23
Magiere wusste gar nicht mehr, wie viele Tage und Nächte vergangen waren, während ihre Vorräte immer mehr schwanden. Als sie die westliche Seite des Gebirges erreichten, verbrachte Chap fast die Hälfte jedes Tages damit, zusammen mit Sgäile und Osha zu jagen. Gebratene Mäuse und Eichhörnchen wurden zu neuen Höhepunkten ihrer dürftigen Mahlzeiten. Doch als in den Vorbergen die Luft wärmer wurde und der Schnee in Regen überging, fühlten sie sich von Tag zu Tag besser.
Erstes grünes Gras erschien am Rand schlammiger Wege, und dann begrüßte sie der Frühling, als sie auf einer Anhöhe standen und übers Immermoor sahen.
Das Sumpfland erstreckte sich weit nach Westen. Magiere begann sofort mit dem Abstieg und ging mit langen Schritten voraus, bis Wynn einen Stiefel im tiefen Schlamm verlor. Daraufhin blieb sie stehen und beobachtete, wie Leesil den Stiefel aus dem Morast holte, während die junge Weise auf einem Bein balancierte. Nach diesem Zwischenfall gingen alle vorsichtiger.
Nach einer Weile hörte der Regen auf, aber die von den Bäumen tropfende Nässe verhinderte, dass sie trocken wurden. Wenigstens war es nicht mehr kalt.
»Wenn es nicht so nass wäre, würde ich meinen Mantel ablegen«, scherzte Wynn.
Es freute Magiere, die junge Weise in besserer Stimmung zu sehen. Der Weg hinab war sehr anstrengend für sie gewesen. Einmal hatte sie so erschöpft gewirkt, dass Sgäile vorgeschlagen hatte, sie auf seinem Rücken zu tragen. Wynn wollte nichts davon wissen, aber Osha nahm ihr das schwere Bündel mit den Büchern ab und schlang es sich um die Schulter.
Seit der Durchführung des Todesrituals in der kleinen Höhle hatte sich Sgäile verändert. Er hätte die Leichen der Anmaglâhk lieber verbrannt, um ihre Asche nach Hause zu bringen, aber Magiere spürte, dass ihn etwas anderes belastete. Wenn sich Gelegenheit bot, achtete er darauf, ihre Spuren zu verwischen, und immer wieder warf er besorgte Blicke über die Schulter.
Magiere fragte ihn nach dem Grund für sein sonderbares Verhalten, doch er meinte nur, sie läse zu viel aus seiner Wachsamkeit heraus. Vielleicht stimmte das, und überhaupt: Magiere hatte andere Sorgen.
Sie wollte jene zischende Stimme nie wieder hören, fürchtete aber, dass sie nur eine Atempause erlebte – vielleicht kehrte die Stimme bald zurück. Außerdem würden sie wohl einen Weg durchs Immermoor suchen müssen.
Bisher blieb der Boden unter ihren Füßen einigermaßen fest, aber Magiere hatte beunruhigende Geschichten über dieses Gebiet gehört. Wenn sie durch die östlichen Ausläufer des Immermoors in Richtung Dröwinka unterwegs waren, würden die trockenen Bereiche immer seltener werden und schließlich über viele Meilen hinweg ganz verschwinden.
Sgäile ging mit Leesil voraus, und Chap lief neben ihnen, bis es spät wurde. Magiere wusste nicht, warum, aber Sgäile war noch lakonischer geworden. Seit sie die Vorberge verlassen hatten, wirkte er verschlossen und in Gedanken versunken. Sie wusste, dass sie keine Antwort von ihm bekommen hätte, und deshalb fragte sie erst gar nicht.
Plötzlich bellte Chap einmal.
Leesil wankte unter dem Gewicht der hin und her schwingenden Kugel, als Sgäile stehen blieb. »Eine Wohnstätte befindet sich voraus.«
»Wer könnte hier wohnen?«, fragte Leesil.
Sie wateten noch einige Schritte durch schlammiges Wasser und erreichten eine kleine Anhöhe mit einer strohgedeckten Hütte. Der Garten war längst überwuchert, und neben ihm verrottete ein leerer Hühnerstall. Über der Hütte erstreckte sich das Geäst einer alten Weide.
Chap schnüffelte am Hühnerstall, während Leesil an die Tür der Hütte klopfte.
»Hallo?«, rief er halbherzig, erwartete aber keine Antwort. Er schob die Tür auf und trat zusammen mit Sgäile ein. Magiere folgte ihnen und hielt sich sofort Mund und Nase zu. Ein schrecklicher Gestank schlug ihr aus dem kleinen Raum entgegen.
»Was ist das für ein Geruch?«, fragte Wynn.
Leesil streckte den Arm aus. »Dort drüben.«
Ein alter Mann lag auf einem wackligen Bett, die Jutedecken bis zum Kinn hochgezogen. Er war ganz offensichtlich tot. Die bleiche Haut im Gesicht war verschrumpelt.
»Er muss schon vor einer ganzen Weile gestorben sein, im Schlaf«, sagte Wynn und schnappte nach Luft. »Wie traurig.«
Magiere schätzte, dass der Mann weniger als einen Mond tot war, und sie pflichtete der jungen Weisen bei. Auch sie fand es traurig, allein zu sterben.
»Oh, dem Himmel sei Dank!«, rief Wynn.
Magiere drehte sich um. Überrascht und erleichtert deutete die junge Weise nach oben.
Jutesäcke hingen an den Dachsparren und Wänden, damit sie vor Feuchtigkeit und Nagetieren geschützt waren. Auf einem hohen Regal über dem Herd standen Blechdosen und ein tönerner Krug. Wynn ging sofort zum Herd und sah sich alles an. Falten bildeten sich in ihrer Stirn, als sie einen schwarz angelaufenen Eisentopf betrachtete.
»Kein Rost, soweit ich sehen kann«, sagte sie. »Vielleicht enthalten die Säcke Getreide oder getrocknete Erbsen.«
Sie stellte den Topf ab, nahm den Krug und hob seinen Deckel.
