25

Magiere schwieg, als sie Miiska erreichten.

Sie ging schneller und wollte noch nicht von jemandem gesehen werden, den sie kannten, nicht, bis sie beim »Seelöwen« waren.

Sie kamen von Süden – die Taverne befand sich also direkt hinter den Bäumen. Magiere konnte es kaum erwarten, ihr Zuhause wiederzusehen. Die Straße führte den Hang hinab, und Magiere lief so schnell aus dem Wald, dass Leesil rennen musste, um zu ihr aufzuschließen. Die anderen blieben ein Stück zurück, aber Chap sprang an Magiere vorbei und sauste voraus.

Und dann sah sie die Taverne.

Das von Leesil gemalte Schild hing über der schmalen Tür, und alles sah so aus, als wären sie nicht länger als ein paar Tage weg gewesen.

Die Taverne »Zum Seelöwen«. Chap drehte sich im Kreis, als Magiere zur Tür ging und sie öffnete.

Drinnen wirkte alles neu, von der sauberen Theke bis hin zum doppelseitigen Kamin in der Mitte des Schankraums. Rasheds Schwert hing an der einen Wand und wies darauf hin, dass die Taverne nach einem Feuer wiederaufgebaut worden war. Hinter dem einen Ende der Theke führte eine Treppe ins Obergeschoss mit den Schlafzimmern.

Leesil schob sich an Magiere vorbei und sah sich begierig um. Zuerst brachte er keinen Ton hervor, ebenso wie Magiere. Dann seufzte er, den Blick auf die Ecke am vorderen Fenster gerichtet.

»Mein Pharo-Tisch«, flüsterte er.

Chap zwängte sich zwischen ihren Beinen hindurch und lief um den Kamin.

»Bist du inzwischen völlig taub, Caleb?«

Magiere hatte plötzlich einen Kloß im Hals. Die laute, schroffe Frauenstimme kam aus der Küche hinter dem Vorhang.

»Wie oft habe ich dir gesagt, du sollst keine Zwiebeln in die Suppe tun, wenn Karlin kommt! Du weißt doch, dass er Zwiebeln nicht ausstehen kann!«

»Ich habe seine Portion schon beiseitegestellt«, antwortete eine andere Stimme von der Treppe her. »Lass mich in Ruhe, Weib!«

Eine kräftig gebaute Frau, die ein altes violettes Kleid und eine fleckige Schürze trug, trat durch den Küchenvorhang und wollte sich der Treppe zuwenden, wie ein zorniger General, der es auf einen ungehorsamen Soldaten abgesehen hat. Doch auf halbem Weg blieb sie stehen und drehte sich um. Mit der einen Hand hatte sie einen langen Löffel geschwungen, und den hätte sie fast fallen gelassen, als sie sah, wer im Schankraum stand.

»Tante Bieja«, flüsterte Magiere.

Bieja eilte herbei und drückte Magiere so fest an sich, dass ihre Rippen knackten.

»Mein Mädchen … mein Mädchen!«

Das Haar ihrer Tante roch nach Moschus, und Magiere musste sich sehr beherrschen, um nicht in Tränen auszubrechen. Bieja war tatsächlich nach Miiska gekommen, wie Leesil immer wieder gesagt hatte.

Ihre Tante ließ sie los und bemerkte Leesil. Bevor er ausweichen konnte, umarmte sie auch ihn.

»Au!«, brummte er. »Nicht so fest. Ich freue mich ebenfalls, dich zu sehen.«

Bieja wich zurück und sah Chap, der zwischen den Tischbeinen zum Vorschein kam.

»Ah, der Unruhestifter ist noch bei euch.« Dann sah sie Wynn und Osha in der Tür.

Magiere ergriff Wynns Hand und zog sie herein. »Tante, dies sind Freunde: Wynn und Osha.«

Bieja verschränkte die Arme und musterte den großen Elfen in seinem Kapuzenmantel.

»Achte besser darauf, dass deine Ohren bedeckt bleiben, Osha«, murmelte Leesil.

Biejas Löffel traf ihn am Bauch. »Halt den Mund, Kobold!«

Schritte kamen von der Treppe. »Leesil!«

Die kleine Rose lief ihnen entgegen.

Hinter dem Mädchen kam Caleb die Stufen herab und machte große Augen, als er die Neuankömmlinge sah. »Magiere?«

Rose lief sofort zu Leesil und sprang ihm in die Arme. Leesil gab vor, sie kaum halten zu können.

»Du wirst immer schwerer!«

Rose war gewachsen, und ihr Musselinkleid wirkte ein wenig zu klein. Das kastanienbraune Haar war lang und dicht – sie wurde recht hübsch. Was abgesehen von Tante Biejas Präsenz einen Hinweis darauf bot, wie lange Magiere fort gewesen war. Die kleine Rose strich mit den Fingern über die verheilte Wunde auf Leesils Wange.

»Was ist mit deinem Gesicht passiert?«

»Erbitterte Kämpfe«, sagte Leesil mit einer Stimme voller Bedeutung und hob das Mädchen höher. »Ich erzähle dir beim Essen davon.«

»Nein, das wirst du nicht!«, warf Magiere ein.

»Nur die für Kinder geeigneten Geschichten«, erwiderte Leesil.

Caleb trat mit gebeugtem Rücken zu ihnen und nahm Magieres Hand. »Willkommen daheim!«

Daheim, dachte sie voller Erleichterung.

»Domin Tilswith?«, entfuhr es Wynn überrascht.

Sie ging an allen anderen vorbei, und Magiere bemerkte noch jemanden, der die Treppe herunterkam, einen hageren grauhaarigen Mann in einem alten silbergrauen Umhang.

Lächelnd betrat Domin Tilswith den Schankraum. In seinen grünen Augen funkelte es, als er seine Schülerin ansah.

