17

Zwei- oder dreimal in der Nacht hielt Welstiel mithilfe des Messingstellers nach Magiere Ausschau. Es war alles andere als leicht, mit seiner Gruppe nahe genug bei ihr zu bleiben, ohne dass sie entdeckt wurde. Er blickte nach Osten.

Es dauerte noch eine Weile bis zum Morgengrauen, aber in der Nacht war ein Schneesturm heraufgezogen, und Welstiel hatte es satt, gegen das Wetter anzukämpfen.

»Wir machen halt«, entschied er.

Chane sagte nichts und suchte nach einem geeigneten Lagerplatz. Seit sie diese Berge erreicht hatten, sprach er kaum mehr. Welstiel scherte sich nicht darum – Gespräche waren ohnehin verlorene Mühe. Er wartete, bis Chane das Zelt über einer Mulde im Schnee aufgebaut hatte, trat dann unter die Plane und holte den schweren Stahlreif hervor.

Er strich mit den Fingerkuppen darüber und murmelte einen kurzen Singsang, woraufhin das Feuer in dem Reif erwachte. Die Zeichen begannen zu glühen, und langsam wurde es warm im Zelt. Die neuen Untoten krochen herein und streckten ihre Hände dem Stahlreif entgegen.

»Ich sondiere die Lage«, sagte Welstiel, und seine Stimme krächzte fast so sehr wie die von Chane. »Um festzustellen, wie weit sie entfernt ist.«

Er wartete keine Antwort ab, trat nach draußen und stapfte, vom Wind umheult, den Hang empor.

Er hoffte, dass die neuen Untoten so nützlich sein würden, wie er es sich erhoffte, aber ein Teil von ihm vermisste die Einfachheit des Reisens mit nur einem Begleiter. Solange Chane in seiner Nähe blieb, konnte der Ring des Nichts sie beide verbergen, was durchaus seine Vorteile hatte. Doch die zornigen Blicke, die Chane ihm seit einiger Zeit immer wieder zuwarf, erfüllten Welstiel mit ganz anderen Sorgen.

Er hoffte, dies alles bald zu Ende bringen zu können, auch das Problem namens Chane.

Welstiel versuchte abzuschätzen, wie lange es noch dunkel bleiben würde. Bei der letzten Positionsbestimmung hatte er eine klare Richtung für Magieres Aufenthaltsort bekommen, aber er witterte kein Leben – bis er schließlich Stimmen in der Nacht hörte. Mit geschärften Sinnen entdeckte er ein fahles Glühen am Fuß einer steilen Felswand und duckte sich hinter einen Vorsprung.

Licht filterte matt durch eine schneebedeckte Zeltplane. Warum waren Magiere und ihre Begleiter noch wach? Oder wollten sie diesmal besonders früh aufbrechen?

Magiere trat unter der Plane hervor. Leesil folgte ihr und hielt sie kurz am Arm fest, bevor sie sich abwandte.

»Noch nicht«, sagte er. »Beim ersten Licht.«

Ein großer Elf in einem braunen Mantel kam nach draußen. »Kommt wieder rein«, sagte er. »Wir brechen bald auf. Vergeudet keine Körperwärme, indem ihr in der Kälte steht.«

Ein zweiter, jüngerer Elf blickte nach draußen.

Welstiel konzentrierte seine ganze Wahrnehmung. Es war schwierig, da sie so eng beisammenstanden, aber er spürte kein weiteres Leben unter der Plane. Und der Geruch des Hundes fehlte. Wo waren Wynn und Chap?

Leesil reagierte nicht auf den ersten Elfen, und Magiere ging in die Hocke, blickte über den Schnee und schien nach jemandem Ausschau zu halten. Welstiel begriff, warum sie vor dem Morgengrauen auf den Beinen waren und ihr Lager noch nicht abgebrochen hatten. Zwei von ihnen wurden vermisst.

Erste Lichtstrahlen krochen über den Himmel und wiesen Welstiel darauf hin, dass er nicht länger bleiben konnte. Auf keinen Fall wollte er, dass Magiere von ihrem Ziel abgelenkt wurde und somit Zeit verlor. Langsam und vorsichtig kroch er zurück, bis er sich außer Reichweite befand, und dann eilte er wieder zu seinem Lager zurück.

Chap lief so schnell durch den Schnee, wie es seine Verletzungen erlaubten. Er versuchte, den Spuren zu folgen, bevor der Wind sie unter neuem Schnee verbarg. Als der Himmel heller wurde und weniger Schnee fiel, entdeckte er die weiße Frau und Wynn weit voraus.

Er unternahm nichts, um seine Annäherung zu verbergen, doch die Untote sah nicht ein einziges Mal zurück. Vor einem Einschnitt zwischen zwei Gipfeln, die sich dem wolkigen Himmel entgegenstreckten, wurde sie langsamer.

Der Hang war dort so steil, dass sie sich mit ihrer freien Hand festhalten musste – die andere blieb um Wynns Handgelenk geschlossen. Die junge Weise taumelte erschöpft, und als sie fiel, zog die Untote sie, ohne innezuhalten, weiter. Sie kletterten durch den Einschnitt, erreichten die höchste Stelle und verschwanden auf der anderen Seite.

Chap folgte ihnen, gelangte kurze Zeit später zur selben Stelle und sah von dort aus über ein weites, von Berggipfeln gesäumtes Hochplateau. Der Schnee, der es bedeckte, schien seit Jahrhunderten unberührt zu sein, bis auf eine Spur, die in die Ferne führte, zu der Burg mit sechs Türmen, von der Magiere geträumt hatte.

Die Untote hatte bereits den kurzen Hang hinter sich gebracht und das Plateau erreicht. Mühelos lief sie durch den Schnee, mit Wynn über der einen Schulter.

Chap stapfte über den Hang und dann aufs Plateau. Frischer Schnee und der alte darunter gaben unter ihm nach, und seine Beine sanken tief ins kalte Weiß. Jeder Schritt wurde zu einer Anstrengung, während die Untote und Wynn in der Ferne immer kleiner wurden.

Er setzte den Weg fort, und je mehr er sich der Burg näherte, desto größer wurde sie, bis ihre Ausmaße über die aller anderen ihm bekannten Befestigungsanlagen hinausgingen. Neben ihren Türmen hätten die von Darmouths Kriegsfeste oder sogar die des königlichen Schlosses in Bela zwergenhaft gewirkt. Vorhänge aus Eis hingen an den kegelförmigen Dächern. Doch als Chap zur Außenmauer und dem Eisentor darin kam, stellte er fest, dass die Burg nicht in einem so guten Zustand war wie in Magieres Traum.

Die Schneckenverzierungen des Tors waren verrostet. Eine Seite hing schief, denn die untere Angel war gebrochen. Oben auf dem Torbogen saßen zwei Raben und starrten auf Chap herab. Inzwischen schienen sie Substanz gewonnen zu haben – sie waren nicht mehr durchsichtig. Die Fußspuren der Untoten führten durch das Tor, die Stufen hoch und zu einem eisernen Portal.

Und dort stand die weiße Frau, am Ende der Treppe.

Sie stemmte sich gegen einen der großen, schweren Türflügel. Es schien unmöglich zu sein, dass sie ihn allein aufschieben konnte, noch dazu mit Wynn über der Schulter.

Die Angeln der großen Tür quietschten.

Chap kroch durch die Lücke zwischen den beiden Flügeln des Tors und pflügte durch den Schnee dahinter. Er musste die Tür erreichen, bevor die weiße Frau sie wieder schließen konnte.

Viele Steine in dem Bogen über der eisernen Tür waren von Rissen durchzogen. Hier und dort hatten sich kleinere Brocken gelöst. Die breite Treppe war ebenso alt und abgenutzt – in der ersten Stufe hatte sich in der Mitte ein Spalt gebildet. Die Scheiben in den hohen Turmfenstern, die in Magieres Traum klar gewesen waren, trugen Krusten aus Schmutz und Eis.

Die Eisentür quietschte erneut.

Chaps Vorderpfoten berührten die unterste Stufe mit dem Riss. Er versuchte zu heulen, aber seine Stimme versagte.

Die von der Tür kommenden Geräusche verklangen.

Er wurde langsamer, atmete schwer und sah, dass die Frau ihn mit großer Faszination von der Türkante her beobachtete.

