12

Sgäile erwachte benommen und schwach im ersten Licht des Tages und blieb ruhig liegen, bis sich die anderen rührten. Zu seiner Überraschung brannte das Feuer noch – jemand hatte während der Nacht Holz nachgelegt. Er setzte sich auf und sah Osha, der ein Stück entfernt saß und Wache hielt.

Sgäile sagte nichts, fragte sich aber, ob er in der vergangenen Nacht zu streng zu seinem jungen Schüler gewesen war.

Seine Hose war noch immer nass, aber inzwischen hatte das Feuer Umhang und Stiefel einigermaßen getrocknet. Als die Seeleute erwachten, brachte der Beginn des neuen Tages das Gefühl von größerer Sicherheit, und einige Männer kehrten zum Strand zurück. Bald brannten Lagerfeuer, und die Überlebenden machten sich auf die Suche nach Beeren und Muscheln. Sgäile beobachtete sie dabei, bis sich ihm der Hkomas näherte.

Im Morgenlicht sahen die Verbrennungen des Mannes schlimmer aus. Er zeigte keinen Schmerz, aber Sgäile wusste es besser.

»Wir marschieren am Ufer entlang«, sagte der Hkomas. »Der Wald ist hier dicht, und wir sind nicht weit von den Menschenländern entfernt. Je weiter wir nach Norden kommen, desto sicherer sind wir. Allerdings dürfen wir uns dabei nicht zu weit vom Wasser entfernen, damit unsere Schiffe uns finden.«

Sgäile zögerte. »Ich muss mit den mir Anvertrauten nach Süden reisen. So verlangt es mein Schutzversprechen.«

In den bernsteinfarbenen Augen des Hkomas blitzte es überrascht. Alle An’Cróan respektierten die Tradition des Schutzversprechens, aber vielleicht dachte der Hkomas, dass Sgäile vor allem dazu verpflichtet wäre, die Angehörigen seines eigenen Volkes zu schützen. Er runzelte die Stirn und wandte sich ab.

Sgäile seufzte und sah sich um. Wynn trug wieder weite Elfenkleidung und hatte die Hosenbeine hochgekrempelt. Sie und Osha suchten zusammen mit den Seeleuten nach Beeren, während sich Magiere und Léshil die Dinge ansahen, die sie vom nun untergegangenen Schiff mitgebracht hatten. Darunter befanden sich zum Glück die Geschenke des Chein’âs.

Magiere hatte sich den langen Dolch hinter den Gürtel gesteckt. Der Hkæda hatte Sgäiles Bitte erfüllt, einen Handgriff aus Holz und Leder gestaltet und sich gefragt, wie Magiere in den Besitz der Waffe gelangt war.

Chap lief bei den Männern umher, die nach Muscheln suchten. Er schnüffelte am Strand, und wenn er bellte, gruben die Leute dort, wo er stand. An diesem Morgen schienen Sgäiles Artgenossen nichts gegen die Präsenz des Halbluts oder des seltsamen Majay-hì zu haben. Sgäile wollte sich den anderen hinzugesellen, als die junge Bedienstete des Hkomas zu ihm trat.

»Ich heiße Avranvärd«, sagte sie.

»Ich weiß, wer du bist«, erwiderte Sgäile und zog die Stiefel an.

Die Augen der jungen Frau wurden ein wenig größer. »Kann ich dich sprechen … Sgäilsheilleache?«

Er zögerte. Etwas an Avranvärds Gebaren weckte Unbehagen in ihm.

»Natürlich«, antwortete er.

Sie deutete zum Rand der Lichtung, weg von den anderen. »Unter vier Augen.«

Sgäiles Unbehagen wuchs, als er der jungen Frau folgte, bis sie außer Hörweite der anderen waren. Zuerst mied sie seinen Blick.

»Ich muss dich bei deiner Reise begleiten«, sagte sie.

Sgäile musterte sie erstaunt. »Dein Platz ist bei den Seeleuten und dem Hkomas. Aber sei unbesorgt. Eins unserer Schiffe wird euch alle retten.«

Avranvärd schüttelte den Kopf. »Es geht mir nicht um meine Sicherheit. Ich … Der Älteste Vater hat mich beauftragt, die Menschen im Auge zu behalten und zu berichten.«

»Das ist unmöglich«, sagte Sgäile sofort. »Du bist kein Anmaglâhk.«

»Ich werde es sein.« Avranvärd sah ihn an. »Der Älteste Vater hat mir einen Auftrag gegeben. Ich muss dich begleiten.«

Es klang so aufrichtig und überzeugt, dass Sgäile ihr fast glaubte. Er fühlte, wie ihm das Blut aus dem Gesicht wich. Wie konnte der Älteste Vater eine junge Frau ohne Ausbildung in eine solche Situation bringen? Und warum sollte er jemanden beauftragen, über jene Personen Bericht zu erstatten, die unter Sgäiles Schutz standen, so als verdiente er kein Vertrauen?

Sorge zeigte sich in Avranvärds Gesicht. »Sgäilsheilleache?«

Er blickte auf sie hinab, bis sie unruhig zu werden begann.