»Oh«, kam es so entzückt von ihren Lippen, als hätte sie einen Schatz gefunden. »Honig!«
Leesil schüttelte den Kopf. »Setz einfach nur Wasser auf, während wir nach einer besseren letzten Ruhestätte für den Hausherrn suchen.«
Magiere sah zum Alten. »Das Bettzeug sollten wir mit ihm zusammen wegschaffen.«
Zwar fühlte es sich falsch an, einfach so von einer fremden Hütte Besitz zu ergreifen, aber niemand sprach sich dagegen aus, unter einem Dach zu schlafen und etwas anderes als Wildbret zu essen. Leesil und Sgäile rollten den Alten in sein Bettzeug und trugen ihn nach draußen, um ihn zu begraben. Magiere verstaute die Kugel in einer Ecke, nahm auf dem Boden Platz und beobachtete, wie Osha Wynn zur Hand ging.
»Sieh nach, ob draußen Regentonnen stehen«, wies die junge Weise den Elfen an. »Und bring mir bloß kein Sumpfwasser.«
Osha schnitt eine finstere Miene und wirkte beleidigt, als er die Hütte mit dem Topf in der Hand verließ. Nach einer Weile kehrten Leesil und Sgäile zurück, doch Sgäile zögerte in der Tür.
»Ich sollte mich umsehen«, sagte er. »Damit wir einen sicheren Weg wählen können.«
»Vergiss es!«, erwiderte Leesil und setzte sich neben Magiere. »Ruh dich einfach aus. Morgen früh sehen wir uns alles an.«
Aber als Magieres Blick erneut zur Tür ging, war Sgäile verschwunden.
Der Älteste Vater lag zutiefst beunruhigt in der Ruhemulde seiner großen Eiche. Vor einem halben Mond hatte er eine Mitteilung von Hkuan’duv bekommen, die erste seit einer ganzen Weile. Aber der Bericht war schlimmer als erwartet.
Magiere hatte es tatsächlich geschafft, das Artefakt in ihren Besitz zu bringen.
A’harhk’nis und Kurhkâge waren tot, Hkuan’duv und Dänvârfij hatten Magieres Spur verloren. Der Greismasg’äh und seine Lieblingsschülerin gingen davon aus, dass Magiere und ihre Gefährten einen bestimmten Weg eingeschlagen hatten, und diesem Weg folgten auch sie. Weitere Nachrichten von Hkuan’duv waren nicht eingetroffen, und deshalb blieb der Älteste Vater Mutmaßungen und Spekulationen überlassen. Wie konnten eine tollkühne Frau und ihre Begleiter zwei seiner besten Anmaglâhk entgehen?
Vielleicht hatte Sgäilsheilleache eingegriffen.
Der Älteste Vater hätte es ihm nicht verdenken können. Sgäilsheilleache folgte nur den Geboten des Schutzversprechens und seiner Ehre. Nein, die Schuld lag allein beim verräterischen Brot’ân’duivé, nicht beim irregeleiteten Sgäilsheilleache.
Wenn Magiere die Weisengilde der Menschen erreichte, war es schwerer, das Artfakt zu bekommen, und daraus konnten sich unheilvolle Konsequenzen ergeben. Etwas so Altes durfte nicht in den Händen von Menschen bleiben.
Voller Unruhe wartete der Älteste Vater auf weitere Mitteilungen.
Ein leises Summen kam von der Herz-Wurzel, die seine Ruhemulde umgab, und er lehnte sich zurück und schloss erleichtert die Augen. Hkuan’duv meldete sich endlich, um Bericht zu erstatten.
Vater?
Die Stimme kam durch die alte Eiche und erreichte das Bewusstsein des Ältesten Vaters, doch ihr fehlte die kühle Sachlichkeit von Hkuan’duv. Gefühle vibrierten in ihr, und die Unruhe des Ältesten Vaters wuchs.
»Sgäilsheilleache?«
Es folgte eine kurze Pause. Von Sgäilsheilleache hatte der Älteste Vater nichts mehr gehört, seit das Schiff von Ghoivne Ajhâjhe aufgebrochen war.
Vater, verzeih mir die lange Stille! Es ist viel geschehen.
Am liebsten hätte der Älteste Vater ihn getadelt, weil er sich erst jetzt meldete. Außerdem hätte er ihn gern aufgefordert, das Artefakt an sich zu bringen und sofort zu ihm zurückzukehren. Aber die Situation war schwierig, und er hörte Schmerz und Zweifel in Sgäilsheilleaches Stimme. Was auch immer ihn daran gehindert hatte, Kontakt mit ihm aufzunehmen – es belastete ihn sehr.
Dieser Anmaglâhk steckte voller Anspannung und brauchte keinen Tadel, sondern Zuspruch.
»Wie geht es dir, mein Sohn? Bist du wohlauf?«
Es geht mir gut, Vater. Die Stimme brach, und für kurze Zeit herrschte Stille. Ich reise noch immer mit Léshil und den Menschen. Brot’ân’duivé meinte, mit einem Dolmetscher an Bord des Schiffes wären sie besser dran, und deshalb habe ich die Mission meines Schutzversprechens fortgesetzt. Aber es ist so viel geschehen … Und jetzt drehen sich meine Gedanken im Kreis.
Hoch oben in den Bergen habe ich die Leichen von A’harhk’nis und Kurhkâge gefunden. Ich konnte sie weder mitnehmen noch sie verbrennen. Mir blieb nichts anderes übrig, als die Ahnen zu bitten, ihre Seelen nach Hause zu geleiten.
Wieder folgte eine kurze Pause, und als Sgäilsheilleache erneut sprach, lag eine seltsame Schärfe in seiner Stimme.
Weißt du von ihrer Mission in jener Region?
Diesmal zögerte der Älteste Vater. Es wäre ihm lieber gewesen, ein Mitglied seiner Kaste nicht direkt anlügen zu müssen.
»Deine Nachricht bringt Kummer nach Crijheäiche. Der Verlust von A’harhk’nis und Kurhkâge macht mir das Herz schwer. Vielleicht sind deine Kastenbrüder bei dem Versuch, das Gebirge zu überqueren, vom Weg abgekommen. Kurhkâge hat oft mit Urhkarasiférin zusammengearbeitet. Sie haben darüber gesprochen, in den Ylladonischen Stadtstaaten nach Möglichkeiten zu suchen, in den dröwinkanischen Bürgerkrieg einzugreifen. Ich rede mit Urhkarasiférin. Vielleicht kann er uns Auskunft geben.«
Ja, Vater. Erleichterung erklang in Sgäilsheilleaches Stimme. Dafür wäre ich dir dankbar.
