19
Hkuan’duv und Dänvârfij folgten in sicherer Entfernung und ließen den Menschen einen großen Vorsprung. Als sie die von hohen Felswänden gesäumte Rinne erreichten, blieb Dänvârfij stehen und blickte starr und still auf Kurhkâges Leiche hinab.
A’harhk’nis Kopf lag auf der anderen Seite. Inzwischen musste Sgäilsheilleache wissen, dass er verfolgt worden war, überlegte Hkuan’duv, und das weckte vielleicht zusätzlichen Argwohn in ihm.
Dänvârfij sank auf die Knie. »Wer oder was hat dies getan?«
Als Hkuan’duv am vergangenen Abend zum Lager zurückgekehrt war, hatte er nur wenige Details genannt, um nicht von Schock und Schmerz überwältigt zu werden.
»Ich glaube, die weiße Frau ist eine der menschlichen Untoten«, sagte er und fügte voller Kummer hinzu: »Unsere Kastenbrüder konnten sich nicht gegen sie wehren. Sie war zu schnell und zu stark.«
»Aber dies …« Dänvârfij deutete auf A’harhk’nis’ Kopf. »Einem von uns so etwas anzutun … Wir können sie nicht einfach so zurücklassen.«
»Wir führen das erforderliche Ritual durch, nachdem wir unsere Mission erfüllt haben.«
Dänvârfij blickte zu ihm hoch, und für einen Moment dachte er, dass sie widersprechen wollte. Dann wurde ihr Gesicht wieder zu einer ausdruckslosen Maske. Die Mission stand an erster Stelle, selbst wenn das Respektlosigkeit den Toten gegenüber bedeutete. Dänvârfij machte sich daran, durch die Rinne zu klettern.
Hkuan’duv folgte ihr und unterdrückte seine Beklemmung, als er an der Stelle vorbeikam, wo er das weiße Gesicht gesehen hatte, mit Augen so farblos wie Eis.
Sie erreichten das obere Ende der Rinne und sahen niemanden, doch es gab deutliche Spuren im Schnee. Stumm gingen sie weiter, brachten einen steilen Hang zwischen hohen Gipfeln hinter sich … und blickten über ein weites Hochplateau.
»Sieh nur«, hauchte Dänvârfij und streckte die Hand aus.
Eine alte Festungsanlage aus grauem Stein erhob sich über dem Plateau. Die beiden aufrecht gehenden Männer und ihre Schar aus geduckten Menschen näherten sich ihr.
Hkuan’duv verharrte am Rand des Hochplateaus, ging in die Hocke und hielt Ausschau. Dann bemerkte er die Abdrücke von Pfoten im Schnee.
Der Majay-hì hatte überlebt und war in der Nacht weitergelaufen, ohne die anderen. Hkuan’duv schloss die Augen und dachte darüber nach, was es nun zu tun galt.
War der Hund der weißen Frau gefolgt? Befanden sich beide im Innern der großen Burg? Alle Spuren führten dorthin, und vermutlich hatten auch Magiere und Sgäilsheilleache sie erreicht. Die weiße Frau, die so schwach wirkte und doch so stark war … Vielleicht hütete sie das alte Artefakt, das der Älteste Vater wollte. Ein Kampf um jenes Objekt schien unvermeidlich, aber wie sollten sie die Wächterin überwältigen? Und wie passten die anderen Menschen, die dort auf dem Plateau unterwegs waren, ins Bild?
»Wenn A’harhk’nis und Kurhkâge nichts gegen die bleiche Frau ausrichten konnten, so müssen wir davon ausgehen, dass auch Sgäilsheilleache und Osha keine Chance gegen sie haben«, sagte Dänvârfij. »Sie sind in Gefahr.«
»Sgäilsheilleache würde nie durch Tollkühnheit sein Schutzversprechen verletzen«, erwiderte Hkuan’duv. »Er würde seinen Mündeln nicht erlauben, einen aussichtslosen Kampf zu führen. Vielleicht verfügt er in dieser Sache über Kenntnisse, die uns fehlen.«
Hkuan’duv wusste nicht, was es mit dem Artefakt auf sich hatte und wo in der großen Festungsanlage es sich befand. Er wusste nur, dass Magiere es suchte, und er würde es ihr wegnehmen, wenn sie es gefunden hatte.