»Ich habe erhalten Nachricht und mich sofort auf den Weg gemacht.«

Wynn eilte zu ihm, aber sie umarmten sich nicht. Stattdessen schüttelten sie sich die Hände, beide mit einem Lächeln.

Osha stand noch immer in der Tür, in den Armen die beiden Krüge mit der Asche der Toten. Er wirkte völlig verloren. Magiere fühlte sich schuldig, weil sie den jungen Elfen ganz vergessen hatte, aber bevor sie sich ihm zuwenden konnte, trat Tante Bieja auf ihn zu.

»Oh, ich weiß nicht, wo mein Mädchen euch immer wieder findet«, sagte sie und nahm ihn am Arm. »Komm und iss was. Wer so groß ist wie du, sollte nicht so dünn sein.«

Selbst ein Anmaglâhk konnte kaum etwas gegen Tante Bieja ausrichten. Osha vergaß, sich zu ducken, und stieß mit dem Kopf an den Türsturz.

Magiere zog Leesils Kopf ein wenig näher, während er noch immer Rose in den Armen hielt, lehnte die Stirn an seine und flüsterte:

»Wir sind zu Hause.«

Kurz vor Mitternacht gelang es Leesil schließlich, Bieja, Caleb und Rose ins Bett zu schicken. Osha stellte die beiden Krüge mit der Asche auf den Kaminsims.

Leesil wollte die Wiedersehensfeier nicht beenden, aber Domin Tilswith hatte den ganzen Abend geduldig gelächelt. Den alten Weisen erwartete ein ernsteres Gespräch, nachdem Leesil und Magiere das Gepäck hereinbrachten und Wynn Zitterpappel im Stall untergebracht hatte.

Sie setzten sich in der Küche an den Tisch, und Magiere wickelte die Kugel aus.

Leesil fragte sich, an welcher Stelle sie damit beginnen sollten, ihre Geschichte zu erzählen.

Chap schien den alten Weisen aufmerksam zu beobachten, als sich Tilswith das Artefakt aus der Nähe ansah.

»Dies Welstiel gesucht. Wo ihr es gefunden?«

»Weißt du, was es damit auf sich hat?«, fragte Magiere geradeheraus.

»Wo ihr es gefunden?«, wiederholte der Weise.

Das Belaskisch des Alten war ebenso schlecht wie das von Osha, vielleicht noch schlechter. Magiere, Leesil und Wynn schilderten ihm verschiedene Abschnitte ihrer Reise. Osha hörte zu, und Chaps Blick blieb auf Domin Tilswith gerichtet.

Leesil fragte sich argwöhnisch, welchen Grund der Hund dafür hatte, den alten Weisen nicht aus den Augen zu lassen.

Tilswiths Mund öffnete sich, als Magiere Li’kän erwähnte, den Reif, mit dem sie die Spitze aus der Kugel gezogen hatte, und die vielen Wassertropfen, die der Kugel entgegengeflogen und in ihrem gleißenden Licht verschwunden waren. Ihre unterschiedlichen Eindrücke von dem großen Wesen in der Höhle erwähnte sie nicht.

»Eô, âg-léak!«, entfuhr es Tilswith in seiner gutturalen Sprache. »Wynn, was wir getan?«

Sorge zeigte sich plötzlich in Wynns olivfarbenem Gesicht. »Weißt du, was die Kugel ist und woher sie kommt?«

Tilswith schüttelte den Kopf und wirkte plötzlich noch älter. »Nein. Aber sie mehr ist als nur Werkzeug. Große Macht. Der Ort, wo sie gefunden … so gut geschützt. Und lange geheim. Vielleicht wäre besser gewesen, sie dort zu lassen.«

Leesil glaubte, seinen Ohren nicht trauen zu können. »Nach allem, was wir durchgemacht haben? Sgäile starb, als er uns dabei half, die Kugel hierher zu bringen! Und du glaubst, wir hätten sie in der Höhle lassen sollen?«

Tiefe Falten bildeten sich in der Stirn von Domin Tilswith. »Ich nicht wusste …«

»Du die Kugel nicht sicher kannst aufbewahren?«, fragte Osha plötzlich.

Wynn musterte ihn überrascht.

Leesil stellte fest, dass der junge Elf den alten Weisen ebenso wachsam ansah wie Chap.

»Osha, es ist nicht so, dass …«, begann Wynn. »Der Domin meint bestimmt nicht …«

»Ich geglaubt habe, Kugel gut aufgehoben bei Weisengilde«, sagte Osha. »Ich das Schutzversprechen meines Lehrers übernommen habe, weil du gesagt hast, Kugel bei Weisen …«

Er suchte nach Worten und beendete den Satz auf Elfisch.

Wynn sah Leesil an. »Er glaubte, dass die Kugel bei den Weisen sicher sei, und bestimmt ist sie das auch …«

»Nicht sicher vor Anmaglâhk«, sagte Osha.

»Was?«, brachte Leesil hervor.

»Der Älteste Vater unbedingt haben will die Kugel«, fuhr Osha fort. »Er sogar Kastenbruder auf Kastenbruder gehetzt. Er keine Ruhe geben wird.«

»Wir haben die Frau im Sumpf entkommen lassen!« Leesil schrie fast. »Du hast gesagt, sie wäre nicht mehr gefährlich!«

»Dänvârfij keinen Unterschied macht!«, erwiderte Osha scharf. »Ihr Leben, ihr Tod, es keine Rolle spielt. Der Älteste Vater andere schicken wird. Zwei Monde, länger nicht, und er meine Kaste in Bewegung setzt.«

Osha wandte sich an Domin Tilswith.

»Weise nicht können Sicherheit geben vor Anmaglâhk. Sie Gelehrte sind, keine Wächter. Sie sterben, und meine Kaste Kugel nimmt.«

Leesil sah Magiere an, als erwartete er von ihr eine Lösung des Problems.