»Wie verläuft deine Reise?«
Magiere hat einen Erfolg erzielt. Aber es liegt noch ein weiter Weg vor uns, bis wir das Objekt übergeben können.
Der Älteste Vater ließ sich seinen Ärger nicht anmerken.
Osha und ich werden die Reise nach Bela fortsetzen. Von dort aus nehme ich Kontakt mit dir auf, in der Hoffnung, dass sich eins unserer Schiffe in der Nähe befindet. Wenn nicht, dauert unsere Heimkehr länger.
»Ah, ja, du hast den jungen Osha zu deinem Schüler gemacht. Das hat mich überrascht, aber oft erkennst du dort Möglichkeiten und Potenzial, wo andere nichts sehen. Wie kommt die Ausbildung voran?«
Er hat schwere Zeiten erlebt, hält aber unerschütterlich an Pflicht und Mission fest. Was ihm an Geschick fehlt, macht er durch Hingabe wett. Ich glaube, er könnte schließlich einen ehrenvollen Platz bei uns finden.
Sgäilsheilleache schien froh zu sein, über Angelegenheiten der Kaste und die alltäglichen Dinge der Ausbildung zu sprechen. Es überzeugte den Ältesten Vater davon, den richtigen Weg eingeschlagen zu haben.
Sgäilsheilleache war der Kaste treu ergeben, aber irregeleitet von Brot’ân’duivé und der halb toten menschlichen Frau. Jemand musste einschreiten und ihn von seiner Last befreien.
»Es freut mich zu hören, dass es dir gut geht, mein Sohn«, sagte der Älteste Vater voller Wärme in der Stimme. »Wo befindest du dich derzeit?«
Du möchtest unseren Aufenthaltsort wissen?
»Um abzuschätzen, wann du Bela erreichst. Und um dir, wenn möglich, ein militärisches Schiff zu schicken.«
Das würde mich sehr freuen, Vater. Wir sind südwestlich der Berge und südlich von Dröwinka, beim östlichen Ausläufer des Gebiets, das die Menschen Immermoor nennen.
»Im Sumpfland. Die Reise dort ist sicher alles andere als angenehm. Wie weit im Innern des Immermoors?«
Kaum der Weg eines Morgens nach Westen. Wir hatten das Glück, eine Hütte zu finden, und dort werden wir die Nacht verbringen.
Der Älteste Vater war nicht in der Lage, sein Bewusstsein über den Wald seines Volkes hinaus zu erweitern. Aber er bekam ein Gespür für den Ort, wenn ein Mitglied seiner Kaste durch ein Wortholz mit ihm sprach. Wenn der Sprecher einen lebenden Baum berührte, unterlag seine Stimme durch den Kontakt des Wortholzes mit dem Baum gewissen Veränderungen.
»Du hast dich von einer Weide aus mit mir in Verbindung gesetzt?«, fragte er. »Mitten in einem Sumpf? Und es ist eine zähe Weide.«
Er spielte dieses Spiel mit einigen seiner Kinder – es ging darum, den Baum zu erraten, von dem der Kontakt ausging.
Ja, Vater, die Weide ist kaum zu übersehen. Wieder folgte eine kurze Pause. Es tut gut, nach so langer Zeit wieder mit dir zu reden.
»Mich hat es ebenfalls gefreut, mein Sohn.«
Ich setze mich wieder mit dir in Verbindung, wenn wir Bela erreichen.
»Ich werde versuchen, dir ein Schiff zu schicken.«
In Stille und in Schatten, Vater.
Die Verbindung wurde unterbrochen.
Der Älteste Vater hatte den besorgten Sgäilsheilleache beruhigt und wusste, dass diese schwierige Situation bald überwunden sein würde. Er klopfte mit den Fingern auf den Rand der Ruhemulde und wartete eine Weile, bis eine andere Stimme durch das Holz der Eiche kam.
Vater, ich fürchte, ich habe kaum …
»Warte, Hkuan’duv, und hör mir gut zu!«
Am nächsten Morgen war Leesil gerade nach draußen getreten, um sich zu strecken, als Sgäiles Stimme hinter der Hütte erklang.
»Léshil, Magiere – kommt!«
Magiere trat hinter Leesil aus der Hütte und rieb sich die Augen. »Was ist denn?«
Léshil zuckte mit den Schultern und ging um die Hütte herum, dichtauf gefolgt von Magiere. Als er sah, wie Sgäile den Rand einer Plane hob, blieb er stehen. Magiere prallte fast gegen ihn.
Sgäile hockte neben einem schmalen Langboot, das auf die Anhöhe gezogen worden war. Es schien in einem recht guten Zustand zu sein.
»Damit muss der Alte seine Vorräte transportiert haben«, sagte Sgäile. Schon seit Tagen hatte er nicht mehr so gelöst geklungen. »Was bedeutet, dass sich eine Siedlung in der Nähe befindet.«
Leesil sah Magiere an.
Sie hob eine Braue. »Er ist in ungewöhnlich guter Stimmung.«
Nachdem Sgäile am Abend zuvor von seiner kurzen Erkundung zurückgekehrt war, hatte er ein verändertes Verhalten an den Tag gelegt. Er hatte die Kugel überprüft und in Wynns Topf geschaut, und Leesil hätte schwören können, ein Lächeln auf den Lippen des sonst immer so mürrischen Elfen gesehen zu haben.
Das Boot war in jedem Fall ein willkommener Anblick. Leesil ging los, um es sich aus der Nähe anzusehen.
»Eine nahe Siedlung muss nicht unbedingt Gutes bedeuten«, sagte er. »Nicht, solange es in Dröwinka noch immer drunter und drüber geht.«
»Zugegeben«, sagte Sgäile. »Aber wir könnten vielleicht unsere Vorräte erneuern, und dann wäre der Rest der Reise erträglicher.«
Leesil musterte ihn. »Hast du eine Flasche Rum gefunden und sie nicht mit uns geteilt?«
»Eine Flasche was?«
»Schon gut.«
Magiere stand mit verschränkten Armen da und betrachtete das Boot stumm.