Er blickte über das weite Hochplateau und wartete darauf, dass sich die Menschen der Burg noch weiter näherten. Als sie für seine Elfenaugen kaum noch voneinander zu unterscheiden waren, wusste er, dass sie keine Verfolger bemerken würden. Zusammen mit Dänvârfij machte er sich auf den Weg.
Um ihre Präsenz vor eventuellen Rückkehrern zu verbergen, traten sie in die Fußstapfen, die sich bereits im Schnee zeigten. Als sie die Strecke hinter sich gebracht hatten, schlichen sie an der schneebedeckten Außenmauer entlang, bis sie auf ein eisernes Tor mit einem schiefen Flügel stießen und feststellten, dass alle Spuren hindurchführten. Daraufhin wichen sie ein Stück zurück und duckten sich hinter das alte Mauerwerk.
»Wenn Magiere Erfolg hat, kehrt sie mit dem Artefakt zurück«, sagte Hkuan’duv. »Wir verstecken uns und finden heraus, wie viele ihrer Begleiter überlebt haben. Wenn sie sich auf den Rückweg zu ihrem Lager machen, folgen wir ihnen in sicherem Abstand und erledigen sie zwischen den Felsen.«
»Aber wenn Sgäilsheilleache überlebt und …«
»Sein Schutzversprechen muss vor dem Anliegen des Ältesten Vaters zurückstehen. Sgäilsheilleache ist loyal. Er wird tun, was richtig ist.«
»Und wenn außer Magiere noch andere Widerstand leisten?«
»Die kleine Menschenfrau töten wir, aber das Halbblut darf nur außer Gefecht gesetzt werden.« Hkuan’duv zögerte und blickte übers Plateau. »Anschließend kümmern wir uns um unsere Toten und bringen das Artefakt zur Kaste, auf dass der Älteste Vater es sicher verwahrt.«
Dänvârfij dachte über seine Worte nach. Ihr Gesicht war hohlwangig; sie wirkte sehr müde. Sie hatten beide zu viele Tage und Nächte bei halben Rationen in dieser Eiswelt verbracht.
»Einverstanden, aber …«, begann sie.
»Hast du einen anderen Vorschlag?«, fragte Hkuan’duv.
»Nein, aber es widerstrebt mir, Sgäilsheilleache und Osha bei dieser Sache auf sich allein gestellt zu lassen, während wir ganz in der Nähe warten.«
Ihre Offenheit war immer bewundernswert. Hätte sie anders empfunden, wäre sie nicht Dänvârfij gewesen.
»Ich weiß«, sagte Hkuan’duv und zog sich den Mantel enger um die Schultern.
Beim Anblick von Osha, der ihr entgegeneilte, atmete Wynn erleichtert auf. Er trat näher, umarmte sie aber nicht.
»Geht es dir gut?«, fragte er.
Sgäile sprang von der Treppe herunter, ohne den Blick von Li’kän abzuwenden.
»Ich habe Durst«, sagte Wynn.
Osha griff unter seinen Umhang und holte einen ledernen Wasserbeutel hervor. Die junge Weise nahm ihn dankbar entgegen und beobachtete Magiere und Li’kän, die beide reglos dastanden.
Sgäile musterte die weiße Frau voller Abscheu und schien sich zu fragen, ob er die Gelegenheit nutzen und sie angreifen sollte.
»Warum rührt sie sich plötzlich nicht mehr?«, fragte Leesil.
Magieres Falchion lag noch immer auf dem Boden, doch der Blick ihrer schwarzen Augen war auf Li’kän gerichtet. Sie wirkte erschöpft.
Zuerst maß Wynn ihrem Verhalten kaum Bedeutung bei, aber dann erinnerte sie sich an die Gelegenheiten, als Magiere aus ihrem Dhampir-Zustand zurückgekehrt war. Anschließend hatte sie oft sehr müde gewirkt.