Sie stand auf und stützte die Hände auf den Tisch. Ihre Augen wurden dunkel, und Leesil hatte das Gefühl, als verlöre er den Boden unter den Füßen.

Mit einem Ruck drehte sich Magiere zur Hintertür um, stieß sie auf und stürmte nach draußen. Hinter ihr fiel die Tür wieder zu.

Leesil eilte ihr nach.

Als er nach draußen trat, war Magiere fort. Er sah hinter der Taverne und den angrenzenden Häusern nach, ohne eine Spur von ihr zu finden. Als er sich schließlich umdrehte, bemerkte er etwas Weißes auf der bewaldeten Landzunge, die sich ins Meer erstreckte.

Dort stand Magiere, die Ärmel ihres weißen Hemds flatterten in der Brise.

Frische, nach Salz riechende Luft wehte Leesil entgegen, als er an den Birken und Tannen vorbeilief.

Magiere blickte übers Meer, die eine Hand auf dem Mund, als wagte sie kaum zu atmen. Sie ließ die Hand sinken und sah ihn an, und ihr verlorener Blick bereitete Leesil Schmerzen.

»Was machen wir jetzt?«, flüsterte sie. »Tilswith nimmt die Kugel, wenn wir ihn darum bitten. Aber genauso gut könnte man frisches Fleisch ins Schafgehege werfen, um die Wölfe anzulocken.«

Leesil wollte, dass es endlich aufhörte. Es war ihnen schon zu viel abverlangt worden, und er hatte nicht die Kraft, jetzt nach einer Antwort zu suchen. Er schlang den Arm um Magiere und legte seinen Kopf an ihren. Die Wangen berührten sich.

»Nicht jetzt«, sagte er. »Wir sind gerade erst heimgekehrt. Ich möchte nicht über magische Kugeln, Weise oder die Anmaglâhk reden. Ich will nicht einmal darüber nachdenken!«

Magiere hob den Kopf, und das Verlorene verschwand aus ihren Augen. Sie sah ihn vorwurfsvoll an, wie immer, wenn er sich einer unangenehmen Realität verweigerte.

»Und worüber möchtest du reden?«, fragte sie.

Er hob die Hand zu ihrer Wange.

»Über unsere Hochzeit.«

Fünf Tage später folgte Leesil voller Unruhe Karlin Boigiesque zum neuen Lagerhaus am Hafen.

»Karlin … Magiere hält es für eine gute Idee«, sagte er. »Aber ich habe mir etwas anderes vorgestellt.«

»Es ist das einzige Gebäude in der Stadt, das Platz genug bietet«, beharrte Karlin. »Warte nur ab, Junge. Du wirst sehen.«

Der untersetzte, fast kahlköpfige Bäcker mit dem freundlichen Blick war ihr engster Freund in Miiska und inzwischen der neue Ratsvorsitzende. Im Sommer des vergangenen Jahres hatte Leesil das größte Lagerhaus der Stadt niedergebrannt, als Brenden und er versucht hatten, Magiere zu retten und drei Vampiren zu entkommen. Später hatten Magiere und er in Bela genug Geld für den Bau eines neuen Lagerhauses verdient.

Es bestand aus festem Kiefernholz, und für ein Lagerhaus wirkte es von außen recht beeindruckend, doch es war nicht unbedingt der Ort, an dem Leesil heiraten wollte. Magiere schien von der Idee recht angetan zu sein und meinte, auf diese Weise schlösse sich der Kreis. Wenigstens sollte die anschließende Feier im »Seelöwen« stattfinden.

»Nur zu, wirf einen Blick hinein«, sagte Karlin und öffnete die große Tür. »Wir haben gestern alles in Ordnung gebracht. Aria, Geoffry und Dariens Mutter haben den ganzen Morgen gearbeitet.«

Leesil trat ein – und staunte. »Bei den toten Göttern in den sieben Höllen!«

»Pass auf, was du sagst«, mahnte Karlin und lachte leise. »Dies ist jetzt ein heiliger Ort.«

Die hohen Ladeluken des Dachbodens standen offen, und das Licht der Nachmittagssonne strahlte herein. Alle Kisten waren weggebracht worden, nur Fässer standen an den Wänden; darauf standen Sträuße aus wilden Blumen, und über ihnen hingen Girlanden.

An der Rückseite bildeten saubere Musselinlaken einen Prospekt, und zu beiden Seiten davon stand jeweils ein von weißen Tüchern umhülltes Fass, darauf eine Vase mit Rosen. Zwischen den beiden Fässern und vor dem Prospekt war ein kleiner Tisch aufgestellt worden, auf ihm drei weiße Kerzen, ein Räucherstäbchen, eine Kohlenpfanne und ein sorgfältig zusammengerollter Streifen aus weißer Seide.

»Dort wirst du während der Zeremonie stehen«, sagte Karlin und legte Leesil eine große Hand auf die Schulter. »Bald treffen die ersten Gäste ein. Für eine Flucht ist es jetzt zu spät, Junge.«

Leesil atmete den Duft Hunderter von Blumen ein und hob den Kopf ins Licht der Sonne. Er konnte es gar nicht abwarten, dass Magiere vor dem Tisch an seine Seite trat.

Magiere hatte sich in ein Hinterzimmer des Lagerhauses zurückgezogen. Bieja hatte darauf bestanden, es in eine Art Ankleidezimmer zu verwandeln, und inzwischen bedauerte Magiere, ihr nachgegeben zu haben.

Aria und Bieja bemühten sich, ihr mit heißen Eisen Locken zu drehen. Magiere ließ es mit zähneknirschender Geduld über sich ergehen, und als sie es schließlich hinter sich hatte, eilten Aria und Bieja davon, weil noch eine andere Aufgabe auf sie wartete. Es erleichterte Magiere, allein zu sein, und sie trat vor den großen Spiegel.