Leesil ahnte ihre gemischten Gefühle. Sie wollte so schnell wie möglich nach Miiska zurück, aber es widerstrebte ihr, während des Bürgerkriegs durch ihr Heimatland zu reisen. Diese Vorstellung übte auch auf Leesil keinen besonders großen Reiz aus.
Wynn und Osha kamen herbei und plapperten aufgeregt, als sie das Boot sahen. Chap traf als Letzter ein, den Schwanz hoch erhoben. Magiere blickte über den Sumpf, die Rohrkolben und das schmutzig-grüne Wasser. Frösche quakten, und große Libellen flogen vorbei.
»Ich hätte nie gedacht, dieses Land einmal zu vermissen«, sagte sie. »Aber nach so langer Zeit in den Bergen …«
»Oh, wir müssen verrückt sein!«, rief Leesil übertrieben dramatisch.
Magiere schmunzelte und kehrte in die Hütte zurück.
Sie alle hatten eine angenehme Nacht hinter sich, und was vom Essen übrig geblieben war – von Fladenbrot und Honig bis zu Kichererbsen und geräuchertem Fleisch –, diente als willkommenes Frühstück. Als sie damit begannen, ihre Sachen zu packen, nahm Magiere die Kugel.
Bald trugen alle wieder ihre Mäntel und hatten die Waffen umgeschnallt. Ihr Gepäck lag am Rand der Anhöhe, und Leesil half Sgäile dabei, das Langboot ins trübe Wasser zu schieben.
»Verstaut die Sachen sowohl vorn als auch hinten«, sagte Osha. »Dann ist die Balance besser.«
»Ich habe das Fladenbrot vergessen«, sagte Wynn und lief zur Hütte. »Bin gleich wieder da.«
Sgäile drehte das Boot langsam und zog es längsseits zum Ufer. Leesil nahm die Sachen, die Osha ihm reichte, und legte sie in den Bug.
»Magiere?«, rief Wynn.
Leesil sah auf.
Die junge Weise stand an der Ecke der Hütte und wich langsam zurück, ohne sich umzudrehen.
»Sgäile!«, rief Wynn.
Chap sprang zu ihr, und Leesil lief an Magiere vorbei. In der Hand hielt er ein Stilett, packte Wynn und zog sie zurück. Magiere stürmte an ihm vorbei zur Vorderseite der Hütte, die Hand am Griff ihres Falchions. Plötzlich sah Leesil, was die junge Weise beunruhigt hatte.
Ein Mann und eine Frau näherten sich durchs seichte Wasser auf der Nordseite der Anhöhe. Leesil erstarrte, als er ihre graugrüne Kleidung sah.
Anmaglâhk.
Beide sahen recht mitgenommen aus. Die Frau hielt einen Kurzbogen in den Händen, mit einem aufgelegten Pfeil. Doch Leesils Aufmerksamkeit galt vor allem dem Mann.
Er hatte die Kapuze zurückgeschlagen, und sein kurzes Haar war fast weiß. Die bernsteinfarbenen Augen blickten kühl, und er bewegte sich mit solcher Geschmeidigkeit, dass sich das schienbeinhohe Wasser kaum kräuselte. Nicht ein Mal senkte er den Blick, als wäre er nie in seinem Leben gestolpert. Die Zipfel des graugrünen Mantels waren an der Taille zusammengebunden, und der Mann hielt keine Waffe in der Hand.
»Sgäile?«, fragte Leesil und wandte kurz den Blick von den beiden Neuankömmlingen ab.
Sgäile blieb still, als sich die Anmaglâhk näherten und zehn Schritte entfernt stehen blieben. Dann nickte er dem älteren Mann zu.
»Greismasg’äh.«
»Ich komme mit einem Auftrag vom Ältesten Vater«, sagte der Mann in perfektem Belaskisch, und sein Ton war so emotionslos wie sein Blick. »Du wirst uns sowohl das Artefakt als auch die dunkelhaarige Menschenfrau überlassen.«
Magiere zog ihr Falchion aus der Scheide, als die Elfin den Bogen hob.
Zum ersten Mal sah Hkuan’duv die Menschen aus solcher Nähe. Es war beunruhigend.
Er blinzelte nicht, als Magiere ihre Waffe zog.
Das schwarze Haar, in dem es gelegentlich rot glänzte, das weiße Gesicht und die dunklen Augen … Irgendwie gab ihm Magieres Anblick das Gefühl von Unreinheit. Die Nähe des erbärmlichen Halbbluts, des abtrünnigen Majay-hì und auch der kleinen Frau mit den hochgerollten Hosenbeinen weckte keine derartigen Empfindungen in ihm.
Dieses halb tote Etwas mit dem trotzigen Gesicht und der unnatürlichen Hautfarbe erfüllte ihn mit Abscheu.
Der Älteste Vater hatte Hkuan’duv vor Magiere gewarnt und ihm aufgetragen, sie zu töten.
Trotz des Unbehagens wegen der Nähe zu ihr erleichterte es ihn, sich Sgäilsheilleache und Osha endlich zu zeigen und nicht länger hinter ihnen herschleichen zu müssen. Er hatte ganz offen auf seine Mission hingewiesen, und sie war wichtiger als alles andere. Diese ganze Angelegenheit ging nun ihrem Ende entgegen.
Sgäilsheilleache trat vor und hob einen schützenden Arm vor Magiere.
»Ich verstehe nicht«, sagte er auf Elfisch. »Mein Schutzversprechen gilt nach wie vor. Es kann nicht einfach so beendet werden.«
»Das Wort des Ältesten Vaters steht an erster Stelle«, sagte Hkuan’duv schlicht.
»Bei allem Respekt, Greismasg’äh – ich bin an meinen Eid gebunden.«
Hkuan’duv sah ihn groß an.
Sgäilsheilleache stellte ganz offen den Willen des Ältesten Vaters und die Bedürfnisse seiner Kaste und seines Volkes infrage. Hkuan’duv musterte ihn mit noch größerer Aufmerksamkeit, während Sgäilsheilleaches Blick hin und her strich.