Li’kän schwankte wie benommen. Ihr kleiner Mund bewegte sich, als versuchte sie noch immer zu sprechen. Wynn trank Wasser, ging dann in die Hocke und schüttete etwas in ihre hohle Hand.
»Komm her, Chap«, flüsterte sie.
Der Hund sah kurz zu ihr und bewegte sich dann rückwärts, um die Untote weiterhin im Auge zu behalten. Als er getrunken hatte, schüttete Wynn noch mehr in die Hand, doch er achtete nicht darauf.
»Was ist los?«, fragte sie.
Ich kann ihre Worte nicht verstehen. Sie scheint zu jemandem zu sprechen, aber ich weiß nicht, zu wem. Außerdem ist mir ihre Tatenlosigkeit ein Rätsel.
Magiere blickte aus schwarzen Augen zu Wynn und ergriff ihre Hand.
»Chap glaubt, etwas beeinflusst Li’kän«, sagte die junge Weise und richtete sich auf. »Was machen wir jetzt?«
Sie alle waren Magiere bis hierher gefolgt, und Wynn hoffte, dass sie irgendwie wusste, worauf es nun ankam.
Magiere bückte sich und hob ihr Falchion auf. Sie sah zur Treppe und dem oberen Treppenabsatz, an den sich drei schmucklose Torbögen anschlossen. Dann ging ihr Blick kurz zu dem Gang, aus dem Wynn gekommen war.
»Dort entlang.«
Magiere hatte erst einen Schritt gemacht, als Sgäile zu ihr eilte.
»Du willst diesem Ungeheuer den Rücken kehren?«
Sein Ton beunruhigte Wynn, und das galt auch für den Blick, den er Li’kän zuwarf, während seine Hände erneut den Garottendraht spannten. Wie lange würde die weiße Frau passiv bleiben, wenn sie eine Gefahr spürte?
»Li’kän?«, fragte Wynn. »Kommst du mit?«
Magiere wirbelte herum und ließ Wynns Hand los. Sie schnitt eine zornige Grimasse, doch Li’kän stand noch immer reglos da, schien nichts zu hören und nichts zu sehen. Dann erbebte die Untote plötzlich, und sie verzog das Gesicht, schien damit auf Magiere zu reagieren.
»Wie hast du sie genannt?«, zischte Magiere.
»So lautet ihr Name«, antwortete Wynn. Die Gesichter der beiden Frauen wirkten wie Spiegelbilder; sie machten ihr Angst. »Li’kän ist hier seit langer, langer Zeit allein.«
Wynn fühlte sich von Magieres Blick durchbohrt. Mehr als einmal hatten die Dhampir, Leesil und auch Chap sie für ihre Anteilnahme einem gewissen Edlen Toten gegenüber getadelt.
»Dieser Ort ist voller Geheimnisse«, sagte Wynn mit fester Stimme. »Chap glaubt, dass wir Hilfe brauchen, um ihnen auf den Grund zu gehen. Nur dann können wir finden, was du suchst … und noch mehr.«
Mit einem gedämpften Bellen pflichtete Chap der jungen Weisen bei. Leesil, Sgäile und Osha wirkten noch unsicherer als vorher.
»Kommst du mit?«, wandte sich Wynn erneut an Li’kän.
Der Mund der weißen Untoten bewegte sich plötzlich nicht mehr. Ruckartig bewegte sie den Kopf, wodurch ein Wogen durch ihr langes schwarzes Haar ging. Zitternde Lider kamen nach oben, und die farblosen Augen richteten sich auf die junge Weise. Wynn trat halb hinter Magiere.
Li’kän musterte sie und versuchte vielleicht zu entscheiden, ob sie eine Beute wäre – diesen Eindruck gewann Wynn jedenfalls. Dann setzte sie sich langsam in Bewegung und zögerte bei jedem Schritt.
Magiere ging zum linken Korridor. Chap blieb dicht hinter ihr und sah über die Schulter zurück.
Warum musst du den anderen von meinen Sorgen berichten?, tadelte er sie.