Langes schwarzes Haar fiel über ihre weißen Schultern, und zum ersten Mal bemerkte Chap den Metallreif an ihrem Hals. Er sah sich die unter dem Schlüsselbein ruhenden offenen Enden an: Jede von ihnen hatte einen Knauf wie Magieres Thôrhk.

Chap schlich zum Ende der Treppe und verharrte vor der Untoten.

Wynn – ist alles in Ordnung mit dir?

»Chap?«, rief sie, und Furcht erklang in ihrer Stimme.

Die Frau zuckte zusammen.

»Ich bin … in Ordnung. Hab nur einige blaue Flecken. Und mir ist kalt.«

Die Untote neigte den Kopf zur Seite.

»Wer ist die Frau?«, rief Wynn. »Warum hat sie die Elfen getötet und mich nicht?«

Chap wusste es nicht und hatte keine Zeit, über die Reaktion der Untoten auf die gesprochenen Worte der jungen Weisen nachzudenken – oder darüber, was die Anmaglâhk hier mitten im Nichts gemacht hatten.

Diese Untote war unberechenbar. Praktisch von einem Augenblick zum anderen konnte sie sich wieder in eine wilde Bestie verwandeln, und Chap fühlte sich ihr unterlegen.

Sie starrte ihn nur an und drückte dann ihr porzellanartiges Gesicht gegen die Türkante. Wieder kam ein Quietschen von den Angeln.

Chap hielt den Atem an, doch die Tür bewegte sich nur einige wenige Zentimeter.

Das eine sichtbare Auge der weißen Frau beobachtete ihn und schien ihn zu fragen, ob er mutig genug war, die Burg zu betreten.

Selbst wenn diese Untote Chap am Leben ließ und ihm sogar die Rückkehr gestattete – die kleine Weise würde den Rückweg nicht überleben. Und er selbst vielleicht auch nicht.

Chap kroch nach vorn. Als seine Schnauze die schmale Öffnung zwischen den beiden Türhälften erreichte, sprang er.

Wynn spürte nur kurz Erleichterung, als Chap hereinsprang. Dann schlug die nackte Frau die Tür zu, und Dunkelheit umgab sie alle. Die junge Weise tastete rasch nach ihrem Kristall.

Als sie ihn zwischen den Händen rieb und er zu leuchten begann, stand die weiße Frau noch immer vor der Eisentür. Wynn duckte sich unter ihrem kalten Blick und wich zurück, bis sie mit dem Rücken gegen Stein stieß.

Sie drehte sich um und sah zwei Reihen großer Säulen zu beiden Seiten eines breiten Flurs, der ins dunkle Innere der Burg führte. In der Finsternis hinter den Säulen bewegte sich etwas.

An einigen Stellen schien sich die Dunkelheit zu verdichten und wie schwarzer Rauch zu wogen. Aber diese »Rauchschwaden« stiegen nicht etwa auf, sondern wanden sich wie verspielt durch die Luft. Eine kroch hinter der Säule hervor, an der Wynn zusammengesackt war, und neigte sich dem Boden entgegen.

Ein Teil des Rauches formte eine große Schattenpranke, und ein schlanker Wolf trat aus der Dunkelheit ins Licht des Kristalls.

Chap knurrte und biss in den Saum von Wynns Mantel. Er zog sie in die Mitte des Flurs, als sich noch mehr Schemen zwischen den Säulen bewegten.

Weitere Gestalten erschienen im Dunkeln. Ein zweiter durchsichtiger schwarzer Wolf trat in den Flur, und sein Grollen hallte von den steinernen Wänden wider. Er sprang vor und schnappte zu, bevor Chap ihm den Weg versperren konnte.

Die dunkle Schnauze strich durch Wynns Fußknöchel.

Sie schrie, als eisige Kälte durch ihre Knochen schnitt.

Steh auf!, rief Chap.

Er griff den Wolf an und wollte ihm in die Schnauze beißen, doch seine Zähne glitten hindurch.

Chaps Jaulen hallte durch den Flur, als er erschrocken zur Seite sprang.

Wynn richtete sich auf, und der kalte Schmerz in ihrem Fußknöchel ließ sie hinken. Kleinere, undeutliche dunkle Gestalten umgaben die Beine der weißen Frau – und sie kam näher.

Halte dich von ihr fern!

Wynn hörte Chaps warnende Worte und wich zurück.

Die Schatten näherten sich nicht. Sie bewegten sich nur hinter den Säulen, als die weiße Frau langsam vortrat. Wynn und Chap zogen sich durch den Flur zurück.

Wynn bemerkte es kaum, als die beiden Säulenreihen aufhörten, und sie achtete auch nicht auf die Kurven, die der Flur beschrieb. Als sie einen schmalen Korridor erreichten, erschien ein Schattenwolf vor ihnen.

Damit blieb nur ein Weg frei: eine türlose Öffnung auf der rechten Seite, dahinter ein Zimmer. Niemand – und nichts – folgte ihnen in den Raum. Chap blieb stehen, um den Zugang zu blockieren, und Wynn sank erschöpft zu Boden.

Der Rest der Nacht war schrecklich für Magiere, als sie sich anhörte, wie Leesil von ihrem nächtlichen Ausflug und der Suche nach ihr erzählte.

»Ich habe Wynn gesagt, dass sie im Lager bleiben soll«, beendete Leesil den Bericht, und in seinen Worten erklang ein Ärger, der sich auch in Sgäiles Augen zeigte.

Niemand von ihnen legte Magiere zur Last, dass Wynn verschwunden war. Beide machten sich Sorgen um ihren Geisteszustand, und ihre Gesichter wiesen deutlich darauf hin, dass sie sich schuldig fühlten.

Osha saß am Zugang der kleinen Höhle und blickte oft nach draußen. Sgäile hatte ihn daran hindern müssen, selbst aufzubrechen.

»Chap wird sie finden«, sagte Leesil. »Es hat keinen Sinn, wenn wir im Dunkeln umherstapfen. Chap wird irgendeinen Unterschlupf für Wynn und sich finden und auf uns warten.«

Trotzdem schaute Osha immer wieder nach draußen.

Magiere konnte den Anblick nicht ertragen und senkte den Blick. Was auch immer Leesil und Sgäile sagten – dies war ihre Schuld.

Etwas hatte im Schlaf Besitz von ihr ergriffen und sie nicht mehr zwischen Traum und Wirklichkeit unterscheiden lassen. Die anderen waren ihr in diese Welt aus Schnee und Eis gefolgt, und Magiere hatte sie in noch größere Gefahr gebracht. Was auch immer Leesil sagte: Vielleicht starb Wynn, bevor Chap sie fand. Bei der Vorstellung, die Reise ohne Wynn fortzusetzen, hätte Magiere am liebsten geweint, aber sie konnte nicht.

»Lasst mich nicht schlafen!«, flüsterte sie.

Leesil musterte sie verwirrt. Sgäile hob den Kopf und seufzte – er wusste, was sie meinte.

»Ich kann nicht …«, hauchte Magiere. Sie rang mit sich. »Ich kann nicht noch mehr Träume ertragen. Weil ich nicht in der Lage bin, sie von der Wirklichkeit zu unterscheiden.«

Ihr in der Scheide steckendes Falchion lehnte noch immer an der Rückwand der kleinen Höhle. Magiere griff danach und warf es Sgäile zu. Er fing die Waffe überrascht auf.

»Gib es mir erst zurück, wenn ich es brauche«, sagte Magiere.

Leesil setzte zu einer Erwiderung an, aber sie legte ihm die Finger auf die Lippen.

»Ich erinnere mich daran, Chap gesehen zu haben, undeutlich, nur als Schemen«, sagte Magiere. »So wie er mich ansah … Ich muss etwas getan haben, das ihn erschreckte … und dich in Gefahr brachte …«

Leesil seufzte verärgert. »Ich sollte dein …«

»Nein«, unterbrach sie ihn und sah Sgäile an. »Wenn ich mich erneut verliere, erkenne ich vielleicht nur Leesil oder Chap. So oder so, ich möchte nicht, dass sie etwas bei sich haben, das ich für meine Waffe halte. Ich könnte in Versuchung geraten, sie zu nehmen und …«

Sgäile verstand und schloss beide Hände fest um die Scheide des Falchion. Er nickte, nicht kurz und knapp wie sonst, sondern langsam und voller Entschlossenheit.