»Hör mir gut zu«, sagte er und sprach möglichst ruhig. »Du wirst bei den Seeleuten bleiben und mit ihnen in unsere Heimat zurückkehren. Wenn nicht, sage ich dem Hkomas, was du getan hast, verstanden?«

»Aber … ich habe einen Auftrag … vom Ältesten Vater! Ich …«

»Du wirst nie wieder irgendeine Art von Auftrag bekommen, wenn die seefahrenden Clans erfahren, dass du jemanden ausspioniert hast. Deine Pflicht gilt dem Hkomas und der Besatzung!«

Sgäile nahm die junge Frau am Handgelenk und wollte sie mit sich zum Lagerplatz ziehen, aber nach drei Schritten befreite sie sich aus seinem Griff. Schmerz erschien in ihrem Gesicht, als sie den Kopf schüttelte, als wäre die Welt nicht mehr so, wie sie sein sollte. Dann drehte sich Avranvärd um und lief zum Strand.

Er hatte keine Zeit für zerbrochene Illusionen. Vielleicht verstand er jetzt, warum Brot’ân’duivé und andere Älteste der Kaste die Einsamkeit liebten. Die An’Cróan sahen in den Anmaglâhk ihre Beschützer, wussten aber nur wenig davon, was das Leben in der Kaste bedeutete.

Neue Fragen beschäftigten Sgäile.

Er hatte versucht, der wachsenden Feindschaft zwischen dem Ältesten Vater und Brot’ân’duivé keine Beachtung zu schenken. Offenbar verbanden beide eigene Erwartungen mit seiner gegenwärtigen Mission, ohne ihm etwas davon anzuvertrauen. Sgäile wusste nicht, wem er trauen sollte, und das machte ihn unsicher.

Alle Anmaglâhk mussten sich gegenseitig vertrauen können. Wenn nicht, litt das ganze Volk unter ihrer Uneinigkeit.

Er blickte über den Strand und entdeckte den Hkomas bei den versteckten Ruderbooten. Der Mann fragte sich bestimmt, warum zwei Anmaglâhk eine Gruppe gestrandeter Seeleute verließen, um stattdessen Menschen und ein Halbblut zu begleiten. Aber Sgäile konnte ihm nicht alles erklären.

Er näherte sich dem Hkomas. »Deine persönliche Bedienstete hat unter dem Verlust des Schiffes mehr gelitten als die anderen«, sagte er. »Achte während der nächsten Tage gut auf sie.«

Der Hkomas musterte ihn und schaute dann traurig übers Meer.

»Dass ich erleben musste, wie ein Päirvänean, Segen meines Clans, Menschen zum Opfer fällt … Ja, Avranvärd ist jung, und ein solcher Verlust mag für sie besonders schwer sein. Ich werde mich um sie kümmern.«

Sgäile nickte dankbar und kehrte zum Lagerfeuer zurück, doch der kurze Wortwechsel mit dem Hkomas vertrieb die Unruhe nicht aus ihm.

Magiere und Léshil hatten ihre Sachen neu verpackt und sprachen leise miteinander. Léshil hatte nur einige leichte Verbrennungen im Gesicht und an den Händen erlitten; ansonsten ging es ihm recht gut. Aber Sgäile erinnerte sich an die verbrannten Handschuhe Magieres – sie trug sie jetzt nicht mehr.

Ihre unbedeckten Hände waren bleich und makellos, ohne eine Spur von Verbrennungen.

Sgäile hob den Blick rasch zu ihrem Gesicht, aber sie schien nichts bemerkt zu haben. Sie trug Hose, Lederhemd und Mantel, griff nach einem Rucksack.

»Können wir los?«, fragte sie.

»Ja«, sagte er und sah sie noch immer an.

Der übliche mürrische Ausdruck erschien in Magieres Gesicht. »Was ist?«

»Nichts.«

Ein großer Seemann eilte herbei und blieb vor Sgäile stehen.

»Der Hkomas sagt, du reist nach Süden … mit den Menschen.« Der Seemann zog seinen dicken Mantel aus und reichte ihn Sgäile. »Nimm dies und auch meine Handschuhe. Ich brauche beides nicht, denn unser Volk wird kommen und uns holen.«

Der Mantel war dunkelbraun, nicht graugrün. Das Opfer des Mannes rührte Sgäile. Der Matrose kannte ihn nicht, sah in ihm nur einen verehrten Anmaglâhk.

»Das kann ich nicht annehmen.«

»Bitte«, sagte der Mann. »Erweise mir diese Ehre.«

Sgäile erinnerte sich an eine besondere Lektion seines Jeóin, seines Lehrers.

Was sind wir mehr, als unser Volk in uns sieht?

Damals war Sgäile jung und unwissend gewesen, voller Ehrfurcht seinem Lehrer gegenüber, und er hatte keine Antwort gewusst. Jahre später hörte er, wie Brot’ân’duivé diese Lektion bei einigen Initiaten wiederholte, die noch Jahre davon entfernt waren, sich ihren eigenen Jeóin zu suchen.

Wir sind mehr, wir sind weniger, hatte Brot’ân’duivé gesagt. Und wir sind nichts außer Stille und Schatten. Wir können nur die Hoffnung, die man in uns setzt, mit der Demut akzeptieren, die sie verdient.

Das war die Wahrheit hinter der Litanei der Anmaglâhk: in Stille und in Schatten.

Es ging darum zu dienen, ohne sich über oder unter den Dienst zu stellen, wie auch immer er aussah. Es kam darauf an, die Stille des Friedens zu sein, die den Dienst umgab, und aus den Schatten über ihn zu wachen.

Sgäile streckte langsam die Hand aus und nahm den Mantel und die Handschuhe. »Danke!«

Der Seemann lächelte erleichtert und ging wieder zum Strand. Doch diese von Ehrfurcht geprägte Geste war eine zusätzliche Bürde für Sgäile und bescherte ihm noch mehr Unsicherheit.