Wynn antwortete nicht, als sie ihm zusammen mit Li’kän folgte.
Osha wollte vortreten, aber Sgäile zog ihn zurück. Leesil wartete ebenfalls. Als die Untote Wynn in den Korridor gefolgt war, machten sich auch die beiden Elfen und Leesil auf den Weg.
»Ich musste irgendetwas sagen«, flüsterte Wynn Chap zu. »Du hast Magieres Gesicht gesehen. Von Sgäiles ganz zu schweigen.«
Vielleicht habe ich mich geirrt.
Der jungen Weisen drehte sich fast der Magen um. Chap stellte seine eigenen Aussagen sonst nie infrage.
Li’kän ist untot und verrückt. Wir können ihr nicht trauen. Wenn sie seit dem Vergessenen Krieg hier ist, war sie vermutlich an ihm beteiligt.
Wynn schaute zurück.
Li’kän ging dicht hinter ihr, und im düsteren Korridor wurde ihr weißer Körper grau. Leesils Amulett leuchtete orangefarben.
Wynn befand sich zwischen zwei natürlichen Feinden: auf der einen Seite eine Untote, unermesslich alt, auf der anderen eine Dhampir, eine Jägerin der Untoten – und doch geboren, um sie zu führen.
Magiere erreichte das Ende des Korridors und betrat einen großen Raum. Zuerst konnte Wynn in der Dunkelheit kaum etwas erkennen, nur hohe Schemen, wie frei stehende Wände, die einen riesigen Saal unterteilten. Leesil kam näher, und das Glühen seines Amuletts verbreitete etwas Helligkeit.
Die steinernen Trennwände gewannen deutlichere Konturen, und Wynn wankte stumm zu den nächsten beiden.
Regale zogen sich an den Wänden entlang und reichten bis weit nach oben. Pergamente ruhten darin, manche von ihnen halb zu Staub zerfallen. An anderen Stellen lagen oder standen Schriftrollen aus Holz, Metall, Knochen oder Horn. Hinzu kamen zahlreiche Bündel und in Eisenplatten oder Leder gebundene Bücher. Es gab noch mehr steinerne Regalwände, doch sie verschwanden in der Dunkelheit – das Licht des Amuletts reichte nicht weit genug, sie der Finsternis zu entreißen.
Wynn begriff, dass sie in einer alten Bibliothek stand, vielleicht der ältesten, die jemals von einem Mitglied ihrer Gilde gefunden worden war. Ihr schwindelte, als sie an den Wert des Wissens dachte, das sich hier im Lauf von Jahrhunderten angesammelt hatte. Die Schatten verdichteten sich um sie herum, als sie zwischen die nächsten Regalwände trat und nach oben sah, zu den Fächern weit über ihr.
»Wynn!«, rief Osha. »Wo bist du?«
Sie holte den Kaltlampen-Kristall aus der Manteltasche. Es ging noch immer fahles Licht davon aus, das heller wurde, als Wynn ihn rieb und dann nach Osha Ausschau hielt. Er stand ein Stück entfernt, die Mäntel in den Armen. Plötzlich sprang Li’kän vor und lief an den Regalwänden entlang.
»Wynn!«, rief Osha erneut, lauter diesmal.
Li’käns Augen funkelten im weißen Licht des Kristalls, und Wynn wagte sich noch tiefer in die Schatten zwischen den Regalen. Die Untote näherte sich langsam, und ihre Finger strichen über die Wände zu beiden Seiten. Wynn wich noch etwas mehr zurück. Aber die weiße Frau blieb stehen, reckte den Hals, hob die Hand und griff nach einem staubigen Buch.
Ihre schmalen Finger öffneten es und blätterten darin.
Plötzlich erschien Schmerz in ihrem Gesicht. Wynn vergaß die Gefahr und schnappte laut nach Luft, als das alte Buch zerfiel. Dann hörte sie ein lautes Schnaufen und sah auf.
Li’käns Blick huschte über die Regale, und sie griff nach dem fleckigen Metallgehäuse einer Schriftrolle. Plötzlich grub sich ihr eine behandschuhte Hand ins schwarze Haar.