Selbst Osha hatte sich umgedreht und zugehört. Sein besorgter Gesichtsausdruck wies darauf hin, dass er die meisten Worte Magieres verstanden hatte.

»Magiere … der Dolch«, sagte Sgäile sanft.

Es lief ihr kalt über den Rücken, als sie sich daran erinnerte, dass sie ihn noch immer auf dem Rücken trug, hinter den Gürtel geschoben. Wenn sie dort draußen im Dunkeln daran gedacht hätte, als Leesil und Chap zu ihr gekommen waren …

Magiere griff nach hinten, doch der Dolch war nicht mehr da.

»Er liegt unter deinem Rucksack«, sagte Leesil.

Sgäile drehte sich auf einem Knie und zog die silberweiße Klinge unter dem Rucksack hervor. Er hielt sie Osha hin, und Magiere setzte sich alarmiert auf. Osha konnte sie nicht aufhalten, wenn es notwendig werden sollte.

»Es ist besser, deine Waffen aufzuteilen«, erklärte Sgäile. »Falls du sie wieder an dich nehmen möchtest. Ich trage dein Schwert auf dem Rücken, und du bekommst es von mir, wenn du es wirklich brauchst.«

Osha nahm den langen Dolch entgegen und nickte Magiere zu, die skeptisch blieb. Er steckte ihn unter seinem Mantel hinter den Gürtel.

Magiere sank an die Wand der kleinen Höhle und stützte den Kopf an Leesils Schulter. Niemand sprach, und bis zum Morgen dauerte es noch eine Weile.

Schließlich richtete Osha einen ernsten Blick auf sie alle und zog die Plane beiseite.

Der Schneesturm hatte aufgehört, und der Himmel wurde grau.

»Ja«, sagte Sgäile und stand auf.

Osha war bereits draußen.

Sgäile schnallte sich das Falchion auf den Rücken. Dann deutete er in den hinteren Teil der kleinen Höhle.

»Nimm deine beiden neuen Klingen«, sagte er zu Leesil.

Magiere fühlte, wie ihre Anspannung wuchs, als sie mit zorniger Ablehnung von Leesil rechnete. Sie folgte Sgäiles Blick.

Er hatte die Scheiden so verändert, dass sie die neuen Klingen aufnehmen konnten. Die Spitzen ragten ein Stück heraus, was gefährlich sein konnte, aber das war immer noch besser, als ganz auf Scheiden zu verzichten.

Zu Magieres Erleichterung nahm Leesil die beiden Klingen widerspruchslos an sich.

Sie begann zu packen, und Magiere sah den Metallreif unter ihrer wenigen Habe. Nach kurzem Zögern ergriff sie ihn. Sie wollte und brauchte ihn nicht, aber es widerstrebte ihr, ihn einfach so zurückzulassen. Deshalb hängte sie sich ihn um den Hals – so konnte sie ihn am leichtesten tragen. Leesil beobachtete sie erstaunt, stellte aber keine Fragen.

Als alle bereit waren, traten sie nach draußen, wo Osha ungeduldig wartete.

»Wir zusammen«, sagte er in gebrochenem Belaskisch. »Nicht teilen.«

Leesil deutete nach links oben. »Wenn Wynn versucht hat, Chap und mir zu folgen, hat sie jenen Weg genommen.«

Osha übernahm die Führung.

Im Neuschnee der vergangenen Nacht kamen sie schwer voran. Osha gab sich alle Mühe, einen leichter begehbaren Pfad für die anderen zu schaffen. Nach einer Weile nahm Sgäile seinen Platz ein, und als er schließlich innehielt und nach Atem rang, trat Leesil nach vorn, um ihn abzulösen. Doch dann blieb er stehen und sah sich nur um.

»Chap und ich sind hier gewesen«, sagte er und streckte die Hand aus. »Aber ich weiß nicht, wie lange oder weit Wynn uns gefolgt ist, bevor sie sich verirrte.«

»Geh zu der Stelle, wo du mich gefunden hast«, schlug Magiere vor. »Wir rufen von dort aus. Chap hört uns bestimmt, wenn er in der Nähe ist.«

Sgäile wich nach hinten zurück, als Leesil den Weg fortsetzte. Magiere setzte sich wieder in Bewegung, und plötzlich erinnerte sie sich daran, was sie in der Nacht empfunden hatte, als sie durch den Schnee gestapft war.

Der Drang, weiter hinaufzuklettern, bis zur höchsten Stelle …

Dieser Drang erwachte jetzt erneut in ihr, aber sie schob ihn beiseite. Zuerst musste Wynn gefunden werden.

Bei der Rinne mit den hohen Felswänden, wo sie gefunden worden war, teilten sie sich auf und begannen, in allen Richtungen zu suchen. Sonnenschein fiel durch erste Lücken in der Wolkendecke, und der Schnee glänzte fast unerträglich hell. Sie suchten, bis die Sonne ihren höchsten Stand erreichte und dann gen Westen sank, den Gipfeln entgegen.

Osha ging am Fuß eines großen Felsvorsprungs entlang.

»Wynn!«, rief er immer wieder.

Sie achteten darauf, sich nicht aus den Augen zu verlieren, als sie ausschwärmten und riefen, aber niemand antwortete. Magiere kehrte zum zentralen Ausgangspunkt der Suche zurück, und Leesil folgte ihr, sprang dabei von einem Felsen zum nächsten, um nicht in die Schneewehen zu geraten.

»So hat es keinen Zweck«, sagte er. »Wir müssen zurück und einen anderen Weg nach oben suchen. Ich glaube, Wynn ist nicht so weit gekommen.«

Wenn die Sonne am Nachmittag hinter die Berggipfel sank, würden sich Schatten an den Hängen ausbreiten. Und sie hatten noch immer keine Spur von Wynn und Chap gefunden.

Sgäile kehrte ebenfalls zurück, aber als Leesil seinen Vorschlag wiederholte, zischte Osha einige zornige Worte auf Elfisch. Diesmal verzichtete Sgäile auf eine scharfe Erwiderung, runzelte nur die Stirn und schüttelte den Kopf. Zusammen kletterten sie wieder nach unten und suchten dann andere Wege nach oben. Gelegentlich entfernte sich Osha so weit von den anderen, dass sie auf ihn warten mussten.

Ein seltsames Gefühl erfasste Magiere, und sie blieb stehen.

»Hier?«, fragte sie und sah nach oben.

Osha lief ihr entgegen, das Gesicht gerötet, und deutete in die Richtung, aus der er kam.

»Dort!«, rief er und forderte sie mit einem Wink auf, ihm zu folgen.

Sie folgten ihm.

»Hier Abzweigung«, sagte er. »Dies dein Weg …«, fügte er hinzu und zeigte auf Leesil. »Wynn vielleicht anderen genommen.«

Sgäile sah rechts und links an der großen Felswand vorbei. Selbst Leesil wirkte skeptisch und unsicher. Magiere horchte in sich hinein und spürte so etwas wie ein warmes Echo von dem Weg, den Osha gekommen war.

Spielte ihr der seltsame Drang einen Streich, oder regte sich die Dhampir in ihr?

Untote konnten sich dort oben nicht herumtreiben, nicht tagsüber. Und dann wich die Wärme in Magiere jäher Kälte, und in ihrer Magengrube verkrampfte sich etwas.

»Ja«, flüsterte sie.

Leesil trat näher und richtete einen besorgten Blick auf sie. Oshas Blick war ebenfalls auf sie gerichtet, und als sie langsam nickte, ging er sofort los. Magiere folgte ihm.

Leesil und Sgäile schlossen sich ihnen an. Magiere sah einmal zurück und auf Leesils Brust, doch es kam kein Licht von seinem Amulett, das über dem Mantel hing.

»Was ist los?«, fragte er.

Magiere antwortete nicht – sie wusste gar nicht, welche Antwort sie ihm geben sollte – und versuchte zu Osha aufzuschließen. Sie hatte den jungen Anmaglâhk fast erreicht, als dieser einen schneebedeckten Felssattel erkletterte und eine weitere Rinne erreichte.