Am liebsten hätte er sich mit dem Wortholz davongemacht und mit dem Ältesten Vater gesprochen, um herauszufinden, warum ihm der Patriarch plötzlich nicht mehr vertraute. Dann dachte er an Brot’ân’duivés geheime Pläne und die Geschenke des Chein’âs für Léshil beziehungsweise Léshiârelaohk, wie ihn die Ahnen genannt hatten. Und ein Majay-hì, eins der alten Geschöpfe, setzte sich für ein Halbblut und ein bleiches Ungeheuer ein.

Sgäile sah zu viele Wege vor sich, und er musste einen wählen.

»Gehen wir jetzt oder nicht?«, fragte Magiere.

Sgäile drehte sich zum Strand um. »Chap, es wird Zeit!«

Vor gar nicht so langer Zeit hätte ihn die Vorstellung, einen heiligen Majay-hì bei seinem Namen zu rufen, regelrecht entsetzt.

Chap kam herbeigelaufen, und Wynn und Osha näherten sich ebenfalls. Der Majay-hì schaute zu den Lagerfeuern am Strand, über deren Flammen die Seeleute Muscheln kochten. Er jaulte leise.

»Wir frühstücken unterwegs«, versicherte ihm Sgäile.

Chap knurrte und lief los, und Magiere folgte ihm. Als sich auch Léshil in Bewegung setzte, bemerkte Sgäile, dass die Spitzen der Klingen aus seinem Gepäck ragten. Offenbar brachte er den neuen Waffen noch immer Unbehagen entgegen.

»Darf ich deine alten Klingen tragen?«, fragte Sgäile behutsam. »Die neuen sollten ihren Platz einnehmen, und ohne die alten sind deine Sachen weniger schwer.«

Léshil warf einen Blick über die Schulter. »Warum trägst du nicht die neuen?«

Es war mehr eine Herausforderung als eine Frage.

»Das könnte ich nicht.« Sgäile schüttelte den Kopf. »Sie wurden dir gegeben.«

»Ach, nun nimm sie endlich!«, zischte Magiere Léshil zu. »Du bist es doch gewesen, der darauf bestanden hat, dass ich den Dolch akzeptiere.«

»Die neuen Klingen passen nicht in die Scheiden«, sagte Léshil.

»Ich kann die notwendigen Veränderungen vornehmen, während wir unterwegs sind«, bot sich Sgäile an.

Magieres Stimme hatte verärgert geklungen, aber ihr Gesicht wirkte ruhig, als sie Léshil ansah.

»Es sind nur Waffen, mehr nicht«, sagte sie. »Du entscheidest, was du mit ihnen machst.«

»Na schön!«, knurrte Léshil und setzte seinen Rucksack ab. Er löste die Riemen der alten Klingen, nahm die neuen aus dem Rucksack und gab Sgäile alle Waffen, die alten wie die neuen.

Sgäile nahm sie entgegen, und Léshil schwang sich den Rucksack wieder auf den Rücken und folgte Magiere und Chap.

Sgäile zog Léshils alte Klingen aus den Scheiden und gab sie Osha. Dann nahm er sein Stilett und machte sich daran, die Scheiden zu verändern, während sie über den Strand wanderten.

Bei der Arbeit dachte er an die nächste Etappe ihrer Reise. Er hatte Magieres und Léshil unhöfliche Launenhaftigkeit satt. Ihre schlechte Stimmung war ansteckend, und Sgäile brummte leise vor sich hin, als er ins Leder der Scheiden schnitt.

Am Mittag wanderte Hkuan’duv unruhig übers Deck.

Avranvärd hatte sich am Morgen nicht mit ihm in Verbindung gesetzt, und er hatte angeordnet, dass sie erneut vor Anker gingen, weil er nicht wusste, wie weit das andere Schiff entfernt war. Seine Sorge wuchs immer mehr.

Dänvârfij lehnte an der Seitenwand und beobachtete ihn. »Kannst du nicht deinerseits Kontakt mit ihr aufnehmen?«

»Nein. Es würde vielleicht bedeuten, das der Hkæda und der Hkomas des anderen Schiffes sie als heimliche Berichterstatterin erkennen.«

»Dann hör auf damit, auf dem Rücken des Päirvänean herumzutrampeln«, sagte Dänvârfij. »Du störst ihn.«

Er sah sie an. Ihre Haut hatte die Farbe von Tee mit Ziegenmilch. »Etwas stimmt nicht.«

»Ich weiß, dass wir nicht bemerkt werden dürfen«, sagte Dänvârfij. »Aber wenn wir die Spur des anderen Schiffes verlieren, können wir unsere Aufgabe nicht mehr erfüllen.«

»Informiere den Hkomas«, sagte Hkuan’duv. »Aber sorg dafür, dass wir uns vorsichtig nähern.«

Dänvârfij stieß sich von der Seitenwand ab und ging zum Achterschiff.

Hkuan’duv blickte wieder zur Küste und fühlte sich von seiner Aufgabe überfordert. Er war nicht daran gewöhnt, sich vor seinem Volk und sogar vor Angehörigen der Kaste zu verstecken.

Kurhkâge kam durch die Luke vor dem Vorschiff, gefolgt von A’harhk’nis. Letzterer wirkte wie üblich spindeldürr in dem zu großen Mantel. Kurhkâge sah Hkuan’duv mit seinem einen Auge an.

»Hast du eine Nachricht erhalten?«, fragte er.