Wynn hörte Magieres knurrende Stimme. »Weg von ihr!«
Magiere zerrte an Li’käns Haar, und der Kopf der Untoten ruckte nach hinten. Doch sie drückte sich das Gehäuse mit der Schriftrolle an die nackte Brust, als sei es wichtiger als alles andere. Magiere zog Li’kän durch den Gang und dann ums Ende der Regalwand.
»Komm da raus, Wynn!«, rief Leesil.
»Ausschwärmen!«, befahl Sgäile scharf und verschwand nach rechts.
Osha ließ die Mäntel fallen, zog seine Stilette und wandte sich nach links.
Wynn eilte an den Regalwänden vorbei. »Nein, hört auf! Ein Kampf ist nicht nötig!«
Als sie ins Freie trat, erschien Osha links von ihr. Er nahm beide Stilette in eine Hand, ergriff die junge Weise am Handgelenk und zog sie nach links an den Wänden entlang.
Auf der anderen Seite sah Wynn Li’käns Rücken.
Hinter der weißen Untoten trat Leesil halb geduckt neben Magiere.
Magiere hielt ihr Falchion in beiden Händen. Li’kän griff an, und Magiere machte einen langen Schritt nach vorn, holte mit ihrem Schwert aus … und verharrte plötzlich.
Das Falchion zitterte in Magieres Händen, als Li’kän stehen blieb und auf ihren kleinen Füßen schwankte.
Wynn sah nur Li’käns Rücken, als sie die Schultern krümmte.
Magiere blinzelte und atmete schwer.
Chap machte einen Bogen um beide Frauen und gab Wynn mental Anweisungen.
Rühr dich nicht von der Stelle! Unternimm nichts, es sei denn, du gibst uns vorher Bescheid!
Li’kän drehte sich um. Der Zorn wich aus ihrem weißen Gesicht, als ihr Blick Wynn traf.
Osha zerrte an Wynns Arm und zog die junge Weise hinter sich. Wynn leistete keinen Widerstand, schaute aber an ihm vorbei.
Li’kän wurde immer unruhiger, ihre farblosen Augen noch größer. Ihre Lippen zitterten. Sie erbebte am ganzen Leib und streckte Wynn plötzlich das Gehäuse mit der Schriftrolle entgegen.
Sosehr sich Wynn auch fürchtete, ein Teil von ihr wollte wissen, was es mit der Schriftrolle auf sich hatte. Sie hob die Hand …
Denk nicht einmal daran!
Dann stellte Chap die Ohren auf, als sich Li’käns kleiner Mund bewegte.
Mehr Worte … mehr Worte, teilte Chap der jungen Weisen mit, und es passte zu den Lippenbewegungen der Untoten. Sie möchte, dass du ihr vorliest.
Wynn atmete tief durch und löste sich aus Oshas Griff. Als sie Chaps Mitteilung an die anderen weitergab, kam ein Knurren von Magiere.
»Was hast du mit dem Ding vor?«
Leesil stand noch immer halb geduckt und hielt eine Klinge bereit. Wynn zuckte leicht zusammen, als Sgäile plötzlich aus dem Gang trat, in dem sie sich zuvor befunden hatte. Der Garottendraht zwischen seinen Händen war gespannt.
»Gesprochene Worte«, sagte Wynn und versuchte zu erklären, wie sie Li’kän beschäftigt gehalten hatte. Als sie darauf hinwies, wie lange Li’kän vielleicht schon allein war, wurde sie von Magiere unterbrochen.
»Deine Weisen … und die verdammte Verlorene Geschichte! Weißt du nicht mehr, was Chap in den Erinnerungen des Ältesten Vaters fand? Hunderte oder Tausende von Untoten, die alle Lebenden umbrachten. Und woher kamen sie wohl?«
Magiere richtete ihr Falchion auf Li’kän.