»Magiere!«, rief Leesil und keuchte. »Nicht so schnell!«

Seit der vorletzten Nacht hatte sie weder gegessen noch geschlafen, wie auch die anderen. Vielleicht konnte sie nicht mehr klar denken. Möglicherweise ging die Kälte, die sich in ihr ausbreitete, auf Erschöpfung zurück.

Plötzlich wurde die Welt vor ihren Augen heller.

Sofort rannen ihr Tränen über die Wangen. Ihr Mund begann zu schmerzen, als sie weiter oben in der Rinne einen hohen, breiten Riss bemerkte.

Leesil trat an ihre Seite und machte große Augen. Magiere wusste, dass ihre eigenen Augen schwarz geworden waren.

»Was ist?«, flüsterte er und folgte ihrem Blick durch die Rinne.

Osha war weitergeklettert und verharrte jetzt, blieb in der Öffnung der Rinne stehen. Sgäile trat an Magieres andere Seite.

Es zeigten sich keine Abdrücke im Schnee, aber das lag daran, dass der Sturm alle Spuren verwischt hatte. Osha drehte sich voller Kummer zu ihnen um.

»Es ist Blut«, raunte Magiere Leesil zu. »Ich kann es riechen.«

Hkuan’duv saß im Zelt, als der Morgen dämmerte.

»Greismasg’äh?«, fragte Dänvârfij zögernd.

Sie hockte vor der Öffnung des Zelts, schaute aber nicht auf. Er versuchte noch immer zu verstehen, was in der Nacht geschehen war. Der plötzliche Tod von Kurhkâge und A’harhk’nis und der Umstand, dass er ihre Leichen einfach zurückgelassen hatte, lasteten schwer auf ihm.

»Hkuan’duv!«, beharrte Dänvârfij. »Sgäilsheilleaches Gruppe ist unterwegs, hat ihr Lager aber nicht abgebrochen. Vielleicht suchen sie noch immer nach der kleinen Menschenfrau. Wir müssen Gewissheit erlangen.«

Er atmete tief durch, und Dänvârfij wich zur Seite, als er aus dem Zelt kroch.

Nach seiner Rückkehr und dem Bericht über die Ereignisse hatte Dänvârfij Wache gehalten, während er ruhte. Wie Hkuan’duv verdrängte sie die Trauer um die beiden toten Kastenbrüder und blieb auf ihre Mission konzentriert.

Hkuan’duv hatte allein im Zeit gelegen und diese Zeit für sich gebraucht, obwohl sie ihm keine neuen Erkenntnisse brachte. Die weiße Frau hatte zwei Angehörige seiner Kaste getötet und ihn außer Gefecht gesetzt, und zwar so schnell, dass er nicht ein einziges Mal zuschlagen konnte. Die zarte Statur der Unbekannten täuschte über ihre enorme Kraft hinweg.

Hkuan’duv stand auf und trat in die kalte weiße Welt. Als der Morgen graute, hatte sich der Wind gelegt, und es fiel kein Schnee mehr. Er strich sich über sein kurzes Haar, rückte das Gesichtstuch zurecht und zog sich die Kapuze über den Kopf. Wortlos schlichen Dänvârfij und er durch den Schnee und beobachteten Sgäilsheilleaches leeres Lager.

»Wann sind sie aufgebrochen?«, fragte Hkuan’duv nach einer Weile.

»Beim ersten Licht.«

Er fragte sich, ob sie warten oder den Spuren folgen sollten. »Vermutlich suchen sie die kleine Menschenfrau und den Majay-hì.«

»Lebten sie noch, als du entkommen bist?«, fragte Dänvârfij.

»Ja, aber der Majay-hì griff die weiße Frau an. Er kann nicht lange überlebt haben, und die kleine Frau dürfte kurz nach ihm gestorben sein. Wir müssen nur warten, bis Sgäilsheilleache ihre Leichen entdeckt und zum Lager zurückkehrt.«

Dänvârfij machte ihm keine Vorwürfe, weil er ihre Kastenbrüder zurückgelassen hatte, aber trotzdem empfand Hkuan’duv dies als Schande. Er bedauerte sehr, dass er Kurhkâge und A’harhk’nis liegen gelassen hatte, ohne die Ahnen zu bitten, sich ihrer Seelen anzunehmen.

»Sie waren tot und du noch am Leben«, sagte Dänvârfij. »An deiner Stelle hätte ich mich ebenso verhalten.«

»Deine Anteilnahme bringt uns bei unserer Mission nicht weiter«, erwiderte er.

Größere Sorgen plagten ihn. Zwei andere Angehörige seiner Kaste suchten dort, wo er der weißen Frau begegnet war. Sgäilsheilleache und Osha wussten nicht, welche Gefahr ihnen drohte. Alles in ihm drängte danach, sie zu warnen, aber das konnte er nicht, ohne seine Präsenz zu verraten.

»Die Erfüllung unserer Mission wird jetzt schwerer«, sagte Dänvârfij. »A’harhk’nis kannte sich in der Wildnis aus, aber das gilt auch für dich. Vielleicht sollten wir sie bei ihrer Suche beobachten.«

»Noch nicht«, erwiderte Hkuan’duv. »Wir warten. Ob sie die Leichen finden oder nicht, sie müssen zurückkehren. Es ist sinnlos, wenn wir uns in Gefahr begeben.«

Dänvârfij rückte näher an Hkuan’duv, damit sie sich gegenseitig wärmen konnten.

Wynn rührte sich, und Erinnerungen an die vergangene Nacht kehrten zurück: die ermordeten Anmaglâhk, der wie tot in den Schnee sinkende Chap und die weiße Frau. Erschrocken öffnete sie die Augen und setzte sich auf.

Ein fahles orangefarbenes Glühen fiel auf alte Steinwände, aber Wynn konnte sich nicht daran erinnern, wo sie war.

Ich bin hier.

Sie entdeckte Chap auf der anderen Seite des Raums – er blickte durch den Eingang hinaus. Reste von Angeln wiesen darauf hin, dass es dort einst eine Tür gegeben hatte.

Das orangefarbene Licht stammte von einer Kohlenpfanne, die auf einem Dreibein ruhte. Sie musste später hereingebracht worden sein, denn sie hatte sich noch nicht in diesem Raum befunden, als Wynn zu Boden gesunken war.

Die Pfanne enthielt keine Kohlen, sondern faustgroße Kristalle, die wie Kohlen glühten. Mehr Wärme als Licht ging von ihnen aus – die Temperatur im Zimmer war bereits über den Gefrierpunkt gestiegen.

»Wie lange habe ich geschlafen?«, fragte die junge Weise.

Chap hielt den Blick nach draußen gerichtet. Der Tag hat begonnen. Erste Sonnenstrahlen fallen in den Flur.

Leichte Übelkeit erfasste Wynn, als sie Chaps Worte mental wahrnahm. Schmerz pulsierte in ihrem rechten Bein, aber sie fühlte wieder die Zehen. Sie kroch dorthin, wo Chap Wache hielt, erinnerte sich an durchsichtige Wölfe und Raben, an wogende Schatten.

»Sind sie noch da draußen?«, fragte sie.

Sie erscheinen und verschwinden, aber sie sind immer da.

»Was sind sie?«, flüsterte Wynn.

Chap schwieg einen langen Moment. Untote. Aber ich habe noch nie von solchen Tieren gehört, ganz zu schweigen von den Geschöpfen, die nur Schatten sind und doch mehr.

Wynn kniete und blickte ebenfalls in den Flur hinaus. Zuerst fiel ihr nichts auf, doch dann bemerkte sie etwas Dunkles, das sich im Flur bewegte.

»Wir sind Gefangene«, flüsterte sie. »Aber warum lässt uns die weiße Frau am Leben?«

Chap antwortete nicht, und Wynn fragte sich, wo die weiße Untote sein mochte. Sie holte ihren Kaltlampen-Kristall hervor und rieb ihn.

Der Raum, in dem sie sich befanden, maß etwa zwölf mal vierzehn Schritte und wies außer dem Eingang keine anderen Öffnungen auf. An zahlreichen Stellen der Steinwände zeigten sich tiefe Kratzer. Ein alter Tisch an der Rückwand war halb zur Seite gekippt, und was einst auf ihm gelegen hatte, war auf den Boden gefallen. Eiserne Halterungen für Regale ragten aus der rechten Wand, doch die zerbrochenen Reste des untersten Bretts lagen verstreut zwischen spröde und brüchig gewordenen Pergamenten und Büchern.