Hkuan’duv schüttelte den Kopf. »Wir müssen allein versuchen, das andere Schiff zu finden.«

Dänvârfij kehrte zu ihnen zurück, und zu viert gingen sie zum Bug und blickten über das vor ihnen liegende Meer. Mehrere Besatzungsmitglieder beobachteten sie, aber niemand von ihnen sprach ein Wort. Der Hkomas hob seine Stimme und erteilte Anweisungen.

A’harhk’nis sah in die Takelage hoch. »Ich sollte den Ausguck ersetzen und selbst Ausschau halten«, sagte er leise.

Hkuan’duv nickte. »Ja, gute Idee.«

A’harhk’nis stieg auf die Seitenwand, griff nach dem Seil zum Hauptmast und kletterte hoch.

Seine scharfen Augen sahen vielleicht nicht mehr als die des Besatzungsmitglieds oben im Korb, aber vermutlich konnte er besser abschätzen, ob sie sich dem anderen Schiff zu schnell näherten.

Die Zeit verging, und kein Ruf erklang vom Mastkorb.

»Und wenn das Mädchen entdeckt wurde?«, fragte Kurhkâge. »Wie würde Sgäilsheilleache darauf reagieren?«

Hkuan’duv wandte sich vom Bug ab und wollte diese Frage nicht beantworten. Wie hätte er selbst darauf reagiert, wenn seine eigene Kaste jemanden beauftragte, ihn zu überwachen? Der Gedanke war ihm sehr unangenehm, und er schob ihn beiseite. Er musste sich auf diese Mission konzentrieren, zum Wohle seines Volkes.

»Greismasg’äh!«, erklang oben A’harhk’nis’ Stimme. »Sieh zum Strand!«

Hkuan’duv beugte sich über die Seitenwand.

Hochgewachsene Gestalten liefen über den Strand und wurden deutlicher, als sie sich näherten. Selbst auf diese Entfernung schien ihr Haar im Licht der Nachmittagssonne zu leuchten. Hkuan’duv begriff, dass er es mit An’Cróan-Seeleuten zu tun hatte, aber sie befanden sich an Land. Wo war ihr Päirvänean?

»Sind Fremde bei ihnen?«, rief Hkuan’duv nach oben.

»Nein. Ich sehe nur An’Cróan.«

Während um sie herum die Stimmen des Hkomas und der Besatzungsmitglieder erklangen, bereiteten sie ein Ruderboot vor. Mehrere Personen an Land bemerkten das Schiff und winkten.

Hkuan’duv sprang von der Treppe des Vorschiffs herunter und eilte zur Seitenwand, als das Ruderboot zu Wasser gelassen wurde.

»Komm herunter, A’harhk’nis!«, rief er.

Er spähte übers Meer, fand aber nirgends Anzeichen eines anderen Päirvänean. Was war aus Sgäilsheilleache, Osha und den Menschen geworden?

Als das Schiff vor Anker ging, trat Hkuan’duv durch die Lücke in der Seitenwand und griff nach der Leine des Ruderboots. Der Hkomas eilte herbei und riss sie ihm aus der Hand.

»Dies ist nicht länger deine Angelegenheit«, sagte er. »Angehörige unseres Volkes sind gestrandet. Sie haben Vorrang vor deiner Verfolgung.«

Hkuan’duv hätte fast seinem Ärger nachgegeben. Aber der Hkomas hatte recht, und sein scharfer Ton war verständlich – wer konnte es ihm verdenken? Anmaglâhk hatten die Kontrolle über sein Schiff übernommen, um wie hinterhältige Ylladoner ihre eigenen Leute zu verfolgen.

»Ich muss herausfinden, was geschehen ist«, sagte Hkuan’duv. »So schnell wie möglich.«

»Dann kannst du meine Besatzungsmitglieder begleiten, Greismasg’äh.«

Die Worte des Hkomas wiesen deutlich darauf hin, wer jetzt das Kommando hatte.

»Du kannst deine Fragen stellen«, fügte der Hkomas hinzu. »Solange du nicht das Wohlergehen der Gestrandeten beeinträchtigst.«

Hkuan’duv nickte langsam und bedeutete seinen Gefährten, an Bord zu warten. Dann kletterte er ins Ruderboot hinab.

Als sich das kleine Boot dem Ufer näherte, wateten zwei der erschöpft wirkenden Gestrandeten ins Wasser, um es an Land zu ziehen. Hkuan’duv bemerkte bei den Seeleuten Verbrennungen und andere Verletzungen, und ein Knoten entstand in seiner Magengrube. Er zählte die Leute auf dem Strand und verglich ihre Anzahl mit der Größe einer normalen Besatzung – etwa ein Viertel fehlte.

Ein Mann in mittleren Jahren und mit braunem Kopftuch näherte sich. Gesicht und Arme wiesen schlimme Brandwunden auf.

»Anmaglâhk?«, brachte er überrascht hervor. »Wie habt ihr uns so schnell erreicht? Hat euch Sgäilsheilleache benachrichtigt?«

»Bist du der Hkomas?«, fragte Hkuan’duv. »Wo ist euer Schiff? Wo ist Sgäilsheilleache?«

Die Fragen klangen kalt, selbst für Hkuan’duvs Ohren.

»Wir haben vom Überfall auf eine unserer Siedlungen gehört, stießen auf ein ylladonisches Schiff und nahmen die Verfolgung auf.« Der Hkomas zögerte. »Doch die Ylladoner flohen nicht etwa, sondern griffen uns an. Der Päirvänean … verbrannte.«

Hkuan’duv starrte den Schiffsführer ungläubig an.