»Sieh dir diese Untote an! Sie ist eine von denen, die damals Chaos über die ganze Welt brachten – und du willst ihr vorlesen!«
Es herrschte eine unsichere Waffenruhe, und Magiere beobachtete die im Gang hockende Li’kän. Hinter ihr zwischen den Regalwänden saßen Wynn und Osha. Sgäile stand neben ihnen, und die junge Weise stärkte sich mit ihren Rationen. Chap nutzte die Gelegenheit und schnappte sich einen Fischbrocken.
Li’kän rührte sich nicht vom Fleck, hielt den Blick aber die ganze Zeit über auf Wynn gerichtet.
Ein seltsames Vibrieren breitete sich in Magiere aus, wie ein Zittern in den Knochen.
Beim Tor, als Leesil sie aufgefordert hatte, sich unter Kontrolle zu halten, hatte sie die Dhampir in ihr zurückgehalten, und dabei war ihr diese besondere Unruhe zum ersten Mal bewusst geworden. Vielleicht hatte sie auch schon vorher in ihr existiert, unter all dem Zorn und dem Drang, das Ziel – die Burg – zu erreichen.
Magiere versuchte, das Zittern zu unterdrücken, wie sie es in den Wohnbäumen der Elfen getan hatte, bei der unbeabsichtigten Aufnahme der Lebenskraft des Waldes. Aber hier gab es nur die kalten Mauern der Burg und schneebedeckte Berggipfel. Was also war es, das sie hier … aufnahm?
Magiere beobachtete Li’kän, eine von Welstiels »Alten«. Was hatte die Untote hier so lange am »Leben« erhalten?
»Der Reif an ihrem Hals«, flüsterte Leesil. »Er sieht aus wie deiner. Was bedeutet das?«
»Keine Ahnung«, erwiderte Magiere.
Am liebsten hätte sie das weiße Monstrum zerfetzt und verbrannt, auf dass nicht mehr als Asche von ihm übrig blieb. Sgäile näherte sich und ging in sicherem Abstand an Li’kän vorbei.
»Hier gibt es noch mehr Gekritzel an den Wänden«, sagte er. »Wynn glaubt, dass all die Worte von dieser Frau stammen, die sich inzwischen nicht mehr daran erinnert. Sie hat auch vergessen, dass es an diesem Ort einst noch zwei andere ihrer Art gab.«
»Wovon ernährt sie sich?«, fragte Magiere.
Sgäile sah sie groß an. »Wovon sie sich ernährt?«
»Ich bezweifle, dass sie das Blut der Anmaglâhk getrunken hat«, sagte Leesil. »Aber wir sind noch nie einem Untoten begegnet, der nicht die Kraft der Lebenden brauchte, auf die eine oder andere Weise.«
Magiere bemerkte Leesils besorgten Blick. Hatte er ihr Zittern bemerkt? Sie wollte nicht, dass Sgäile erfuhr, was sie in seinem Land erlitten hatte, und deshalb konnte sie Leesil nicht erklären, wie sie sich derzeit fühlte. Ja, etwas an diesem Ort gab Li’kän die Kraft, die sie für ihre untote Existenz brauchte.
»Vielleicht ernährt sie sich von dem, was Welstiel zu finden hofft«, sagte Magiere.
»Sind wir dem Artefakt nahe?«, fragte Leesil.
»Möglicherweise«, erwiderte Magiere. »Ich übernehme zusammen mit Chap die Führung. Leesil, du sorgst mit Sgäile dafür, dass uns die Untote nicht zu nahe kommt …«
»Moment«, warf Sgäile ein. »Ich habe einige Fragen.«
»Du?«, zischte Leesil. »Du hast Fragen!«
Sgäiles Blick blieb auf Magiere gerichtet. »Nicht nur die Untote ist plötzlich stehen geblieben, sondern auch du. Warum?«
Magiere wusste es nicht. Sie hatte sich plötzlich schwach gefühlt, als hätte sie der größte Teil ihrer Kraft verlassen.
Sie schüttelte den Kopf. »Ich habe mich von einem Augenblick zum anderen schwer und müde gefühlt, und dann war es wieder vorbei.«
»Es war nicht die einzige gemeinsame Reaktion, die ich bei dir und der weißen Frau beobachtet habe«, sagte Sgäile.