»Wo sind wir?«

Chap knurrte in der türlosen Öffnung, gab aber keine Antwort.

»Gestern Nacht …«, sagte die junge Weise. »Du hast die Suche nach mir nicht aufgegeben.«

Chap drehte kurz den Kopf und leckte ihr die Hand.

Wynn war durstig, doch es gab nirgends etwas zu essen oder zu trinken. Dann bemerkte sie zwei kleine Flaschen bei den Gegenständen in der Nähe des gekippten Tisches. Sie trat darauf zu, bückte sich und nahm eine von ihnen, musste jedoch feststellen, dass sie einst Tinte enthalten hatte. Die Stiele von Federkielen lagen in dem Durcheinander; ihre Federn waren längst verrottet.

»Wir sind in einem alten Arbeitszimmer«, sagte Wynn und sah sich die Regale an.

Einige Bücher waren so alt, dass Schimmel die Buchdeckel zerfressen hatte. Wynn wagte es nicht, sie zu berühren, aus Angst, sie könnten zerbrechen.

Ein anderes Regal enthielt Pergamentrollen und Tierhäute. Wynn verstand genug von alten Archiven, um nicht der Versuchung nachzugeben, irgendetwas anzufassen – die Schriftrollen hätten zu Staub zerfallen können. In einem weiteren Regal bemerkte sie Baumrindenstücke mit Zeichen auf der Innenseite.

Andere Werke bestanden aus Dutzenden von Blättern, zusammengehalten von dünnen Platten aus gehärtetem Leder oder Holz. Ein Bündel steckte zwischen zwei Eisenplatten jeweils in der Größe eines Spielbretts.

»Chap … Komm her und sieh dir dies an!«

Wirf zuerst einen Blick auf die Wände!

Wynn sah über die Schulter – Chap hatte sich nicht umgedreht. Warum sollte sie einen Blick auf die alten zerkratzten Mauern werfen? Sie trat näher und leuchtete mit ihrem Kristall.

Die Kratzer in den Wänden waren Zeichen.

Das Licht des Kristalls fiel auf zahlreiche, im Lauf von vielen Jahren verblichene Schriftzeichen. Teile von Worten und Sätzen, begleitet von sonderbaren Symbolen, bedeckten die Wände. Alles bildete ein wildes Durcheinander; manchmal waren Worte sogar übereinander geschrieben. Wynn versuchte, einem langen Satz zu folgen.

Zumindest glaubte sie, dass es sich um einen Satz handelte. Sie konnte ihn nicht entziffern; er schien endlos zu sein, bestand aus Worten, die nicht alle aus der gleichen Sprache stammten. Selbst bei den Symbolen gab es teilweise erhebliche Unterschiede, und manche waren unleserlich geworden.

Ein Wort bestand aus Heiltak-Zeichen, einem Vorläufer von Wynns numanischer Muttersprache, aber die Buchstaben formten Worte einer anderen Sprache, die sie nicht kannte. Einigen altsumanischen Worten folgten ein unvertrautes Ideogramm und dann eine Gruppe von Strichen und Punkten. Wynn entdeckte ein Zeichen, bei dem es sich vielleicht um eine Zwergenrune handelte, aber sie war so verwittert, dass sie nicht sicher sein konnte.

Zwischen den einzelnen Ansammlungen von Schriftzeichen und Symbolen schien es keinen Zusammenhang zu geben – sie wirkten wie hingekritzelt, weil der Autor nichts anderes gefunden hatte, auf das er schreiben konnte. Im Lauf der Zeit waren alle erreichbaren Stellen beschrieben worden. Es erstaunte Wynn, dass die vom unbekannten Schreiber verwendete Tinte so lange Zeit überdauert hatte.

Sie wich zurück, bis all die Worte und Sätze zu einer wirren Masse verschmolzen.

Sieh dir jetzt die Bereiche bei der Tür an!

Chaps Worte überraschten Wynn – offenbar hatte er sich vor ihrem Erwachen umgesehen. Sie trat zur türlosen Öffnung und fand eine lange Kolonne aus einzelnen … Wörtern? Zumindest sah es danach aus, obgleich Buchstaben und Symbole aus verschiedenen Sprachen stammten.

Die obersten Zeilen waren stark verblasst – jemand schien im Lauf der Jahre von oben nach unten geschrieben zu haben. Auf halbem Wege zum Boden erkannte Wynn etwas, das nach den Betonungszeichen zu urteilen altes Elfisch zu sein schien, mit seltenen êdänischen Schriftzeichen geschrieben. Weiter unten folgte Altsumanisch, und ganz unten, dicht über dem Boden, entdeckte sie eine Art von … Belaskisch?

Und jede Zeile enthielt nur ein Wort.

Die Symbole unterschieden sich, aber sie formten immer zwei Silben beziehungsweise Lautfolgen.

»Li…kun«, las Wynn und sah zu Chap. »Kennst du dieses Wort?«

Ich glaube, es ist mehr als nur ein Wort …

Wynn betrachtete die vielen Wiederholungen. »Ein Name?«

Chap drehte langsam den Kopf und betrachtete die Kolonne, schaute dann wieder in den Flur.

Ich glaube, es ist ihr Name.

Wynn blickte ebenfalls hinaus und befürchtete, die weiße Frau könnte plötzlich erscheinen, wie von ihrem Namen gerufen.

»Bisher haben uns die Schattentiere in Ruhe gelassen. Vielleicht halten sie sich weiterhin von uns fern.«

Sie achten nur darauf, dass wir diesen Raum nicht verlassen. Chap richtete sich auf und lief durchs Zimmer, den Blick auf die Wände gerichtet. Kannst du etwas davon lesen?

»Nein, eigentlich nicht. Ich kenne einige der Sprachen, und manche Symbolgruppen sind mir vertraut. Aber viele Schriftzeichen passen nicht zu den Sprachen, für die sie verwendet wurden.«

Wynn rieb erneut den Kristall und hielt ihn dicht an eine Stelle neben den Regalen.

»Alte pränumanische Sprachen … und Êdänisch, eine alte Elfensprache«, flüsterte sie.

Kannst du es lesen?, fragte Chap noch einmal, und seine mentalen Worte klangen ungeduldig.

»Das habe ich dir doch schon gesagt, nein!« Wynns Ärger entstand aus Furcht. »Ich verstehe nur das eine oder andere; die meisten Worte lassen sich nicht mehr entziffern.«

Versuch es an einer anderen Wand!

Die junge Weise sah sich um und entdeckte kleinere Schriftzeichen über den Resten des Tisches. Sie ging hinüber und versuchte, nicht auf die spröden Pergamente zu treten, die seit vielen Jahren auf dem Boden lagen. Wieder leuchtete sie mit dem Kristall und sah sich die Zeichen genau an, ohne sie zu berühren.

»Dieses Wort … Es sieht nach ursprünglichem Iyindu aus, nach Altsumanisch, und nur ein Teil davon ist mit den richtigen Buchstaben geschrieben.«

Wie lautet das Wort?

»Gib mir einen Moment!«, schnauzte Wynn. »Es ist praktisch ein toter Dialekt!«

Sie versuchte, die Lautfolge zu rekonstruieren. Die mittleren Buchstaben waren verblasst und nur schwer zu erkennen. Wynn seufzte verärgert. Als sie noch genauer hinsah, ergaben Anfang und Ende allmählich einen Sinn, und sie glaubte, sich vage an das Wort zu erinnern. Hatte sie es an anderen Stellen gelesen?

Sie kehrte zu der Stelle neben den Regalen zurück und richtete ihre Aufmerksamkeit auf ein im êdänischen Elfisch geschriebenes Wort. Anfang und Ende waren genauso beschaffen wie bei dem iyindu-sumanischen Wort, und in diesem Fall ließ sich der Mittelteil deutlich erkennen.

»Il’Samar!«, flüsterte Wynn.

Was? Chap trat neben sie. Wo steht dieses Wort?

Wynn zeigte es ihm.