»Wir dienen!«, sagte Hkuan’duv scharf. »Es ist unsere Pflicht, immer vor allem an die Sicherheit unseres Volkes zu denken. Du wirst mir das Artefakt sofort übergeben!«
Sgäilsheilleaches Blick richtete sich auf Hkuan’duv und blieb dort.
In Sgäiles Magengrube krampfte sich etwas zusammen.
Am vergangenen Abend hatte der Älteste Vater mit ihm gesprochen wie mit einem Sohn. Er hatte sich nach Osha erkundigt und Erleichterung darüber zum Ausdruck gebracht, dass sie bald heimkehrten. Doch am Morgen des nächsten Tages kam Hkuan’duv, ein hochgeschätzter Greismasg’äh, und verlangte von ihm, dass er sein Schutzversprechen aufgab und ihm das Artefakt und auch Magiere überließ!
Chap sprang mit einem drohenden Knurren vor.
Der Greismasg’äh blieb stehen, aber Dänvârfij wich einen Schritt zurück. Es widerstrebte ihr ganz offensichtlich, den Bogen auf einen Majay-hì zu richten.
»Warte!«, rief Léshil, und der Hund verharrte. »Was hat dies zu bedeuten?«
»Er will nicht auf Sgäile hören«, flüsterte Wynn. »Sie wollen Magiere und die Kugel.«
Sgäile zuckte zusammen, als Magiere einen Schritt vortrat und versuchte, sich an seinem Arm vorbeizuschieben. Er wollte sie festhalten, aber sie schlug seine Hand beiseite. Sgäile schüttelte den Kopf und hob die Hand, und daraufhin blieb Magiere stehen.
»Übergib mir das Artefakt!«, wiederholte Hkuan’duv und kniff die Augen zusammen. »Oder ich nehme es mir.«
Der Knoten in Sgäiles Magengrube löste sich.
Hkuan’duv wollte den Auftrag durchführen, den er bekommen hatte, und Sgäile konnte sein Schutzversprechen nicht brechen. Damit wurden zwei Angehörige der Kaste zu seinen Gegnern.
Er verbannte die Gefühle aus sich und schüttelte langsam den Kopf.
»Ich werde einen heiligen Eid nicht brechen!«
Leesil verstand nicht, was auf Elfisch gesagt wurde. Er erfasste nur, was Wynn für ihn übersetzte – und ein ganz bestimmtes elfisches Wort.
Greismasg’äh.
Wie hatten diese beiden Anmaglâhk sie hier am Rand des Immermoors gefunden? Rasch überlegte er, wen es zuerst zu überwältigen galt. Ein Meister-Anmaglâhk und eine Frau mit schussbereitem Bogen – beide schienen etwa gleich gefährlich zu sein.
Leesil fragte sich, wie Osha reagieren mochte. Die jüngsten Ereignisse schienen den Elfen zu verwirren und zu verängstigen. Sgäile würde auf keinen Fall sein Wort brechen; das hatte er mehr als einmal bewiesen. Aber wem würde Osha folgen: seinem Lehrer und Sgäiles Eid oder einem verehrten Meister der Kaste, der im Auftrag des Ältesten Vaters kam?
Leesil beobachtete die Frau mit dem Bogen, die auf Magiere zielte. Es war klar, wen er zuerst erledigen musste.
Sgäile sprach erneut, diesmal auf Belaskisch.
Die Elfin sah kurz zur Seite, und genau darauf hatte Leesil gewartet. Seine Hand schoss nach vorn. Der Pfeil schnellte von der Sehne, als ein Stilett aus Leesils Hand flog.
Sgäile stieß Magiere zur Seite, und im gleichen Augenblick löste Leesil die Riemen seiner neuen Klingen. Der Pfeil streifte Magieres Arm und flog hinaus in den Sumpf. Die Elfin mit dem Bogen duckte sich, und das Stilett sauste über sie hinweg, ohne Schaden anzurichten.
Leesil zog seine Klingen, als sich die Elfin wieder aufrichtete.
Sie blieb in Bewegung und setzte einen zweiten Pfeil auf die Sehne. Chap griff an, als sie die Sehne spannte.
Mit einem Knochenmesser in der Hand trat Sgäile dem Meister-Anmaglâhk entgegen und sagte: »Misch dich nicht ein, Osha!«
»Nein!«, rief Wynn. »Hört auf, ihr alle!«
Niemand achtete auf sie.
Wynns Ruf bewirkte nichts, und ihre Gedanken rasten, als sie nach einer Möglichkeit suchte, den Kampf zu beenden. Chap schenkte ihr ebenso wenig Beachtung wie die anderen und griff an.
Er knurrte wild, doch die Elfin änderte ihre Taktik, bevor er herankam. Sie sprang plötzlich, streckte das Bein und traf den Hund mit dem Fuß am Kopf. Chap wurde zur Seite geschleudert.
Wynn machte große Augen. Es verblüffte sie, dass sich die Elfin dazu überwand, gegen einen Majay-hì zu kämpfen.
Magiere richtete sich nach dem Stoß auf, den Sgäile ihr gegeben hatte, als Leesil gerade die Elfin mit seinen neuen Klingen angriff.
Osha riss Wynn zurück und drückte sie an die Wand der Hütte. Sie sah die Bestürzung in seinem Gesicht – entsetzt beobachtete er, wie Sgäile und der Greismasg’äh gegeneinander kämpften.
Sie schlugen aufeinander ein, parierten und wichen aus, so schnell, dass bei jedem Zusammenzucken der jungen Weisen bereits der nächste Hieb erfolgt war. Sie zählte ein halbes Dutzend Angriffe. Was würde geschehen, wenn einer von ihnen das Blut des anderen vergoss?
»Sorg dafür, dass sie aufhören!«, rief sie Osha zu. »Unternimm etwas!«
Magiere näherte sich dem älteren Elfen von der anderen Seite und hielt ihr Falchion mit beiden Händen. Osha schirmte Wynn mit seinem Körper ab und schien nicht zu wissen, was er sonst tun sollte.
Die Elfin duckte sich unter Leesils Klingen hinweg, und Chap kam wieder auf die Beine.
Ein Stilett erschien in der Hand der Frau, und damit schlug sie nach Leesils Gesicht.
Die Dhampir in Magiere erwachte, als die Elfin Chap gegen den Kopf trat und der Hund zur Seite geschleudert wurde. Zorn brodelte in ihr.