»Unser Hkæda schickte einen Schwimmer, der das ylladonische Schiff versenkte«, fügte der Hkomas hinzu.

»Ihr hattet Schwimmer an Bord eines Frachtschiffes?«, fragte Hkuan’duv und fuhr gleich fort, bevor der Hkomas antworten konnte. »Was ist mit Sgäilsheilleache?«

Das Gesicht des Hkomas verfinsterte sich; ein solches Gespräch schien er nicht erwartet zu haben. »Er machte sich mit den Menschen und dem Majay-hì am Ufer entlang auf den Weg nach Süden.«

»Zu Fuß?«

»Ja, zu Fuß«, schnauzte der Mann. »Wie denn sonst?«

Hkuan’duv fühlte sich von Verlegenheit erfasst, als er die verhärmten und verbrannten Gesichter der An’Cróan sah, die Furcht in ihren Augen. Ihr Schiff war umgebracht worden, und ein Viertel von ihnen mit ihm, während er hinter dem Horizont auf eine Nachricht von Avranvärd gewartet hatte. Sie musste während des Kampfes gestorben sein; andernfalls hätte sie bestimmt Kontakt mit ihm aufgenommen.

»Ihr habt mein Mitgefühl«, sagte er, und es kam von Herzen. »Wir nehmen alle an Bord und bringen sie heim.«

Der Hkomas schloss die Augen und nickte.

Zuerst gingen die an Bord des Ruderboots, deren Verletzungen besonders schlimm waren. Hkuan’duv watete in die Brandung, als zwei weitere Boote eintrafen. Er zog eins ans Ufer und half den Gestrandeten beim Einsteigen. Als der Letzte an Bord war, ergriff Hkuan’duv die Hand des Hkomas.

»Andere aus meiner Kaste sind an Bord des Schiffes. Bitte sag ihnen, dass ich hier auf sie warte und sie unsere gesamte Ausrüstung mitbringen sollen. Bitte gib ihnen so viele weiße Planen oder weißen Stoff mit, wie du entbehren kannst. Ich wünsche dir eine sichere Reise und Frieden.«

Der Hkomas nickte. »Das wünsche ich dir ebenfalls. Wohin auch immer dich die Reise führt.«

Hkuan’duv blieb allein am Strand zurück und beobachtete, wie sich die Ruderboote dem Schiff näherten. Er glaubte sich allein, aber … war er das wirklich?

Er hörte Schritte hinter sich und drehte den Kopf.

Das Geräusch wurde mehrmals leiser, als bemühte sich die näher kommende Person um Heimlichkeit. Hkuan’duv wandte sich erst um, als er den dilettantischen Schleicher in Reichweite wusste – und sah sich einer jungen Frau mit dickem Zopf und zu großen Stiefeln gegenüber.

»Ich bin Avranvärd«, sagte sie hastig.

Hkuan’duv ließ sich seine Überraschung nicht anmerken.

»Warum bist du nicht zusammen mit den anderen an Bord gegangen?«, fragte er.

Die junge Frau zögerte kurz. »Ich gehöre zu dir …«

»Warum hast du dich nicht mit mir in Verbindung gesetzt?«

»Es geschah alles so schnell«, sagte sie mit Schmerz in der Stimme. »Ich war an Deck, und überall brannte es, und ich konnte nicht einfach meine Pflichten vernachlässigen, um dir eine Mitteilung zu schicken. Ich … ich habe versucht zu helfen, aber es stand alles in Flammen.«

Hkuan’duv atmete tief durch. Diese junge Frau traf keine Schuld. Sie war keine Anmaglâhk und hätte nie einen solchen Auftrag bekommen dürfen.

»Schon gut«, sagte er. »Du hast dich um deine Pflichten gekümmert. Etwas anderes konnte niemand von dir erwarten.«

Er wartete, während sich Avranvärd fasste.

»Kannst du mir mehr darüber sagen, was geschehen ist?«

Sie schniefte und schilderte die Ereignisse, beginnend bei der ersten Sichtung des ylladonischen Schiffes. Sie erwähnte das seltsame Verhalten von Magiere und des Majay-hì, berichtete von der Elfin, die mit dem Kopf nach unten am Rumpf gehangen hatte, bis das Seil durchgeschnitten wurde. Woraufhin Sgäilsheilleache von Bord gesprungen war, um die Frau zu retten. Weitere Details konnte Avranvärd nicht nennen, da sie viel zu sehr damit beschäftigt gewesen war, gegen das Feuer an Bord zu kämpfen.

Hkuan’duv hörte sich alles geduldig an.

»Als wir auf dem Strand waren, ließ uns Sgäilsheilleache im Stich!«, fügte Avranvärd hinzu. »Ich habe ihm gesagt, wer ich bin und dass der Älteste Vater mir einen Auftrag gegeben hat. Aber er wies mich zurück und brach mit den Menschen auf.«

Hkuan’duv zögerte. »Hast du ihm von mir erzählt?«

Avranvärd straffte die Schultern. »Natürlich nicht. Mein Auftrag bestand darin, zu beobachten und Bericht zu erstatten, mehr nicht. Aber jetzt bin ich hier, von allem abgeschnitten.«

»Sei unbesorgt. Kehr zu den anderen zurück. Bald bist du wieder zu Hause.«

Avranvärd starrte ihn groß an. »Aber … ich bin bei dir. Ich habe genau das getan, was der Älteste Vater von mir erwartete.«

Hkuan’duv wusste nicht, welche Antwort er geben sollte. Was war dieser jungen Frau versprochen worden?