»Samar« bedeutete so viel wie »Gespräch im Dunkeln«, und »Il« war die Vorsilbe für ein Substantiv. Manchmal wurde es auch für Titel oder Vorfahren einer bestimmten Person benutzt. Der alte Nekromant Ubâd hatte, von Magiere und Chap in Dröwinka in die Enge getrieben, diesen Namen geschrien.

Wynn eilte erneut zur Wand beim Schreibtisch und achtete nicht darauf, wohin sie trat, mit dem Ergebnis, dass ein altes Pergament unter ihren Füßen zerbröselte.

Jetzt verstand sie das Wort mit der verblichenen Mitte, ging immer wieder den Satz durch, zu dem es gehörte, und versuchte, mehr zu verstehen.

»›Wächter‹ …«, las sie. »Plural. ›Wächter für‹ … irgendetwas, und dann folgt ›Il’Samar‹.«

Wynn sank enttäuscht zu Boden.

»Mehr kann ich nicht entziffern. Diese Frau … Gehört sie zu den Wächtern? Welstiel sprach von ›Alten‹, die etwas bewachen. Die Frau scheint untot zu sein, doch das würde bedeuten …«

Die Handschrift überall an den Wänden schien die gleiche zu sein, obwohl Wynn angesichts der rauen Oberfläche nicht ganz sicher sein konnte. Sie glaubte, Hinweise auf mehr als nur einen »Wächter« gefunden zu haben.

Die junge Weise suchte bei den Dingen auf den Regalen und nahm schließlich ein in Eisen gebundenes Bündel, das einigermaßen in Ordnung zu sein schien. Es war schwerer als erwartet, und Wynn kniete sich hin, legte das Bündel vorsichtig auf den Boden. Der alte Lederriemen, der es zusammenhielt, war im Lauf der Zeit hart wie Holz geworden.

»Bitte beiß dies für mich durch.«

Chap nagte an dem Riemen. Wonach suchst du?

»Nach weiteren aufgeschriebenen Wörtern in anderen Handschriften.«

Der Riemen gab nach, und Wynn hob die obere Eisenplatte.

Die »Blätter« des Bündels waren quadratisch und bestanden aus dünn gezogener Tierhaut – sie hatten die Zeit besser überstanden als Pergament oder Papier. Inzwischen waren sie hart wie Stein und so dunkel geworden, dass es nicht leichtfiel, die Schriftzeichen auf ihnen zu erkennen. Auf der Suche nach Unterschieden in der Handschrift hob Wynn mehrere Blätter auf einmal.

Und sie wurde fündig.

Mindestens drei verschiedene Personen hatten an diesem »Buch« geschrieben. Im Gegensatz zu den Wörtern an den Wänden passten in diesem Fall Sprache und Schriftzeichen zueinander. Wie alt war dieses Bündel?

»Es gibt noch andere Wächter«, flüsterte Wynn, und erneut regte sich Furcht in ihr. »Vielleicht zwei oder drei. Sind sie auch hier?«

Nein. Sie ist jetzt die Einzige.

Wynn hob den Blick. »Wir haben nur den Flur und dieses Zimmer gesehen. Aber mindestens drei verschiedene Personen haben diese Seiten geschrieben.«

Ich spüre nur sie. Ich fühle nicht einmal ihre Schattendiener, nur die weiße Frau.

Wynn sah hinaus in den Flur, dann wanderte ihr Blick wieder über die vielen an die Wände geschriebenen Wörtern.

Sie ist allein, seit unglaublich langer Zeit. Und selbst bevor die anderen verschwanden … Ich glaube, sie ist hier seit …

»Seit dem Krieg«, flüsterte Wynn. »Seit der Vergessenen Geschichte und dem Krieg, der sie auslöschte.«

Wynn fröstelte in ihrem Mantel, obwohl die in der Kohlenpfanne glühenden Kristalle das Zimmer wärmten.

Wie viele Sprachen kannst du lesen?

Die junge Weise überlegte. »Nun, meine Muttersprache, Numanisch, einige ihrer Vorgänger … äh … klassisches Strawinisch, natürlich Belaskisch und die Silbenschrift meiner Gilde, allgemeines Zwergisch sowie die förmlichen Varianten, modernes und altes Elfisch, darunter Êdänisch, obwohl ich sagen muss, dass ich nicht alle Feinheiten der von den An’Cróan gesprochenen Unterart verstehe. Hinzu kommt natürlich Sumanisch, allerdings nicht die älteren Wüstendialekte …«

Wynn! Chap senkte den Kopf, und seine Schnauze deutete auf die Seiten aus Tierhaut. Was steht hier geschrieben?

Sie leuchtete mit dem Kristall. »Die Sprache auf dieser Seite ist sehr altes Sumanisch, vermutlich Iyindu, und die Handschrift ist eine andere als die an den Wänden. Mit dem modernen Dialekt kenne ich mich einigermaßen aus, nicht aber mit den alten, aus der Wüste stammenden Mundarten.«

Wynn legte Chap die Hand auf die Schulter. »Die verschiedenen Abschnitte sind nicht namentlich gekennzeichnet, aber hier wird ein Name erwähnt. ›Volyno‹, in der Vergangenheitsform. Daraus schließe ich, dass er nicht mehr da war, als dies geschrieben wurde. Moment mal … Hier ist noch ein Name, ein sumanischer: ›Häs’saun‹. Vielleicht der Autor dieses Textes, aber ich könnte mich auch irren.«

Wynn lehnte sich zurück und ließ den Kristall in ihren Schoß sinken. Chap schnaufte, und es klang enttäuscht und verärgert.

Im Flur bewegte sich etwas und weckte ihre Aufmerksamkeit. Die durchsichtige Gestalt eines Schattenwolfs erschien in der Düsternis. Das Geschöpf war kohlschwarz, auch die Augen.

Der Wolf blieb in der Tür stehen, doch etwas Helles näherte sich ihm von hinten – und trat durch das Schattentier in den Raum.

Wynns Hand grub sich tief in Chaps Fell, als sie die weiße Frau erkannte.

Gertenschlank war sie und kaum größer als Wynn. Das Glühen der Kristalle in der Kohlenpfanne gab ihrer bleichen Gestalt einen leicht rötlichen Ton. Glänzendes Haar fiel wie schwarze Seide auf ihre Schultern und die kleinen Brüste. Ihre Augen waren farblos und blickten so kalt, als bestünden sie aus Eis. Selbst die Lippen der Frau waren bleich.

Wynn bemerkte, dass die Unbekannte einen Reif am Hals trug. Durch den Schleier des schwarzen Haars war nur ein Teil davon zu erkennen.

»Chap … der Reif um ihren Hals«, flüsterte Wynn. »Wie Magieres Thôrhk

Die Frau kam bei diesen Worten einen Schritt näher, und Wynn wich hinter Chap zurück, der warnend knurrte.

Die täuschend zarte Untote starrte Wynn an und schenkte Chap überhaupt keine Beachtung. Mit den Fingerkuppen strich sie sich über die eigenen Lippen und senkte dann den Blick zu den Tierhaut-Blättern auf dem Boden.

Sie kniff die sonderbar geformten Augen zusammen, und ihre Lippen teilten sich über zusammengebissenen Zähnen. Ein Zittern erfasste sie, und die Finger wurden krumm wie Krallen.

Sag den Namen!, riefen Chaps Gedanken. Ihren Namen!

Panik stieg in Wynn hoch – sie wusste nicht, was er meinte.

Den Namen neben der Tür.

»Li…kun«, flüsterte Wynn.

Die Frau erstarrte, und ihre fratzenhaft gewordenen Züge glätteten sich.

»Li-kun«, sagte Wynn lauter.

Die Augen der Frau bekamen wieder normale Größe, und Verwirrung vertrieb den Zorn aus ihrem Gesicht.

Ihr Blick huschte über die Wände, über die vielen geschriebenen und gekritzelten Wörter, bis ihr schwindelig zu werden schien und sie schwankte. Langsam drehte sie sich, kehrte Wynn den Rücken zu … und sprang zur Wand neben der Tür.

Dort ging sie in die Hocke und strich mit der Hand über die Kolonne aus dem so oft geschriebenen Namen. Als sie den Boden erreichte, drehte sie sich erneut um und blieb hocken, mit den Knien an ihren Brüsten.

Beweg dich nicht!, warnte Chap. Tu nichts, was sie stören könnte!