Ihr Sehvermögen erweiterte sich, und das Tageslicht strahlte hell. Ihre Eckzähne wurden länger und die Fingernägel hart, und dann sah sie, wie Leesil die Elfin angriff. Sie wandte sich dem Mann zu, in der Hoffnung, dass Leesil und Chap mit der Frau fertig werden konnten.
Vom Meister-Anmaglâhk ging die größte Gefahr aus. Magiere sprang ihm entgegen; aus dem Augenwinkel warf sie noch einmal einen Blick zu Leesil.
Die Elfin wich den wirbelnden Klingen aus und riss dabei den Arm hoch. Die Spitze ihres Stiletts schnitt durch Leesils Wange bis zum Mundwinkel.
»Nein!«, wollte Magiere rufen, aber es wurde ein kehliges Knurren daraus.
Blut spritzte von Leesils Gesicht, und er neigte den Kopf zur Seite.
Magiere lief an Sgäile und dem Greismasg’äh vorbei und griff die Elfin an. Chap versuchte, auf die Beine zu kommen, als sich die Frau umdrehte.
Sie zögerte beim Anblick von Magiere und zischte etwas auf Elfisch.
Magiere hielt ihr Falchion in beiden Händen und schlug damit zu.
Die Elfin verschwand, und Magieres Klinge schnitt durch leere Luft. Einen Moment später stieß etwas gegen ihre Beine und raubte ihr das Gleichgewicht. Sie fiel, riss das Falchion herum und landete schwer auf dem Rücken.
Sie sah, wie sich die Elfin nach einer Drehung wieder aufrichtete und den Bogen beiseitewarf – Messer erschienen in ihren Händen. Magiere rollte zur Seite, kam auf ein Knie und schwang das Falchion, um sich damit zu schützen.
Leesil geriet in Sicht, als er über Magieres Kopf hinwegsprang und vor der Elfin landete.
Blut rann ihm über die eine Gesichtshälfte, und Magiere sah, dass er sich nicht schnell genug bewegte, als die Elfin ihn von der Seite angriff.
Sorge um Leesil war wie Brennstoff für den Zorn in Magiere, und sie sprang auf die Beine.
Chap lief um Magiere herum und versuchte, an die Seite der Elfin zu gelangen.
Innerhalb weniger Momente war es ihr gelungen, Leesil zu verletzen und Magiere zu Fall zu bringen. Irgendwie musste es ihm gelingen, sie von seinen Gefährten abzulenken.
Leesil schlug mit seinen Klingen zu, aber die Frau wich aus. Er drehte den Kopf und schien sie nicht mehr zu sehen – das eine Auge war blutverschmiert. Die Elfin duckte sich unter seinen Klingen hinweg und wollte mit einem Stilett zustoßen.
Chap sprang und rammte seinen Kopf gegen ihr Bein.
Sgäile verbannte alle Gedanken aus seinem Bewusstsein, auch das Schutzversprechen. Er öffnete sich innerer Stille, ließ sich von nichts ablenken.
Hkuan’duv holte mit seinem gewölbten Knochenmesser aus.
Sgäile duckte sich und schwang das Bein, aber Hkuan’duv sprang schon beiseite, als Sgäile gerade in die Hocke gegangen war. Bevor die Füße des Greismasg’äh wieder den Boden berührten, hatte sich Sgäile aufgerichtet, ging aber nicht zum Angriff über. Stattdessen blieb er stehen, zur Verteidigung bereit, denn er wusste: Gegen das Geschick und die Erfahrung eines Meisters wie Hkuan’duv konnte er sich im Angriff nicht durchsetzen.
Hkuan’duv sprang vor und streckte das Bein.
Sgäile machte einen langen Schritt nach links und trat nach Hkuan’duvs Gesicht. Der Greismasg’äh ließ sich fallen und stieß Sgäiles Fuß einfach beiseite. Sgäile zog das Bein an und versuchte, sich auf dem anderen zu drehen. Er schirmte mit beiden Stiletten seinen Bauch ab. Hkuan’duv beugte sich vor und langte mit der freien Hand nach Sgäiles Fuß auf dem Boden.
Sgäile konnte den anderen Fuß nicht senken, und der Greismasg’äh stach mit dem Stilett zu.
Die Klinge bohrte sich Sgäile seitlich in die Brust.
Er stöhnte, aber nicht aus Schmerz oder gar Furcht, sondern aus Scham darüber, sein Schutzversprechen nicht halten zu können.
Er stach mit dem Knochenmesser zu, bevor sein Rücken auf den Boden schlug. Der Aufprall presste ihm den Rest Luft aus den Lungen.
Sgäile fühlte, wie das Blut in seine Lungen drang, und konnte nicht mehr atmen. Er war nur imstande, den Kopf zu drehen und nach seinem Gegner Ausschau zu halten. Hkuan’duv stand reglos da und starrte fassungslos, die Hand an der Kehle. Blut quoll zwischen seinen Fingern hervor.
Wie mit den Augen eines anderen beobachtete Sgäilsheilleache Hkuan’duvs Fall. Der Greismasg’äh stürzte auf den feuchten Boden und blieb reglos liegen.
Sgäile hörte Oshas Schrei. Dann strömte ihm Blut in Hals und Mund.
Die Welt war bereits dunkel, als Sgäile die Augen schloss.
Wynn erschauerte, als Osha schrie: »Jeóin!«
Die Elfin erstarrte und drehte sich halb um.
»Sgäile!«, rief Leesil.
Magiere griff die Elfenfrau an, erreichte aber nie ihr Ziel. Chap prallte gegen die Beine der Elfin, und beide rollten die Anhöhe hinunter. Mit einem lauten Platschen fielen sie ins Wasser und lösten sich dort voneinander.
Wynn stieß Oshas Arm beiseite, lief mitten ins Durcheinander und schrie: »Aufhören!«
Die Elfin stand bis zu den Knien im schmutzigen Wasser, als sie ihren gefallenen Kastenbruder sah. Osha erreichte Sgäile vor Leesil und sank neben seinem Lehrer auf die Knie. Magiere drehte sich um, dazu bereit, den Hang hinunterzulaufen und die Elfin erneut anzugreifen.