»Wir müssen schnell unterwegs sein«, sagte er. »Meine Gefährten und ich reisen nach Süden. Du kehrst mit dem Schiff zurück.«

»Nein!« Avranvärd schrie fast. »Ich will Anmaglâhk werden! Der Älteste Vater hat es mir versprochen! Ich helfe dir dabei, Léshil und den Menschen zu folgen.«

Hkuan’duv wollte nicht die dafür notwendigen Fähigkeiten beschreiben, die Avranvärd nicht besaß. Doch nach allem, was sie getan und hinter sich hatte, tat sie ihm leid.

Die Kaste würde diese egoistische, trotzige junge Frau nie als Initiatin akzeptieren. Sie war schlicht und einfach ungeeignet. Wie konnte der Älteste Vater einer solchen Person die Ausbildung zur Anmaglâhk versprechen?

Auf jene Lüge griff Hkuan’duv zurück, um Avranvärd vor sich selbst zu schützen.

»Wenn du Anmaglâhk werden willst, musst du die Anweisungen der Älteren deiner Kaste befolgen«, sagte er. »Schließ dich den anderen Besatzungsmitgliedern an und kehr mit ihnen heim.«

»Nein!«, entgegnete Avranvärd zornig. Dann duckte sie sich und sah ihn wie ein verstocktes Kind an, das seine Unartigkeit bereut.

»Soll ich dich zum Schiff bringen?«, fragte Hkuan’duv.

Avranvärd presste die Lippen zusammen und ballte die Fäuste, doch ihre Augen glänzten feucht. Bevor sich Tränen aus ihnen lösen konnten, wandte sie sich ab.

Hkuan’duv schwieg, als ein Ruderboot vom fernen Schiff zurückkehrte und seine Gefährten brachte. Ein Teil von ihm bedauerte, die junge Frau zurückweisen zu müssen – immerhin hatte er wichtige Informationen von ihr bekommen. Aber er hätte ihr keinen guten Dienst erwiesen, wenn er jetzt auf sie eingegangen wäre. Und ihr jetzt Trost zuzusprechen … Damit hätte er sie vielleicht noch mehr verletzt.

A’harhk’nis, Kurhkâge und Dänvârfij sprangen aus dem Boot und zogen es ans Ufer.

Avranvärd blieb so reglos und still wie die Kieselsteine am Strand. Als sich Hkuan’duvs Gefährten mit der Ausrüstung näherten, kletterte die junge Frau schließlich an Bord, und zwei Seeleute schoben das Boot ins Wasser.

»In Stille und in Schatten!«, rief Hkuan’duv ihr nach.

Sie drehte sich nicht um und verzichtete darauf, den Gruß zu erwidern.

»Was hatte das zu bedeuten?«, fragte Dänvârfij und sah Avranvärd nach.

»Nichts«, sagte Hkuan’duv.

Es geschah zum ersten Mal, dass er Dänvârfij anlog. Er war beauftragt, Angehörige seiner Kaste zu verfolgen – und vielleicht zu verraten –, unter ihnen den ehrenwerten Sgäilsheilleache. Hinzu kam das heuchlerische Versprechen des Ältesten Vaters einem unreifen Mädchen gegenüber. Vermutlich hatte sich Avranvärd schon einmal vergeblich um Aufnahme in die Kaste bemüht. Aus welchem anderen Grund hatte man ihr diesen sonderbaren Auftrag gegeben, an den sie sich so verzweifelt klammerte?

Hkuan’duv schob die Zweifel beiseite.

Der Älteste Vater dachte immer in erster Linie an das Wohlergehen des Volkes. Wenn er solche Entscheidungen getroffen hatte, so gab es bestimmt gute Gründe dafür.

»Sgäilsheilleache wird so lange wie möglich an der Küste bleiben«, sagte A’harhk’nis. »Wenn er und seine Begleiter ein Ziel in den Bergen haben, müssen sie erst zum Ende der Klingenberge. Sie haben uns gegenüber mehr als einen halben Tag Vorsprung.«

Eine vernünftige Einschätzung der Situation. »Dann lasst uns alsbald aufbrechen«, sagte Hkuan’duv und wandte sich im Laufschritt nach Süden.

Einmal sah er zum Schiff zurück, dem lebenden Päirvänean auf dem Meer. Jenes gelbbraune Schiff trug eine junge Frau mit einem zweimal zerstörten Traum.

Wynn versuchte, ihre Erleichterung zu verbergen, als Sgäile entschied, das Lager aufzuschlagen.

Nach all den Tagen an Bord des Schiffes fiel es ihr unerwartet schwer, den ganzen Tag zu laufen. Schon gegen Mittag hatten ihr die Knie gezittert, und als der Abend dämmerte, konnte sie kaum mehr mit den anderen Schritt halten. Was alles noch schlimmer machte: Sie schien die Einzige mit solchen Problemen zu sein.

Leesil war nur zu froh, wieder festen Boden unter den Füßen zu haben, und Magieres Besessenheit schien noch stärker geworden zu sein. Sgäile hatte sie tagsüber mehrmals aufgefordert, langsamer zu gehen. Selbst für Chap war es nicht einfach, vor ihr zu bleiben.

Wynn ging hinter den anderen und hatte sie beobachtet. Manchmal schienen sich ihre kummervollen Erinnerungen an die vergangene Nacht in ihren Gesichtern widerzuspiegeln. Sosehr sie sich auch bemühte, Wynn konnte die Bilder von Feuer und Rauch nicht aus sich verbannen. Immer wieder sah sie vor dem inneren Auge, wie das ganze lebende Schiff in Flammen aufging.