Wynn beobachtete, wie sich die weiße Frau mit den Fäusten an den Kopf schlug, als wollte sie eine blockierte Erinnerung lösen. Mehrmals holte sie zischend Luft. Aber Untote mussten nicht atmen, und in ihren Mundwinkeln zuckte es immer wieder.

Versuchte sie zu sprechen? Aber es kam kein Laut aus ihrem Mund.

»Volyno?«, flüsterte Wynn. »Häs’saun?«

Genug!, rief Chap.

Strähnen des schwarzen Haars fielen der Frau ins Gesicht, als sie den Kopf senkte. Der Blick ihrer farblosen Augen richtete sich auf Wynn.

In ihren kalten Tiefen sah Wynn … Sehnsucht nach etwas.

Chap stand vor Wynn, zum Sprung bereit.

Er hatte gehofft, in der Burg von Magieres Träumen mehr darüber herauszufinden, was ihm die Feen gestohlen hatten und warum. Er war auch davon ausgegangen, dort Antworten auf einige Fragen zu entdecken, die Leesil und Magiere sowie ihre Zukunft betrafen – und den vergessenen Konflikt und einen Feind mit vielen Namen.

Dieser Ort war alt, vielleicht älter als alle anderen Festen auf der Welt. Deutlich spürte er, dass diese Mauern seit vielen Jahrhunderten ohne Leben waren. Und die weiße Frau mochte noch älter sein.

Die Untote sah Wynn an und versuchte nicht mehr zu sprechen.

Deine Stimme … Gesprochene Worte verblüffen sie, teilte Chap der jungen Weisen mit. Vielleicht hat sie dich deshalb nicht getötet.

Wynn sah auf ihn hinab.

Er spekulierte nur und verabscheute anscheinend die Vorstellung, die Erinnerungen einer verrückten Untoten anzuzapfen.

Sie ist so lange allein gewesen, dass sie den Klang gesprochener Worte vergessen hat. Offenbar kann sie sich nur an Geschriebenes erinnern.

Wynns Gesicht berührte seine Ohren, als sie flüsterte: »Was jetzt?«

Sprich zu ihr! Ich versuche, einen Blick in ihre Erinnerungen zu werfen.

»Bist du sicher?«

Na los! Nutz die Gelegenheit, solange sie ruhig ist!

Wynn rutschte auf den Knien nach vorn und zeigte auf sich.

»Wynn«, sagte sie. »Und du bist … Li-kun?«

Die Frau neigte den Kopf wie eine Krähe, oder vielleicht mehr wie ein Falke.

Chap stellte vorsichtig eine Verbindung mit ihrem Bewusstsein her. Er sah nichts. In der weißen Frau schien es keine Erinnerungen zu geben, die sich als Gedanken manifestierten.

Versuch es noch einmal mit den anderen Namen!

»Wer ist Volyno … oder Häs’saun?«

Beim zweiten Namen flammten Bilder durch den Kopf der weißen Frau.

Weiße Gesichter erschienen … und kalte Berggipfel, eine endlose Wüste, ein auf Stein hämmernder Kobold, eine große Eisentür, eine bleiche, kopflose Leiche auf steinernem Boden … Es war ein plötzlicher Mahlstrom aus Bildern, und Chap wurde schwindelig.

Nenn noch einmal ihren Namen!

Wynn deutete auf die Frau. »Li-kun … ist das dein Name?«

Der Mund der weißen Frau klappte auf. Sie beugte sich vor, auf alle viere, und das lange schwarze Haar strich über den Boden. Ein heiseres Krächzen bahnte sich einen Weg aus ihrer Kehle und ahmte die beiden von Wynn gesprochenen Silben nach.

»Li’kän?«, wiederholte Wynn und änderte die Betonung.

Die Untote musterte sie fasziniert und kroch über den Boden.

Chap spannte die Muskeln und machte sich bereit, die Frau anzuspringen, doch sie wurde langsamer und zögerte. Sie hob eine Hand und streckte sie Wynn entgegen. Chap zitterte.

Mit dem Zeigefinger berührte sie Wynns dünnes braunes Haar.

Die junge Weise zuckte nicht zusammen und rührte sich selbst dann nicht, als der Finger über ihre Lippen wanderte. Als er das Kinn erreichte und dann zurückwich, schluckte Wynn und deutete zur Wand neben den Regalen.

»Hast du das geschrieben?«

Die Ruhe wich erneut aus Li’käns Gesicht.

Sie begann damit, sich die Arme mit ihren harten weißen Fingernägeln zu zerkratzen. Die Wunden schlossen sich so schnell, dass nur wenig schwarze Flüssigkeit herauskam. Immer wieder zischte und fauchte sie – wenn es Sprechversuche waren, konnte Chap kein Wort verstehen.

Li’kän richtete sich halb auf und fuchtelte wütend mit den Armen. Dann sank sie wieder auf alle viere und drehte sich wie ein Hund im Kreis.

Wynn wich zurück, aber Chap verharrte an Ort und Stelle.

Er fürchtete, dass die Untote keine echten Erinnerungen mehr besaß – oder dass diese ebenso verblasst waren wie viele der Schriftzeichen an den Wänden.

Chap konzentrierte sich und tastete erneut nach Li’käns Bewusstsein.

Schemenhafte, lautlose Bilder wirbelten durch einen Geist, in dem es keine Rationalität mehr gab. Plötzlich erschien etwas anderes: der an einem dunklen Ort zusammengerollte Leib einer großen schwarzen Schlange. Hinter ihr sah Chap kurz natürliches Gestein, wie die Wand einer Höhle. Das Bild verschwand sofort wieder und wich einem anderen, das ihn selbst zeigte.

Nein, nicht ihn, sondern einen Wolf. Aber er hatte die besonderen hellblauen Augen eines Majay-hì.

Es war einer von Chaps Vorfahren, wie jene, die er in den Erinnerungen des Ältesten Vaters gesehen hatte. Li’kän erinnerte sich an eines der ersten Fleisch gewordenen Feenwesen, die während des vergessenen Kriegs auf die Welt gekommen waren.

»Il…sar…mar …«, brachte die weiße Frau hervor, und dann zischte und fauchte sie wieder.

Il’Samar – nur dieses eine Wort verstand Chap.

Warum dachte sie an inkarnierte Feen – oder irgendwelche Feen – und dann an den Feind mit den vielen Namen?

Chap zog seine Gedanken aus dem Bewusstsein der Untoten zurück und fragte sich noch immer, warum es in ihr keine Erinnerungen an sprechende Personen gab.

Die untote Li’kän konnte schreiben, wenn auch nicht zusammenhängend. Doch die gesprochene Sprache hatte sie vor so langer Zeit vergessen, dass sie sich nicht einmal an den Klang ihres eigenen Namens erinnerte.

Magiere spürte eine untote Präsenz in der Nähe, aber sie war völlig unvertraut. Sie kam aus den Felsen, aus dem Schnee und aus der Luft, ohne erkennbaren Ursprung, auf den sie sich konzentrieren konnte. Und der Drang in ihr forderte sie auf, den Weg nach oben fortzusetzen.

Sie roch Blut im leichten Wind.

Osha beugte sich in die Felsrinne und rief: »Sgäilsheilleache!«

Sgäile eilte an Magiere vorbei. Sie folgte ihm, Leesil blieb hinter ihr. Sie hatten Osha fast erreicht, als er mit den Knien in den Schnee sank.

Vor ihm lag eine reglose Gestalt.

»Kurhkâge«, flüsterte Sgäile.

Der große Elf hatte nur ein Auge, und es war weit aufgerissen. Eine dünne Schicht Schnee hatte sich auf seinem braunen Gesicht angesammelt, und ein weißes Tuch bedeckte teilweise den graugrünen Mantel. Auf der Brust zeigte sich gefrorenes Blut an den Rändern eines Loches, durch das man Teile der Rippen sah.

Leesil zischte etwas, und Magiere wandte sich ab.

Weiter vorn, jenseits der von Kurhkâge zurückgelassenen Blutspur, lag noch etwas anderes im Schnee.

Ein abgetrennter Kopf, der Halsstumpf voller Blut.

»A’harhk’nis!« Sgäile hauchte den Namen und wirkte völlig fassungslos.

