwarzes Blut, das vom Falchion in ihrer Hand tropfte.

Sie hatte schon einmal auf diese Weise empfunden, aber nicht mit dieser Intensität. Was auch immer sich an Bord jenes anderen Schiffes befand, es überwältigte sie regelrecht und raubte ihr fast die Kontrolle über sich. Andererseits: Der Wunsch, auf die Jagd zu gehen, war eine willkommene Abwechslung.

Sie konnte die Untoten an Bord des anderen Schiffes niedermetzeln, ohne sich zurückhalten zu müssen. Danach sehnte sie sich. Ihre Fingernägel wurden länger, ebenso die Zähne, aber noch widersetzte sich Magiere der Verwandlung zur Dhampir – sie wollte bis zum letzten Augenblick damit warten.

Und dann verschwand der Dhampir-Zorn plötzlich aus ihr.

Magiere schwankte und glaubte plötzlich, den Halt verloren zu haben.

Chap jaulte.

»Was ist los?«, fragte Leesil.

Dunkelheit wogte heran, und Magiere stellte fest, dass das Topas-Amulett auf Leesils Brust nicht mehr leuchtete.

Verwirrt sah sie zum anderen Schiff und fühlte eine plötzliche Leere dort, wo eben noch die Präsenz von Untoten gewesen war.

Chap stand mit den Vorderpfoten an der Seitenwand und behielt das herankommende Schiff im Auge. Er hatte die unheilvolle Aura der Untoten ganz deutlich wahrgenommen, und jetzt …

Wie konnten sie von einem Augenblick zum anderen verschwinden?

Das andere Schiff näherte sich noch immer, aber er spürte keine Untoten mehr darauf. Das war aber doch unmöglich. Er hatte sich bestimmt nicht geirrt.

Doch so etwas war ihm schon einmal passiert, in den Straßen von Venjètz. Zusammen mit Leesil und Magiere hatte er einen Untoten gejagt, der dann plötzlich verschwunden war, so wie jetzt.

Chap knurrte verärgert, und Magiere schlug mit beiden Händen auf die Seitenwand.

»Nein«, flüsterte sie, und es klang fast schmerzerfüllt. »Nein … nein … nein!«

Chap blickte in ihr Bewusstsein und sah Erinnerungen an die Jagd, verbunden mit einer an Gier grenzenden Sehnsucht. Jemand rief auf Elfisch aus der Takelage.

»Das Schiff ändert erneut den Kurs!«

Licht kam von vorn.

Chap richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf die Ylladoner. Der Bug zielte jetzt nicht mehr genau auf das Elfenschiff – offenbar wollten die Fremden auf der seewärtigen Seite vorbeisegeln. Das Licht kam von einer Stelle am Bug.

»Was ist das?«, fragte Leesil und deutete über die Seitenwand.

Chaps Augen passten sich an und sahen … die Frau.

Das Licht einer Laterne mit geöffneter Klappe fiel auf eine Frau, die kopfüber an der Seite des Schiffes hing. Ein Seil war um ihre Fußknöchel gewickelt, und das lange Haar strich übers Wasser. Die Hälfte der Elfen-Besatzung lief zur seewärtigen Seite, als das andere Schiff heran war.

»Hart nach Steuerbord!«, rief der Hkomas. »Gebt ihnen nicht die Möglichkeit, hinter unser Heck zu kommen!«

Chap lief zur seewärtigen Balliste und blieb dort auf der Treppe des Vorschiffs stehen. Unten auf dem Deck rollten Seeleute Seile mit Enterhaken aus. Magiere kam an ihm vorbei, sprang aufs Deck und versuchte, das vorbeisegelnde Schiff im Blick zu behalten. Sgäile wollte ihr folgen, aber Leesil hielt ihn am Arm fest.

»Nein, bleib hier! Sie wollen dich ködern!«

Die Ylladoner waren so nahe, dass Chap eine Stimme vom anderen Schiff hörte. Sgäile löste sich aus Leesils Griff.

»Sie haben eine Elfin!«, rief er. »Wir lassen unsere Artgenossen nicht im Stich.«

Chap fühlte, wie sich sein Bewusstsein erweiterte und die Wahrnehmung schärfte. Die Stimmen um ihn herum wurden plötzlich dumpf, und das Verlangen nach einer Jagd ließ ihn erzittern. Bevor er die Ursache dieses Empfindens ergründen konnte, schnitt jemand das Seil am Bug des anderen Schiffes durch.

Die Elfin fiel und verschwand im Meer.

Chap hörte Sgäiles gequälten Schrei kaum.

Feuer stieg vom ylladonischen Schiff auf und flog den Segeln der Elfen entgegen. Magiere sprang zur Seitenwand und stieß einige Matrosen beiseite, die ihr im Weg standen.

Als der erste brennende Pfeil sein Ziel traf, erfüllte Panik Chaps Geist.

Er heulte, hielt nach seinen Mündeln Ausschau und suchte nach einer Möglichkeit, sie vor Schaden zu bewahren.