»Halt!«, rief Sgäile. »Lasst uns ein Lager aufschlagen.«

Die ganz vorn marschierende Magiere wirbelte herum. »Es dauert noch eine Weile, bis es dunkel wird!«

»Wir müssen Vorbereitungen treffen, bevor wir die Berge erreichen«, sagte Sgäile. »Wir müssen notwendige Dinge sammeln, nicht nur heute, sondern auch während der nächsten Tage.«

Leesil nahm dankbar den Rucksack ab. »Er hat recht. Helft mir, ein Feuer zu entzünden.«

Er griff nach Magieres Hand. Sie atmete einige Male tief durch und ließ sich dann von ihm mitziehen.

Osha legte ihr Gepäck neben einem umgestürzten Baum oben am Strand ab. Zusammen mit dem Elfen hockte sich Wynn hinter den Baumstamm, der vor dem Wind schützte.

»Dies ist ein guter Lagerplatz«, sagte sie.

Osha nickte, beobachtete dann Leesil und Magiere. Wynn machte sich daran, Ausrüstung und Vorräte zu überprüfen.

Bisher hatte sie keine Gelegenheit gehabt festzustellen, was Leesil vom Schiff gerettet hatte. Gleanns Geschenke – elfischer Federkiel, Tinte und Pergament – waren angeblich in einem der Rucksäcke.

Chap kam und setzte sich neben sie.

Wynn betrachtete die Ärmel ihres Mantels. Sie hatte ihn einige Male getragen, um Magiere zufriedenzustellen, aber das Kleidungsstück fühlte sich zu schwer an. Chanes Mantel hatte sie im Feuer verloren.

Was ist mit dem Kaltlampen-Kristall?

Sie blinzelte, als Chaps Frage plötzlich in ihrem Kopf erschien, und griff in die Tasche des Elfenumhangs.

»Ich habe ihn«, sagte sie.

Osha richtete einen verwirrten Blick auf sie und vermutete sicher, dass die Worte ihm galten.

»Schon gut«, sagte Wynn. »Es ist nichts weiter.«

Er nickte und ging los, um Feuerholz zu sammeln.

Kurze Zeit später kniete Sgäile beim Gepäck hinter dem Baumstamm und beugte sich zu Wynn. Sein Gebaren hatte sich seit ihrer ersten Begegnung verändert, aber er war in ihrer Nähe noch immer reserviert.

»Haben wir einen Kochtopf?«, fragte er.

Zusammen packten sie die Rucksäcke aus. Wynn fand einen großen Beutel mit Kräutertee, einige Feuersteine, mehrere Rollen dünnes Seil aus einem seidenartigen Material und drei Wasserflaschen, aber nur zwei Holzbecher.

»Ah, hier«, sagte Wynn und holte einen kleinen Topf hervor. »Wir können Tee kochen, aber unser Vorrat an Wasser ist begrenzt.«

»Unterwegs finden wir Bäche. Weiter oben in den Bergen müssen wir Schnee schmelzen, um Trinkwasser zu bekommen.«

Wynn sah sich die anderen Gegenstände an. Viel war es nicht.

»Leesil hat Planen und zwei kleine Decken mitgenommen.« Sie seufzte. »Aber keinen Proviant. Und Magiere hatte alles so sorgfältig vorbereitet … Niemand von uns konnte damit rechnen, dass wir überstürzt ein untergehendes Schiff verlassen müssen.«

Sgäile griff unter seinem Mantel nach hinten und holte ein zusammengefaltetes grüngraues Etwas hervor. Als er es schüttelte, wurde ein recht großer Zugbeutel daraus.

»Komm«, sagte er. »Feuer wird in den Bergen ein größeres Problem sein als Wasser.«

Wynn wusste nicht, wie er das meinte, folgte ihm aber in den Wald. Chap schloss sich ihnen an.

Die Landschaft war auf eine herbe Art und Weise reizvoll. Weiter unten rollten schaumgekrönte Wellen an den Strand. Fichten und Espen wuchsen an den Hängen der Vorberge, und weiter oben bemerkte Wynn Rotholzbäume. Im Westen ragten die schneebedeckten Gipfel der Klingenberge auf. Als die junge Weise nach Süden sah, glaubte sie, in der Ferne das Ende jenes Gebirges zu erkennen. Irgendwo dort mussten sie sich einen Weg in die Pockenhöhen suchen.

»Sieh nur«, sagte Sgäile und ging in die Hocke.

Wynn trat zu ihm und bemerkte Tierkot vor dem Stamm einer Espe.

»Von einem Hirsch?«, fragte sie. »Willst du auf die Jagd gehen?«

»Nein. Ich suche Muscheln bei den Felsen am Ufer. Du sollst solchen Kot suchen und ihn in den Beutel legen.«

»Wie bitte?«, erwiderte Wynn.

»Wenn Osha oder ich Zeit finden, helfen wir dir«, fügte Sgäile hinzu. »Wir müssen jeden Abend Kot sammeln, solange wir Gelegenheit dazu haben, und wir trocknen ihn am Feuer.«

Wynn rümpfte die Nase. »Ich soll … Dung sammeln?«

»Ja«, bekräftigte Sgäile. »Magieres knappe Beschreibungen deuten darauf hin, dass sich unser Ziel weit oberhalb der Baumgrenze befindet, und dort gibt es kein Brennmaterial. Der Kot von Pflanzenfressern kann verbrannt werden, und das könnte unsere einzige Wärmequelle sein.«

»Oh, ich verstehe«, sagte Wynn, was die Aufgabe aber nicht angenehmer machte. Sie sank vor der Espe auf die Knie und rief: »Chap, jetzt kannst du dich mit deiner Nase nützlich machen.«

Chap stimmte ein klagendes Jaulen an, begann aber damit, am Hang zwischen den Bäumen zu schnüffeln. Als Wynn aufsah, war Sgäile nicht mehr da. Mit Zeigefinger und Daumen nahm sie den ersten Dungbrocken und ließ ihn schnell in den Beutel fallen.