Fast hätte sie sich selbst nicht wiedererkannt.

Magiere besaß nur ein Kleid, das dunkelblau war und von ihrer Mutter stammte. Es passte ihr gut und glich ihre Blässe aus. Bevor sie hineingeschlüpft war, hatte sie gebadet und auch das Haar gewaschen. Außerdem hatten Aria und Bieja ihr nicht nur Locken gedreht, sondern auch weißen Flieder ins Haar geknüpft.

»Wunderschön«, sagte jemand von der Hintertür her.

Magiere spannte die Muskeln, als säße sie in der Falle, drehte sich dann um und sah die sanft lächelnde Wynn.

»Ich weiß nicht«, sagte Magiere und betrachtete ihr Spiegelbild. »Ich sehe … seltsam aus.«

»Du kannst nicht in Lederrüstung und mit dem Falchion in der Hand heiraten.«

»Warum nicht?«

»Weil Leesil in Verzückung gerät, wenn er dich so sieht«, sagte Wynn und kam näher.

Ihr braunes Haar war hochgesteckt, und zwei lange Ringellocken hingen herab und umrahmten ihr Gesicht. Sie trug ein hellgrünes Kleid, das gut zu ihrer Hautfarbe passte und Magiere an kleine, fragile Geschöpfe in Kindergeschichten erinnerte, die auf den Rücken von Libellen flogen.

»Woher hast du das Kleid?«, fragte Magiere und freute sich zum ersten Mal, seit man sie in dieses Hinterzimmer geschleppt hatte.

»Deine Tante hat es für mich gekauft«, erwiderte Wynn verlegen. »Die Zeit genügte nicht, etwas für mich anfertigen zu lassen, und dies war das einzige fertige Kleid in meiner Größe. Ist mit der Farbe alles in Ordnung?«

»Ja.« Magiere nickte.

Sie standen nebeneinander vor dem Spiegel: Magiere groß und bleich, mit schwarzem Haar und in einem blauen Kleid; die kleine Wynn mit ihrer olivfarbenen Haut und dem hellgrünen Gewand.

»Wie feine Damen, die sich anschicken, zu einem Ball zu gehen«, flüsterte Wynn. »Nur gut, dass uns niemand vor einigen Wochen gesehen hat, als wir durch den Schnee gestapft sind und nur getrockneten Fisch zu essen hatten.«

Als Wynn getrockneten Fisch erwähnte, musste Magiere an Sgäile denken. Wynns Gedanken schienen ebenfalls zu ihm zurückzukehren, denn ihr Lächeln verschwand.

»Ist Osha bereit?«, fragte Magiere. Leesil hatte ihn als seinen Trauzeugen gewählt.

»Ja.« Wynn seufzte übertrieben. »Aber er hat darauf bestanden, seine eigene Kleidung zu tragen. Deshalb habe ich sie waschen und den Mantel ausbürsten lassen. Er sieht gut aus. Die Gäste haben sich versammelt, und Leesil wartet auf dich. Wir sollten gehen.«

Magiere schickte sich an, mit Leesil den Bund fürs Leben zu schließen, und das hatte sie mit einer solchen Zeremonie feiern wollen. Aber inzwischen fragte sie sich, ob es nicht besser gewesen wäre, alles etwas privater zu gestalten. Sie atmete mehrmals tief durch.

»Halt den Blick auf Leesil gerichtet«, sagte Wynn. »Dann kommt alles in Ordnung.«

Sie gingen hinaus und zum vorderen Eingang des Lagerhauses, wo Osha und Chap warteten.

Magiere vergaß alles andere in dem Moment, als sich Leesil umdrehte, sie sah und verblüfft die Augen aufriss. Mit Eitelkeit hatte sie nie etwas anfangen können, aber sein Gesichtsausdruck war all die Mühe wert.

»M… Magiere?«, stotterte er.

»Klapp den Mund zu, bevor du eine Fliege verschluckst«, sagte sie.

Er hatte sich ebenfalls herausgeputzt. Tante Bieja hatte ihm gerade noch rechtzeitig ein weites weißes Hemd genäht, und dazu trug er eine schwarze Hose. Die Stiefel waren geputzt, das weißblonde Haar im Nacken zusammengebunden.

Magiere nahm seinen Arm. »Bist du bereit?«

Er nickte und sah ihr noch immer in die Augen.

Osha trat von einem Bein aufs andere. Wynn eilte zu ihm, und der junge Elf starrte sie an, als sähe er sie zum ersten Mal.

»Siehst du, wie Magiere Leesils Arm genommen hat? Sie gehen zuerst hinein. Wir warten und folgen dann mit Chap.«

Chap jaulte und stellte die Ohren auf. Am vergangenen Abend hatte Wynn ihm das Fell gebürstet und seinem protestierenden Knurren keine Beachtung geschenkt. Sie hakte sich bei Osha ein und musste den Arm dafür ein wenig heben.

Magiere betrat das Lagerhaus zusammen mit Leesil, und ihr stockte der Atem, als sie all die Blumen im Sonnenschein sah. Sie wahrte die Haltung und schritt an Leesils Seite zum Tisch.

Domin Tilswith stand dort in seinem langen grauen Umhang. Ein dünner Rauchfaden stieg von einem Räucherstäbchen in der Kohlenpfanne auf. Es verblüffte Magiere, dass sich ihre Freunde mit den Vorbereitungen solche Mühe gemacht hatten.

Und das Lagerhaus war voller Menschen. In der Mitte hatten sie einen breiten Gang frei gehalten, und die vielen Gesichter schienen miteinander zu verschmelzen, als Magiere neben Leesil nach vorn ging.