Sofort erwachte Ärger in Magiere, doch bevor sie etwas erwidern konnte, fuhr Sgäile fort:
»In ihrem Gesicht spiegelte sich dein Zorn wider. Welche Verbindung gibt es zwischen euch?«
»Was erwartest du?«, entgegnete Magiere scharf. »Die Frau ist eine Untote. Ich bin geboren, um Untote zu jagen und zu töten. Und sie wird nicht einfach dastehen und darauf warten, dass ich ihr den Kopf abschlage. Ansonsten gibt es nichts zwischen uns, das …«
»Nein.« Sgäiles Stimme war kaum mehr als ein Flüstern. »Als sie wie in einem Delirium verharrte … selbst dabei hat ihr Gesichtsausdruck deinem geglichen.«
Leesil trat vor, aber Sgäile richtete den Zeigefinger auf ihn.
»Ich weiß, was ich gesehen habe«, sagte er, wandte sich mit einem letzten strengen Blick auf Magiere ab und rief: »Wir brechen wieder auf, Osha!«
Magiere wusste nicht, was sie von Sgäiles kaum verschleierten Vorwürfen halten sollte. Eine Leugnung ihrer sonderbaren Reaktion auf Li’kän wäre eine Lüge gewesen.
»Komm«, flüsterte Leesil. »Lass uns dies zu Ende bringen und die Burg möglichst rasch verlassen.«
Li’kän öffnete den Mund und zeigte die Zähne, als Magiere an ihr vorbeiging.
»Beweg dich!«, zischte Magiere.
Sie schritt an den Regalwänden entlang und versuchte, ihre Gedanken zu ordnen. Die Dhampir in ihr hatte sich noch weiter zurückgezogen – ihre Präsenz reichte gerade aus, dass sie besser sehen konnte. Das Drängen in ihr hingegen wurde wieder stärker, trieb sie erneut an.
Magiere kam nicht weit. Am Ende des großen Raums blieben sie alle vor einer Mauer stehen, die aus alten Steinblöcken bestand. So sah es jedenfalls aus.
Ein langer, verrosteter Eisenbalken ruhte in steinernen Halterungen und reichte über die ganze Länge der Wand. Die Kanten der Steinblöcke überlappten sich, doch in der Mitte der Wand entdeckte Magiere einen Spalt, der von der Decke bis zum Boden reichte.
Leesils Finger folgten seinem Verlauf vom Boden bis zum Balken, der so dick war wie der Oberschenkel eines Mannes. Eine große steinerne Tür, bestehend aus zwei Flügeln, versperrte ihnen den Weg. Magiere fragte sich, welche Angeln ein solches Gewicht tragen konnten.
Der Drang in ihr forderte sie auf, die Tür zu öffnen und den Weg auf der anderen Seite fortzusetzen. Aber warum war sie geschlossen? Und wie sollten sie den sicher sehr schweren Balken heben und anschließend die noch viel schwerere Tür öffnen?
Leesil wich abrupt zur Seite, ließ die Hände sinken und griff nach seinen Klingen. Magiere drehte sich halb um und tastete nach ihrem Falchion.
Li’kän trat stumm zur Tür.
Sie hielt die glatte Wange an den Balken, als lauschte sie auf etwas. Wieder bewegte sich ihr kleiner Mund, ohne dass sie einen Laut hervorbrachte.
Chap beobachtete, wie Li’kän erneut in sich selbst versank, und einmal mehr versuchte er, Erinnerungen von ihr zu empfangen.
Er sah nur Dunkelheit, hörte aber wieder das leise ferne Knistern, wie eine raunende Stimme. Das Geräusch schwoll an, zu einem Summen wie von einem Insektenschwarm. Und dann verlor Chap seine Konzentration, als Magiere flüsterte:
»Es ist hier. Hinter dieser Wand. Hinter dieser Tür. Ich fühle es.«
Etwas bewegte sich in Li’käns dunklem Innern.