Sie sammelte Tierkot, bis es dunkel zu werden begann. Immer wieder wies Chap sie mit kurzem Bellen darauf hin, wo sich Dung befand. Trotzdem blieb der große Beutel fast leer.

Als sie zum Ufer zurückkehrten, hielt sie vergeblich nach dem Lager Ausschau. Sie spähte in beide Richtungen, entdeckte im Norden den umgestürzten Baum und ging zusammen mit Chap los. Als sie nur noch einen Steinwurf vom Lagerplatz entfernt war, blieb sie abrupt stehen.

Sgäile und Osha standen vornübergebeugt im hüfthohen Wasser, hinter einem Felsen, wo die Brandung nicht so stark war. Sie waren bis zur Taille nackt – ihre Mäntel und Umhänge lagen am Strand. Neben den Kleidungsstücken zappelten silbrige Fische auf dem Trocknen.

Die beiden Elfen standen vollkommen still, mit den Händen dicht unter der Wasseroberfläche. Das blonde Haar fiel ihnen offen über die Schultern.

Plötzlich streckte Osha die Arme tiefer ins Wasser.

Als er sich wieder aufrichtete, hielt er einen flachen grauen Fisch in den Händen. Rasch watete er ans Ufer und warf die gefangene Flunder auf den Kies.

»Wie viele?«, fragte er auf Elfisch.

Wynn zuckte zusammen und eilte dann zu den zappelnden Fischen. »Äh … acht.«

Osha war bereits zu Sgäile zurückgekehrt, und die beiden Elfen sprachen so leise miteinander, dass sich ihre Stimmen im Rauschen der Brandung verloren.

Wynn starrte noch immer. Osha erschien ihr anders, weniger unbeholfen, fast anmutig im Wasser, das sich um ihn herum hob und senkte; er fing Fische mit bloßen Händen. Schließlich drehten sich beide Elfen um und kehrten an Land zurück.

Eine seltsame Unruhe erfasste Wynn, als sie Osha wie einen Fremden sah. Halb nackt, das lange seidene Haar nass – er wirkte so …

»Stimmt was nicht?«, fragte er.

Wynn schluckte. »Nein. Äh. So viele Fische können wir heute Abend gar nicht essen.«

»Es gibt Möglichkeiten, sie haltbar zu machen«, erwiderte Osha mit einem Lächeln.

Er und Sgäile streiften ihre Umhänge über. Wynn wandte den Blick ab, bis sie fertig waren.

»Kannst du unsere Mäntel tragen?«, fragte Osha. Er wartete keine Antwort ab, nahm die restlichen Fische und folgte Sgäile.

»Natürlich«, sagte Wynn. Als sie sich bückte, um die Mäntel aufzuheben, bemerkte sie Chap.

Er saß auf dem Kies und beobachtete sie aufmerksam, sah dann Osha nach, richtete den Blick erneut auf Wynn und zog die Brauen zusammen. Wynn spürte, wie ihr das Blut ins Gesicht schoss.

»Ich will nichts von dir hören!« Rasch nahm sie die Mäntel und ging los.

Im Lager hatte Leesil inzwischen ein Feuer angezündet und Wasser für Tee aufgesetzt. Magiere lehnte an dem umgestürzten Baum und schaute nach Süden.

Sgäile und Osha machten sich daran, die Fische über einem Loch zu säubern, das sie in den Kies gegraben hatten. Als sie damit fertig waren, vergruben sie die Abfälle, spießten die Fische auf und brieten sie über dem Feuer. Den Rest des Fangs hängten sie höher, in den Rauch des Lagerfeuers. Osha holte einen kleinen Beutel hervor, entnahm ihm grünes Pulver und strich es auf die hängenden Fische.

Chap jaulte und leckte sich die Schnauze.

»Es dauert nicht mehr lange«, sagte Sgäile.

»Warum so viele?«, fragte Leesil. »Bis morgen früh sind die zusätzlichen Fische weder geräuchert noch trocken.«

»Doch, bis morgen früh sind sie fertig«, erwiderte Sgäile. »Osha verwendet zerriebene Cl’leichiojh

»Holzrücken?«, fragte Wynn. »Der Baumbewuchs, den mir Osha während der Wanderung durch euer Land zeigte?«

Sgäile nickte.

»Moment«, sagte Leesil. »Er reibt da zerriebene Pilze auf unser Essen?«

»Mach dir keine Sorgen«, entgegnete Sgäile. »Cl’leichiojh ist essbar. Wir müssen einen Lebensmittelvorrat anlegen, bevor wir die Berge erreichen, die Magiere sucht.«

Magiere blickte weiterhin nach Süden und schien in Gedanken ganz woanders zu sein. Geistesabwesend strich sie mit den Fingern über die Rinde des umgestürzten Baums. Wynn wechselte einen besorgten Blick mit Sgäile. Zum Glück begann in diesem Augenblick das Wasser zu kochen, und sie machten Tee.

Zum ersten Mal war Wynn wirklich froh, dass Sgäile sie begleitete.

Und auch Osha.