Karlin und der Konstabler Darien Tomik standen beim jungen Geoffry und Aria. Selbst Loni, der elfische Inhaber des Gasthofes »Samtrose«, beobachtete das Geschehen interessiert. So viele waren gekommen, um an dieser Zeremonie teilzunehmen.

Magiere und Leesil traten vor Domin Tilswith. Chap blieb hinter ihnen stehen, und die beiden Trauzeugen Wynn und Osha verharrten rechts und links von ihnen. Tilswiths Belaskisch hatte einen starken Akzent, aber offenbar hatte er sich die Worte genau eingeprägt.

»Wir haben uns hier versammelt, um Zeuge zu werden, wie Magiere und Leesil den Bund fürs Leben schließen.«

Magieres Herz schlug schneller, als Tilswith sich vorbeugte und das seidene Band nahm.

»Streckt eure Hände aus«, sagte er.

Er band Leesils linke Hand locker an Magieres rechte. »Magiere, schwörst du, Leesil zu lieben, an seiner Seite zu stehen, ihn zu ehren und dich seiner anzunehmen, solange du lebst?«

Magiere sah Leesil an und sagte: »Ich schwöre.«

»Leesil, schwörst du, Magiere zu lieben, an ihrer Seite zu stehen, sie zu ehren und dich ihrer anzunehmen, solange du lebst?

Leesil erwiderte Magieres Blick. »Ich schwöre.«

Domin Tilswith zog das Band fort und nahm das Räucherstäbchen. Er hielt die Spitze an ein glühendes Kohlenstück und entzündete die beiden Kerzen.

Magiere nahm eine und Leesil die andere, und gemeinsam zündeten sie die Kerze in der Mitte an. Dann bliesen sie die Kerzen in ihren Händen aus und stellten sie auf den Tisch.

»Zwei Lichter sind jetzt eins«, verkündete Domin Tilswith. Er hob die eine Kerze. »Leesil und Magiere sind eins.«

Jubel erklang im Lagerhaus.

Wynn schwankte bei jedem Schritt. Vielleicht war der Boden des Schankraums ein wenig geneigt.

Die Feier im »Seelöwen« war zu einer … Feier geworden. An so etwas hatte sie nie zuvor teilgenommen.

Bieja hatte sich beim Festmahl selbst übertroffen, und jetzt schenkte sie Wein direkt aus dem Fass in Becher und Krüge. Domin Tilswith hatte schon zwei große Becher getrunken, und selbst Osha hielt einen in der Hand.

Wynn kannte Wein von besonderen Gelegenheiten und hatte ihn in kleinen Mengen getrunken. Sie hielt sich nicht für betrunken. Neben ihr war Leesil der einzige andere Nüchterne, denn er trank nur Gewürztee.

Die Hälfte der Tische und Stühle war aus dem Schankraum hinausgetragen worden, und Bieja hatte ihren Platz hinter der Theke verlassen, um mit Karlin zu tanzen. Mit Leibesfülle und Elan dominierten sie die Tanzfläche, bis sich ihnen das Hochzeitspaar hinzugesellte. Wynn versuchte, Osha einige Tanzschritte beizubringen, aber sie verstand selbst nicht viel vom Tanzen. Sie stieß gegen einen Stuhl, sank darauf hinab und zog Osha fast mit sich. Ja, der Boden war eindeutig schief; das musste der Grund sein.

Der »Seelöwe« war voller Menschen, und alle schienen Leesil und Magiere zu lieben, aber Wynn kannte kaum jemanden. Sie bemerkte, dass Osha mehrmals wachsame Blicke in Richtung des einzigen anderen anwesenden Elfen warf, aber seltsamerweise mieden sich die beiden.

»Magiere hat gesagt, dass er Loni heißt!«, rief Wynn Osha im Lärm zu.

»Er kein An’Cróan ist«, antwortete Osha.

Lonis Haar war hellbraun, und seine Augen hatten einen bernsteinfarbenen Ton. Er war nicht so groß wie Osha, doch die schrägen Augen und spitzen Ohren kennzeichneten ihn als vollblütigen Elfen. Der Hinweis, dass er kein An’Cróan war, machte Wynn nachdenklich.

Sie hatte Leesil und Magiere ein- oder zweimal über Loni sprechen gehört, aber als sie ihn nun sah, fielen ihr die Elfen ihres Heimatkontinents ein. Stammte Loni aus jenem Volk? Und was machte er hier, so weit von der Heimat entfernt?

»Wenigstens sind die hiesigen Leute an ihn gewöhnt und finden dich deshalb nicht seltsam«, sagte Wynn zu Osha.

Sie glaubte zumindest, es gesagt zu haben. Einige der Worte klangen nicht richtig, aber es lag zweifellos an dem Lärm. Wynn wollte sie wiederholen, doch plötzlich schien sich der ganze Raum zur Seite zu neigen und der Stuhl unter ihr zu kippen.

Außerdem war es schrecklich heiß.

Wynn hatte versucht, nicht zu oft an das Gespräch mit Domin Tilswith in der Küche zu denken, vor allem nicht an den Teil, nachdem Leesil Magiere nach draußen gefolgt war. Sie hatte sich vorgenommen, die beunruhigenden Neuigkeiten Magiere und Leesil erst nach der Hochzeitsfeier mitzuteilen.

Dieser Tag gehörte ihnen und ihrer Freude, und den wollte sie ihnen nicht verderben.

»Lass uns gehen nach draußen«, sagte Osha. »Hier es ist zu warm.«

Wynn nahm den Vorschlag dankbar an und folgte ihm durchs Gedränge zur Tür.

Die Nacht draußen bot angenehme Kühle. Sie blieben nicht vor der Taverne stehen, sondern gingen bis zum nahen Stall. Osha lehnte sich dort an die Tür, Wynn stand vor ihm und beobachtete, wie er schwankte.

»Mir ist … schwindelig«, sagte er und wischte sich Schweiß von der Stirn.