Mit beiden Händen griff Wynn nach Magieres Schwertarm und hielt sie fest. Bevor sie ein weiteres Wort rufen konnte, erklang Oshas Stimme.
»Sind dies die Gepflogenheiten unserer Kaste?«, rief er auf Elfisch und deutete auf den Greismasg’äh und Sgäile. »Entspricht dies dem Willen des Ältesten Vaters?«
Der Blick der Elfin verließ ihren gefallenen Kastenbruder, glitt aber nicht zu Osha, sondern zu Wynn, und plötzlich erschien Hass in ihrem Gesicht, als sie weiter im Wasser zurückwich.
»Töte sie, Chap!«, zischte Magiere.
Chap setzte sich sofort in Bewegung und folgte der Elfin durchs trübe Wasser.
»Nein!«, rief Wynn.
»Lass mich los«, schnauzte Magiere und schüttelte die Hände der jungen Weisen ab.
Wynn schlang ihr die Arme um die Taille. »Lass die Elfin gehen, Chap!«, rief sie.
Sie wird den anderen Anmaglâhk mitteilen, wo wir sind! Das lasse ich nicht zu!
»Sie haben uns gefunden, sie wissen schon Bescheid!«, antwortete Wynn. »Weiteres Töten ändert nichts daran!«
Chap blieb stehen, drehte sich aber nicht um. Er knurrte und bebte am ganzen Leib.
Wynn beobachtete, wie sich Entsetzen im Gesicht der Elfin ausbreitete.
Sie sah zum reglos auf dem Boden liegenden Greismasg’äh und schüttelte fassungslos den Kopf.
»Geh!«, rief Osha, die Stimme voller Schmerz. »Sag dem Ältesten Vater, dass der Greismasg’äh tot ist. Weil er von Sgäilsheilleache verlangte, den Eid seines Schutzversprechens zu brechen! Weil er die Traditionen unseres Volkes verriet!«
Osha stieß diese Worte hervor, als Magiere ihre Versuche einstellte, sich aus Wynns Umarmung zu befreien. Wynn drehte den Kopf und sah zum jungen Elfen.
Osha und Leesil knieten zu beiden Seiten von Sgäile. Leesil nahm Sgäiles Gesicht in die Hände, und Osha sackte plötzlich halb in sich zusammen.
»Sgäile?«, stieß Leesil hervor. »Sieh mich an, Sgäile!«
Sgäile bewegte sich nicht, und Wynn stockte der Atem.
»Erzähl dem Ältesten Vater, wie wir hier das Blut der Kaste vergossen haben!«, fuhr Osha mit gesenktem Kopf fort. »Frag ihn, was jetzt aus uns werden soll!«
Er sah zu der Elfin im Wasser, und in seinem Gesicht zeigte sich etwas, das Wynn dort noch nie gesehen hatte.
Der junge, naive Osha, dessen Wunsch es immer gewesen war, Anmaglâhk zu werden … Es hatte nie Hass in ihm gegeben. Doch jetzt richtete er einen hasserfüllten Blick auf die Elfin.
»Ich kümmere mich um beide«, sagte er. »Geh und wasch das Blut von deinen Händen – wenn du kannst!«
Die Elfin drehte sich um und floh.
Chap machte noch einen Satz nach vorn, gab die Verfolgung dann aber auf. Magiere wankte über den Hang der Anhöhe und zog Wynn dabei halb hinter sich her, doch dann verharrte auch sie.
»Lass sie los!«, sagte Leesil. »Es ist vorbei.«
Wynn ließ Magiere los und lief zu Osha.
Sgäiles Augen waren geschlossen. Blut rann aus seinem Mund und tropfte auf Leesils Hände. Ein Stilett steckte bis zum Heft in Sgäiles Seite. Wynn legte die Hand auf seine Brust.
»Sgäilsheilleache«, flüsterte sie.
Osha schlang die Arme um sie und zog sie fort. Sie fühlte seinen festen Körper an ihrem Rücken, während ihre Blick auf Sgäiles Lider gerichtet blieb, in der Hoffnung, dass sie sich hoben.
Leesil zog ihm das Stilett aus der Seite und warf es achtlos in den Sumpf. Blut quoll aus dem Schnitt in seinem Gesicht und tropfte vom Kinn. Wie rote Tränen fielen die Tropfen auf den nassen Boden und verschwanden darin.
Wynn bedauerte, dass Sgäile sie nie wieder für ihre Dummheit schelten konnte.
Leesil saß wie betäubt in der Hütte und merkte kaum, dass Wynn Blut aus seinem Gesicht tupfte.
Sgäile war tot. Der abergläubische, sture Sgäile, mit seinem blinden Glauben an Geister, Traditionen und Bräuche … Er war viel mehr wert gewesen als sein Schutzversprechen.
Leesils Wunde war nicht tief, aber da sie nicht ganz geschlossen werden konnte, blieb Wynn nichts anderes übrig, als ein Hemd zu zerreißen und ihm den Kopf zu verbinden. Es würde eine Narbe zurückbleiben, aber kein dauerhafter Schaden, versicherte sie ihm.
Zumindest nicht im Fleisch, und Narben kümmerten ihn nicht.
Eine weitere bedeutete ihm nichts, obwohl diese Narbe weitaus deutlicher sein würde als die von Rattenjunges Fingernägeln stammenden Male an Kiefer und Hals. Als Wynn fertig war, hörte Leesil, wie jemand hinter der Hütte Holz schlug.
Er schob Wynns Hände beiseite und trat nach draußen unter einen bewölkten Himmel.
Chap saß vor der Hütte und sah noch immer in die Richtung, in die die Elfin verschwunden war. Der Hund drehte sich um, als Leesil nach draußen kam, und lief zur anderen Seite der Hütte. Leesil folgte ihm und fand dort Magiere und Osha.
Sie hatten Unterholz und Gestrüpp geschnitten, waren davon beide bis zu den Ellenbogen und Knien nass. In dem freien Bereich, nicht weit vom Grab des Alten entfernt, lagen Sgäiles Leiche und die des anderen Anmaglâhk. Sie ruhten auf Feuerholz, das sie hinter der Hütte gefunden hatten.
»Wollt ihr sie nicht begraben?«, fragte Leesil.