»Wie konnte das geschehen?«, stöhnte Osha auf Elfisch.

Sgäile winkte ab, bedeutete ihm zu schweigen.

Magiere spürte ihren Kummer nur am Rande – sie war zu sehr damit beschäftigt, die Dhampir in ihrem Innern unter Kontrolle zu halten. Wenn sie zu Sgäile getreten wäre, hätte sie Antworten von ihm verlangt. Warum befanden sich andere Anmaglâhk in diesen Bergen, so nahe bei ihrem Ziel?

Leesil blieb neben Sgäile stehen, und sein Gesichtsausdruck war schwer zu deuten. »Du hast sie gekannt?«

»Ja«, erwiderte Sgäile leise. »Kurhkâge sprach für Osha, als er um Aufnahme in unsere Kaste bat.«

Osha starrte wortlos und ohne zu blinzeln auf die Leiche hinab, bis seine Augen zu tränen begannen.

»Was machten sie hier oben?«, fragte Leesil.

Die leise Drohung in seiner Stimmung stimulierte Magieres Zorn. Der Kummer verschwand aus Sgäiles Gesicht und wich Wachsamkeit.

»Ich weiß es nicht.«

»Dann rate!«, sagte Leesil scharf. »Wie hängt dies mit uns zusammen?«

Sgäile wandte sich ihm zu. »Was soll das heißen?«

Leesil antwortete nicht. Er stand einfach nur da und und betrachtete den im Schnee liegenden Kopf.

Der Geruch von Blut stieg Magiere deutlicher in die Nase.

»Ich schwöre, dass ich es nicht weiß«, sagte Sgäile und mied Leesils Blick. »Ich weiß nichts hiervon. Kurhkâges Hände … Er hatte nicht einmal eine Waffe gezogen.«

Leesil trat an Osha vorbei und ging vor dem toten Anmaglâhk in die Hocke.

Magieres Blick galt dem Kopf. Das Gesicht war halb von Schnee bedeckt, aber man konnte trotzdem Empörung darin erkennen.

»Könnte es hier noch mehr geben?«, fragte Leesil. Für Magiere schien seine Stimme aus weiter Ferne zu kommen.

»Nein«, antwortete Osha auf Belaskisch. »Unsere Kaste … lässt Tote nicht einfach so zurück. Wir jetzt angemessenes Ritual durchführen.«

Leesil sprach lauter. »Nicht bevor wir Wynn und Chap gefunden haben!«

Magiere blickte die Rinne hoch, und nicht weit entfernt bemerkte sie einen länglichen kleinen Hügel.

Sie wusste, dass dort der zweite Leichnam lag, bückte sich und nahm den Kopf. Gefrorenes Haar knisterte in ihren Händen.

»Magiere?«, rief Leesil.

»Was macht sie da?«, fragte Sgäile besorgt.

Etwas, das sie seit Bela nicht getan hatte, seit der Jagd auf einen Untoten, der Adlige ermordet hatte. Sie hatte das Kleid eines toten Mädchens in der Hand gehalten und gesehen, wie es Welstiel zum Opfer gefallen war.

Zwei tote Anmaglâhk lagen hier, und sie spürte eine völlig neue untote Präsenz. Instinkt und Blut erzählten ihr einen Teil der Geschichte. Und Chap und Wynn wurden noch immer vermisst.

Magiere zitterte innerlich, als sie daran dachte, was sie durch den Kontakt mit dem Opfer des Untoten sehen würde. Aber sie musste Bescheid wissen. Ihr blieb keine andere Wahl.

»Magiere!«, rief Leesil. »Nicht!«

Dunkelheit wogte heran, und sie befand sich wieder in dem Schneesturm der vergangenen Nacht.

Sie sah auf einen Anmaglâhk hinab, der direkt vor ihr im Schnee lag, zwischen ihren weißen Beinen. Bevor er seine lange, gewölbte Klinge ziehen konnte, packte sie sein Gesicht. Ihre weißen Finger glitten nach oben, in sein Haar, und dann bohrte sie ihm die Zähne in den Hals.

Haut, Muskelgewebe und Sehnen gaben unter ihren Kiefern nach. Blut strömte ihr in den Mund. Mit einem Ruck riss sie ihm den Kopf ab, richtete sich auf und betrachtete die blutige Masse in ihrer anderen Hand.

Sie fühlte nicht das Bedürfnis, seine Lebenskraft zu trinken. Sie war bereits satt – etwas ernährte sie die ganze Zeit über, ein unsichtbares Etwas.

Plötzlich schnappte etwas nach ihrem Nacken.

Magiere wirbelte herum und sah Chap: das Nackenfell gesträubt und die Zähne gefletscht. Sie versetzte ihm einen Schlag mit dem Handrücken, der ihn gegen die Wand der Rinne schleuderte – er rutschte daran herab und blieb im Schnee liegen.

Magiere hätte am liebsten geschrien. Sie wollte zu ihm laufen.

Der kleine weiße Körper, in dem sie steckte, drehte sich zu einer Gestalt im Zugang der Rinne um.

Magiere musste beobachten, wie ihre schmale weiße Hand nach vorn schoss und Wynn an der Kehle packte. Und dann zuckte sie zusammen und wich zurück, als sie Wynns Stimme hörte.

Sie wusste nicht, warum die Worte sie schmerzten und ihr Angst machten … und gleichzeitig das Verlangen nach mehr in ihr weckten. Sie hielt Wynns Hand fest, zerrte sie durch die Rinne, und das Geräusch von Chaps kratzenden Pfoten blieb hinter ihnen zurück.

Sie erreichte das Ende der Rinne, und etwas traf dort die Seite ihres Gesichts.

Gier regte sich plötzlich in Magiere.

Sie wankte im Schnee zurück, und jemand schlug ihr den Kopf aus der Hand. Ihr Kiefer schmerzte, doch nicht von länger werdenden Zähnen. Sie schmeckte Blut, echtes Blut …

»Was machst du da?« Leesil klang fast hysterisch. »Genügt dir nicht das Durcheinander der Träume in deinem Kopf?«

Er hatte sich über sie gebeugt, eine Hand auf ihrer Brust und die andere noch immer zur Faust geballt. Nicht Zorn flackerte in seinen bernsteinfarbenen Augen, sondern fast so etwas wie Panik.

Magieres Augen begannen zu brennen. Der Himmel über Leesil war hell, aber nicht so hell wie das Haar, das sein braunes Gesicht umgab.

Sie stemmte sich hoch.

»Deine Augen …«, flüsterte Leesil. »Sie sind fast ganz schwarz!«

Sgäile und Osha standen hinter ihm; in ihren Gesichtern zeigten sich Wachsamkeit und Sorge.

Magiere wollte durch die Rinne laufen.

Es war sinnlos geworden, dem Drang zu widerstehen, denn er führte sie zu Wynn und Chap – und zu dem weißen Geschöpf. Sie musste weiter nach oben.

Mit beiden Händen ergriff sie Leesil am Mantel, und Tränen rannen ihr aus den brennenden Augen.

»Muss … gehen«, knurrte sie. Es fiel ihr schwer, die eigenen Worte zu verstehen. »Jetzt … zu Wynn und … Chap.«

»Was passiert mit ihr?«, fragte Sgäile.

Leesil legte ihr die Hände auf die Wangen und hielt ihr Gesicht. Sie lehnte die Stirn an seine Brust.

Sie hatte nach wie vor das Gefühl, die ganze Zeit über Nahrung zu bekommen, als steckte ein Teil von ihr noch immer in dem weißen Wesen, das diese Anmaglâhk getötet hatte. Aber seltsamerweise ging damit nicht das Empfinden von Sattheit einher. Sie krümmte die Finger, bis sich ihre Fingernägel in Leesils Lederhemd unter dem Mantel bohrten.

»Bitte«, hauchte sie.

»Geh!«, sagte er.

Magiere sprang an ihm vorbei und lief durch die Rinne. Sgäile wich ihr aus, doch Osha erstarrte. Sie stieß ihn mit der Hand beiseite und begann damit, die Felswand am Ende der Rinne zu erklettern.

Irgendwo hinter ihr rief Leesil: »Wir folgen ihr! Verliert sie nicht aus den Augen! Sie weiß, wo sich Wynn und Chap befinden.«