Er sprach auf Elfisch. Ganz offensichtlich vertrug Osha keinen Wein. Wynn konnte ein Kichern nicht zurückhalten.

»Ich fürchte, die Anmaglâhk würden dein heutiges Verhalten keineswegs gutheißen.«

Er sah sie ernst an. »Nein, das würden sie nicht, und es ist ein trauriger Gedanke.«

Wynns Lächeln verschwand.

»Dies war ein guter Tag«, fuhr Osha fort. »Die Menschen sind nicht so, wie man sie mir beschrieben hat. Selbst Sgäilsheilleache, der viel Zeit in diesen Ländern verbrachte, kannte sie kaum. Dann bist du gekommen.« Er wandte den Blick ab. »Sgäilsheilleache hätte heute neben Léshil stehen sollen, nicht ich.«

»Nein, Osha«, sagte Wynn. »Leesil trauert um Sgäile, aber es hat ihn gefreut, dass du sein Trauzeuge gewesen bist.«

Er sah sie an, und der Mondschein zeigte eine sonderbare Sehnsucht in seinem Gesicht.

Wynn torkelte und hielt sich neben Oshas Schulter an der Stalltür fest. Sein Gesicht war plötzlich sehr nahe, und neue Hitze erfasste die junge Weise.

Sie hätte gern gefühlt, was Magiere und Leesil fühlten. Sie hätte gern eine Person nahe gewusst, an der ihr etwas lag. Plötzlich dachte sie daran, dass sie Osha dazu bringen konnte, sich in sie zu verlieben. Sie brauchte ihm nur einen Kuss auf die weichen Lippen zu geben …

Auf einmal war ihr wieder zu heiß, und sie stieß sich von der Stalltür ab.

Nach all dem, was sie durchgemacht hatten, mochte sie Osha – aber liebte sie ihn? Bald würden sich ihre Wege trennen, und das war vielleicht besser so. Wynn wich noch einen Schritt zurück.

Osha musterte sie, bis sie es nicht mehr ertragen konnte.

»Wir sollten wieder hineingehen«, sagte sie. »Magiere fragt sich bestimmt, was aus uns geworden ist.«

Osha presste kurz die Lippen zusammen – war er enttäuscht?

Er richtete sich auf. »Ja, kehren wir zurück.«

Chap lag am Kamin und beobachtete, wie um ihn herum alle tranken, tanzten und lachten. Mehr als einmal hatte er zur Seite weichen müssen, um zu vermeiden, dass ihm jemand auf den Schwanz trat.

Wynn kam mit gerötetem Gesicht durch die Vordertür, schwankte und schaute sich um.

Als sie ihn sah, schlängelte sie sich durch die Menge und sank neben ihm etwas zu abrupt auf den Boden. Ihre Finger in seinem Fell fühlten sich gut an. Chap fragte sich, warum sie nicht mehr zusammen mit den anderen feierte.

Osha kam herein.

Er ließ seinen Blick durch den Schankraum wandern und entdeckte Wynn. Bevor er herüberkommen konnte, ergriff Tante Bieja seinen Arm und zog ihn dorthin, wo Karlin saß. Osha wirkte erfreut und sogar erleichtert, ihnen Gesellschaft leisten zu können.

Der junge Elf wird nie ein Anmaglâhk, prophezeite Chap.

»Hoffentlich nicht«, murmelte Wynn und rieb sich das Kreuz. »Obwohl er es sich so sehr wünscht. Osha weiß mehr über Menschen als die meisten anderen Angehörigen seiner Kaste. Vielleicht macht das einen Unterschied.«

Sie klang so traurig – und betrunken –, dass Chap den Kopf hob. Was ist los?

»Du, Magiere und Leesil … Ihr könnt hier nicht lange bleiben, oder?«

Chap seufzte und legte den Kopf auf die Pfoten.

Dieser Abend gehört ihnen, aber morgen … Nein, wir können nicht bleiben. Wir müssen wieder aufbrechen und uns so weit wie möglich vom Einflussbereich des Ältesten Vaters entfernen. Und selbst damit wird das Unausweichliche nur hinausgeschoben.

Wynn zog die Hand zurück.

»Domin Tilswith war … überwältigt von den Texten, die wir mitgebracht haben. In der Gildenniederlassung in Bela ist eine Übersetzung nicht möglich. Dort fehlt das notwendige Referenzmaterial, und der Domin kann sich nicht auf eine lange Reise begeben. Für ihn gibt es in Bela zu viel zu tun.«

Wynns Schweigen dauerte zu lange, und die Niedergeschlagenheit in ihrem Gesicht bot einen deutlichen Hinweis.

Du willst heimkehren und deinen Fund nach Malourné bringen, zum Hauptsitz der Gilde.

Es schien Wynn nicht zu überraschen, dass er Bescheid wusste. »Jemand muss die Texte dorthin bringen, zu den Leuten, die sie übersetzen können. Domin Tilswith hält es für das Beste, wenn ich mich auf den Weg mache; dann kann ich auch davon berichten, was wir bei unseren Reisen herausgefunden haben.«

Chap schob sich etwas näher. Er hatte gewusst, dass dieser Tag kommen würde, und jetzt galt seine Sorge erneut Wynns Sicherheit. Sie mochte in Gefahr geraten durch jene, die sich von den Texten Informationen über die Kugel in Magieres und Leesils Besitz erhofften. Chap dachte in diesem Zusammenhang auch an die Seinen.

Du bist jetzt Teil dieser Angelegenheit und nicht sicherer als wir anderen. Daher ist es besser, wenn auch du dieses Land verlässt.

»Was soll ich nur ohne dich anfangen?«, flüsterte Wynn.

Tränen glänzten in ihren braunen Augen. Chap wusste, dass sie in einer Gildenniederlassung am besten aufgehoben war, doch selbst dort gab es keine Sicherheit für sie.