Magiere begann damit, die Leichen mit dem Gestrüpp zu bedecken. Osha zögerte, ohne den Blick auf Leesil zu richten.
»Wir Leiche heimbringen, wenn möglich«, sagte er in gebrochenem Belaskisch. »Wenn nicht, dann Asche. Wenn keine Asche, dann Körper versteckt zurücklassen. Aber nicht in die Erde.«
Osha hatte die Waffen der beiden Toten gereinigt und beiseitegelegt. Magiere hielt plötzlich inne und sah sich müde um.
»Nicht genug Holz«, seufzte sie. »Selbst feuchtes Holz könnte uns helfen, wenn das Feuer brennt.«
Sie ging zur Weide, deren Geäst sich über der Hütte erstreckte. Osha eilte zu ihr und hielt sie am Arm fest, bevor sie dort Zweige abschneiden konnte.
»Nein«, flüsterte er und sah zu den Zweigen und Ästen hoch. »Anderen Baum finden … nicht dieser.«
Magiere nickte, zog aber verwirrt die Stirn kraus und sah zu Leesil.
Er wusste nicht, was er von Oshas seltsamer Aufforderung halten sollte.
»Ich suche Lampenöl«, sagte Wynn.
Leesil hatte sie nicht gehört und drehte sich überrascht um, als die junge Weise zur Hütte ging. Er zog eine Klinge und suchte nach den trockensten Teilen des Gestrüpps.
Als sie fertig waren, kehrte Wynn zurück und gab Öl aus einem alten Krug auf das Holz. Dann hob sie einen brennenden Zweig, der aus dem Kamin stammte.
Osha schüttelte den Kopf. »Noch nicht.«
Leesil wusste nicht, was er tun sollte. Er begnügte sich damit, das Geschehen zu beobachten, als Magiere, Wynn und Chap neben ihm Platz nahmen. Osha schloss die Augen und sprach leise auf Elfisch.
»Hkuan’duv gan’Träi’éarnneach, Greismasg’äh, d’mé âg ahârean eólhasas’na …«
Wynn begann mit einer geflüsterten Übersetzung.
»Geschwärztes Meer vom Eisenküste-Clan, Schattengreifer, dessen Eltern ich nicht kenne …«
»… ag’us Sgäilsheilleache á Oshâgäirea gan’Coilehkrotall …«
»… und Im-Weidenschatten, geboren von Plötzlichen-Windes-Lachen vom Flechtenwald-Clan …«
Leesil hob den Kopf und sah zum Geäst der Weide hoch, als Wynn fortfuhr:
»Mütter und Väter unseres Volkes, nehmt sie, Geschwister der Anmaglâhk und Beschützer eurer Nachkommen, der An’Cróan, Jener des Blutes …«
Erinnerungen stiegen in Leesil auf.
»Nehmt ihre Seelen und ehrt sie, wie sie euch in einem Leben des Dienstes geehrt haben.«
Es schien so lange her zu sein. Leesil hatte mit Sgäile im dunklen Wald gestanden, auf dem Weg zur Grabstätte der Ahnen, und nach dem Grund für den seltsamen Brauch der An’Cróan gefragt, dort nach einem zweiten Namen zu suchen. Eigentlich war es ihm nur darum gegangen, sich die Zeit während einer kleinen Essenspause zu vertreiben. Als er Sgäile nach dem Namen fragte, den er angeblich von den Ahnen bekommen hatte, war dieser der Frage ausgewichen. Das mochte der Grund sein, warum sich Leesil noch daran erinnerte.
»Du hattest also einen anderen Namen vor Sgäile?«, hatte Leesil gefragt.
»Sgäilsheilleache«, korrigierte Sgäile. »Das bedeutet ›Im Weidenschatten‹.«
Als Leesil nach Einzelheiten von Sgäiles Vision bei den Ahnen gefragt hatte, lautete die Antwort:
»Es war … etwas weit entfernt von diesem Land … im Schatten einer Weide.«
Das Knistern des Feuers veranlasste Leesil, den Blick von der Weide zu senken.
Rauch stieg auf, als sich die Flammen des brennenden Öls durch nasses Holz fraßen. Osha warf den Zweig, mit dem er das Öl entzündet hatte, auf den Haufen und flüsterte immer wieder die gleichen Worte.
»Ich rufe, meine Stimme für ihre«, übersetzte Wynn leise. »Ahnen … bringt sie heim.«
Leesil versuchte, nicht an Sgäiles Namensvision zu denken, die ihm einen Hinweis darauf gegeben hatte, wann und wo er sterben würde. Oder an das geisterhafte Bild eines anderen Leesil, der auf der Lichtung der Ahnen stand und in den graugrünen Kapuzenmantel eines Anmaglâhk gekleidet war.
Leesil … Léshil … dessen neuer Name Léshiârelaohk lautete, Kummertränes Verteidiger.
Visionen waren immer nur Lügen, kein Schicksal.
Magiere beobachtete, wie sich die Flammen langsam einen Weg durch das nasse Holz bahnten. Sie mussten ihre Reise fortsetzen, und zwar bald. Die geflohene Anmaglâhk würde nicht einfach so aufgeben. Sosehr sie auch zu fragen verabscheute, ihr blieb keine Wahl.
»Wie lange?«
Osha atmete tief durch. »Bis nur Asche übrig ist.«
Magiere nickte und schwieg. Als Wynn sie traurig ansah, bedauerte sie, etwas gesagt zu haben.
Leesil starrte in die Flammen.
Tiefe Falten durchzogen seine Stirn, und seine Augen wirkten hart, wie in der Hitze des Feuers gebackene Steine. In seinen Wangen mahlten die Muskeln, und Magiere hörte das Knarren von Leder – Leesil hatte die in einem Handschuh steckende Hand zur Faust geballt.
Magiere trat hinter ihn, schlang ihm die Arme um die Brust und stützte das Kinn auf seine Schulter.
»›Im Weidenschatten‹«, murmelte Leesil. »Das bedeutet Sgäiles Name.«
Er griff nach einer von Magieres Händen auf seiner Brust und drückte so fest zu, dass ihre Finger schmerzten. Aber sie zog die Hand nicht zurück.
»Wir werden ihn nicht vergessen«, flüsterte sie.