Achte darauf, dass du in deiner Heimat von vielen Leuten umgeben bist. Mein Volk möchte sich Sterblichen nicht zeigen. Die Meinen schrecken davor zurück, sich an einem Ort zu manifestieren, wo man sie sehen könnte.

»Du weißt, dass etwas Dunkles auf uns zukommt«, sagte Wynn. »Nach dem, was du in der Höhle gespürt hast … Sind es deine Artgenossen? Stecken sie hinter dieser ganzen Sache?«

Darauf wusste Chap keine Antwort.

Nein. Es gibt noch etwas anderes, hinter ihnen. Und ich habe andere … Vorkehrungen getroffen, von denen ich hoffe, dass sie dir von Nutzen sein werden.

Ihm lag viel an Leesil und Magiere – er fühlte sich für sie verantwortlich, und sie gehörten zu dem Weg, den er beschritt. Doch nur mit Wynn konnte er »sprechen«. Vor ihr hatte er nicht gewusst, wie wichtig ein solcher Gefährte war.

Chap legte ihr den Kopf in den Schoß.

Fast sofort ließ Wynn sich auf ihn sinken, und trotz des Lärms hörte er bald ihr Schnarchen.

Lange nach Mitternacht lag Leesil im Obergeschoss des »Seelöwen« in einem warmen Bett und hielt Magiere in den Armen.

»Es war ein guter Tag«, flüsterte sie.

»Er hätte gar nicht besser sein können«, erwiderte Leesil. »Vor der Zeremonie bin ich ein wenig in Panik geraten, aber es war alles perfekt. Ich bin froh, dass wir damit bis zu unserer Heimkehr gewartet haben.«

Leesil drückte Magiere an sich. Er wollte nicht mehr sagen, aber schließlich rutschte es aus ihm heraus.

»Du weißt, dass wir nicht bleiben können.«

Sie schwieg einen Moment. »Ja, ich weiß. Wir können die Kugel nicht den Weisen geben. Wir dürfen nicht riskieren, dass der Älteste Vater seine Anmaglâhk deshalb hierherschickt oder nach Bela.«

»Auch darüber habe ich nachgedacht«, sagte Leesil.

Magiere wich ein wenig zur Seite und stützte sich auf den Ellenbogen. In ihrem schwarzen Haar steckten noch immer Reste von weißem Flieder.

»Was nun? Ich habe nicht vor, unser Leben an diesem Ort aufzugeben.«

Leesil schüttelte den Kopf. »Ich auch nicht. Domin Tilswith hat davon gesprochen, Wynns Texte zum Hauptsitz der Gilde zu bringen, aber er erwähnte auch Pläne für die Erweiterung der Gildenniederlassung in Bela. Ich glaube nicht, dass er die Texte selbst nach Malourné bringen will.«

»Du vermutest, dass er Wynn dort hinschickt?«

Leesil zuckte die Schultern. »Das erfahren wir morgen früh. Aber die Kugel von diesem Kontinent fortzubringen … Es würde bedeuten, dass es dem Ältesten Vater viel schwerer fällt, unsere Spur zu finden.«

»Wir müssen per Schiff reisen, von Bela aus«, fügte Magiere seufzend hinzu.

Leesil stöhnte leise, als er daran dachte. »In letzter Zeit habe ich oft über meine Vorstellung von einem Zuhause nachgedacht.«

»Und?«

»Mein Zuhause ist da, wo du bist.«

Magiere erhob sich auf Hände und Knie und sah ihm direkt in die Augen.

»Nein, unser Zuhause ist hier, wo wir es wollen!« Sie beugte sich so nahe, dass Leesil ihren Atem auf den Lippen spürte. »Aber es muss warten … noch einmal.«

Und dann küsste sie ihn.

Neun Tage später stand Wynn neben Osha am südlichen Ende des großen Hafens von Bela und beobachtete die vielen Schiffe. Ein Schoner hatte sie von Miiska zur Königsstadt gebracht, doch Magiere, Leesil und Chap waren im Gasthof geblieben.

Osha kehrte heim, aber nicht mit einem der Schiffe im Hafen.

Jenseits des Hafens, weit im Norden, schimmerten seidene Segel im Sonnenschein. Das Elfenschiff war größer als alle anderen, die Wynn bisher gesehen hatte, viel größer als jenes Schiff, das bei ihrer Reise nach Süden verbrannt war.

Irgendwo an der nördlichen Küste würde ein Ruderboot auf Osha warten.

Wynn hatte sich nicht im Gasthof von ihm verabschieden wollen und ihn deshalb zum Hafen begleitet, aber leichter wurde es dadurch nicht. Die Kapuze seines graugrünen Mantels war tief in die Stirn gezogen, doch sie sah seine großen schrägen Augen und den Kummer darin. Er wollte nicht gehen, und gleichzeitig sehnte er sich nach der Rückkehr in seine Heimat.

Vielleicht fürchtete Osha, was ihn dort erwartete. Und vielleicht hasste er es auch. Die Unschuld dieses jungen Elfen war zusammen mit seinem Lehrer gestorben.

Wynn wollte, dass er etwas für sie tat, wenn er seine Heimat erreichte. Sie holte ein kleines, in Papier gewickeltes Paket hervor und reichte es ihm.

»Wenn du zu Hause bist … Such Brot’an und gib ihm dies. Händige es nur ihm aus.«

Osha sah sie groß an. Wynn war die halbe Nacht im Gasthof aufgeblieben, um ihr kleines Tagebuch zu ergänzen, das sich in dem Paket befand. Es enthielt eine Schilderung ihrer Reise, und sie hatte den Beschreibungen gewisse Überlegungen und Vermutungen hinzugefügt.

»Niemand sonst darf dies sehen«, schärfte sie Osha ein. »Wenn du Brot’an nicht erreichen kannst, so bring das Paket zu Nein’a oder Gleann – die wissen vielleicht, wo er sich aufhält. Auf keinen Fall darf dies jemand anders bekommen. Verbrenn das Paket, wenn die Gefahr besteht, dass es in die falschen Hände fällt!«

Osha nahm es zögernd entgegen, und Wynn verstand sein Widerstreben. Worum sie ihn bat, lief fast darauf hinaus, seinen Kasteneid zu brechen. Sie hoffte nur, das er genug von seinem Lehrer Sgäile gelernt hatte.

Dabei dachte sie nicht an die Regeln der Anmaglâhk, sondern an die Werte und Traditionen des Elfenvolkes, die für Sgäile an erster Stelle gestanden hatten.

Osha nickte und steckte das Paket unter seinen Mantel.

Wynn wollte ihn umarmen, brachte es aber nicht fertig. »Ich werde weder dich vergessen noch all das, was du für uns getan hast.«

»Ich … ich …« Dem armen Osha war es immer schwergefallen, Worte zu finden.

»Ich weiß, schon gut«, sagte Wynn. »Geh!«

Er drehte sich um und ging an den Anlegestellen vorbei nach Norden.

Wynn sah ihm nach, bis Osha nur noch eine graue Gestalt war, die im Durcheinander aus Hafenarbeitern und Händlern aufragte. Als er schließlich ganz in der Menge verschwand, geriet die junge Weise plötzlich in Panik.

Wie oft war er zu ihr gekommen, um sie vor Unheil zu bewahren? Osha mochte auf den ersten Blick dumm und naiv wirken, aber das war er nicht. Er hatte gelernt, Wynn so zu sehen, wie sie wirklich war, nicht als einen der barbarischen Menschen, die Furcht und Hass verdienten.

Wynn lief los und bahnte sich einen Weg durch die Menge bei den Anlegestellen. Als sie schließlich einen graugrünen Mantel vor sich sah, griff sie danach und hielt ihn fest.

Osha drehte sich um, als er merkte, dass jemand an seinem Mantel zog.

Wynn musste sich auf die Zehenspitzen stellen, um ihm die Arme um den Hals zu schlingen, und sie drückte das Gesicht an seine Schulter.

»Vergiss mich nicht!«, flüsterte sie.

Seine langen Arme schlossen sich um sie.

Es war töricht und dumm, aber sie konnte nicht anders. Magieres Warnung verblasste neben dem Schmerz. Wynn hob den Kopf, suchte unbeholfen Oshas Mund und drückte ihre Lippen darauf.

Chane und Osha … und sie würde beide nie wiedersehen.

Wynn weinte, als sie sich von Osha löste und fortlief, ohne ihn noch einmal anzusehen. Anschließend war sie lange durch die Straßen von Bela unterwegs, und es dauerte eine Weile, bis sie schließlich zum Gasthof zurückkehrte.

Magiere drehte das Gesicht in den Wind, als der Kapitän befahl, den Anker zu lichten. Leesil klammerte sich bereits wie ein Sterbender an der Reling fest. Die Seekrankheit existierte nur in seinem Kopf, denn es waren noch nicht einmal die Segel gesetzt. Magiere wusste, dass ihm das Schlimmste noch bevorstand.

Die Kugel war sicher in ihrer Kajüte untergebracht.

Magiere hielt an ihrer Entschlossenheit fest, sie zu schützen, auch wenn sie den Einfluss des Artefakts auf sie verabscheute. Wenn die Kugel nicht gewesen wäre, hätte Leesil vermutlich schon in seiner Koje gelegen.

Chap richtete sich neben Wynn auf und legte die Pfoten auf die Reling. Beide beobachteten das geschäftige Treiben im Hafen von Bela.

Die Nachricht, dass Wynn nach Malourné zurückkehren wollte, hatte ihnen allen gemischte Gefühle beschert, insbesondere Chap. Wenigstens blieb die junge Weise unter seinem Schutz, aber es lagen viele Ungewissheiten vor ihnen.

Magiere wusste nicht, wohin sie die Kugel bringen würden. Es ging zuerst einmal darum, sie dem Zugriff des Ältesten Vaters zu entziehen. Deshalb würde es notwendig sein, dass sie sich von Wynn trennten – aber noch war es nicht so weit.

Leesil wankte zu Wynn und Chap, als das Schiff ablegte.

Erinnerungen stiegen in Magiere auf, an den Tag, als Leesil und sie nach Miiska gekommen waren und zum ersten Mal die Taverne »Zum Seelöwen« gesehen hatten, und an Bela, als Leesil sie zum ersten Mal geküsst hatte.

Sie erinnerte sich an Chap unter einem Tisch im Gildenhaus von Bela, wie er geknurrt hatte, als Wynn ihm Elfenschrift zeigte und beweisen wollte, dass er mehr war als nur ein Hund.

Sie erinnerte sich an Wynn, wie sie ihr die Stirn geboten und darauf bestanden hatte, dass sie ihren Proviant hungernden Bauern überließen.

Sie erinnerte sich daran, wie Chap über ein brennendes Deck gelaufen war und sich beim Feuer an Bord des Elfenschiffes gegen Leesil geworfen hatte.

Sie erinnerte sich an Sgäiles Leiche unter einer Weide.

Und an Leesils Gesicht bei der Hochzeit, als er gesagt hatte: »Ich schwöre.«

Magiere trat zu ihren Reisegefährten und zu ihrem Ehemann. Als sie mit den Fingern durch Leesils Haar strich, wusste sie nicht, was die Zukunft bereithielt. Nur eins war ihr klar: Sie musste die Kugel beschützen und auf jene vertrauen, die sie liebte.

Das Schiff segelte aufs offene Meer hinaus.