Chap hätte es fast nicht bemerkt. Es war keine Erinnerung, sondern etwas Bewusstes. Hatte Li’kän seine Gedanken in ihrem Selbst gespürt? Sorge wurde in ihm wach, und er wollte sich zurückziehen – zu spät.
Etwas Kaltes schlug aus dem Dunkeln in Li’käns Geist zu. Es wand sich durch seine Gedanken und versuchte, Halt in ihnen zu finden, sich um sie zu wickeln …
Chap hörte sein eigenes Jaulen.
»Hör auf!«, knurrte Leesil. »Bleib aus dem Kopf des Monstrums.«
»Was ist los, Wynn?«, fragte Magiere.
Chap zappelte und versuchte, sich von dem fremden Etwas zu befreien.
Der Raum mit der Wand vor ihm gewann wieder Konturen, und Chap merkte, dass Leesil ihn an den Schulten hielt. Er setzte sich und zitterte noch immer im Innern.
Magiere ging neben Wynn in die Hocke. Die junge Weise kauerte auf dem Boden, die Hand auf den Mund gepresst. Aus großen Augen starrte sie Chap an.
»Was … war das?«, flüsterte Wynn. »Das Summen aus Li’käns Gedanken.«
Sie hatte es ebenfalls gehört, was eigentlich nicht möglich sein sollte.
Chap suchte nach einer Erklärung. Die junge Weise hörte ihn nur, weil es noch einen Rest wilder Magie in ihr gab. Er hatte gelernt, diesen Umstand zu nutzen und sich ihr mitzuteilen. Doch als er im Bewusstsein der Untoten auf der Suche nach Erinnerungen gewesen war, hatte Wynn irgendwie das gleiche seltsame Geräusch gehört wie er. Es ergab keinen Sinn.
»Was ist geschehen?«, fragte Magiere.
Chap blinzelte.
Etwas … hat mich gespürt, sagte er zu Wynn, die seine Worte wiederholte. Etwas in Li’kän wusste, dass ich dort war, und es drängte mich zurück.
»Ist alles in Ordnung mit dir?«, fragte Leesil.
Nein, es war nicht alles in Ordnung mit ihm. Chap erinnerte sich an eine fremde Stimme im Dunkeln, die Welstiel und Ubâd zugeflüstert hatte. Er zweifelte kaum daran, dass es die gleiche Stimme wie in Magieres Träumen war. Jetzt sprach Li’kän lautlos mit sich selbst, oder mit etwas, das in ihren dunklen Tiefen flüsterte.
Und Wynn hatte es ebenfalls gehört.
Irgendwo in dieser alten Burg – in den alten Aufzeichnungen oder verborgen in Li’käns Bewusstsein – lag vielleicht die Antwort. Doch derzeit dachte Chap nur noch an eine »Präsenz«, die ihr Spiel mit Untoten trieb, Magieres Träume manipulierte und vielleicht auch Li’kän beherrschte.
Die »Nachtstimme«, der alte Feind mit den vielen Namen, Ubâds »Il’Samar« …
Das fremde Etwas wollte, dass Magiere den Gegenstand bekam, den Welstiel für sich beanspruchte.
Sorge um Magiere erfasste Chap. Nur einen Moment später richtete sie sich plötzlich auf, holte ihr Falchion hervor, starrte in die Richtung, aus der sie gekommen waren, und rannte los.
»Untote!«, rief Leesil und zog beide gewölbte Klingen.
Ein weißer Schemen sauste an Chap, Leesil und Sgäile vorbei. Li’kän ließ alle anderen hinter sich zurück und folgte Magiere.
Chap hörte, wie Osha und Wynn aufsprangen, als er der weißen Frau hinterherlief. Wenn andere Untote in die Burg gekommen waren und Magiere sie zuerst fand – auf welche Seite würde sich Li’kän stellen?
Chane folgte Welstiel durch einen breiten, von Säulen gesäumten Flur, und hinter ihm schnüffelten die neuen Untoten. Er schnupperte ebenfalls und bemerkte einen schwachen Geruch wie von ranzigem Öl. Wo hatte er diesen Geruch schon einmal wahrgenommen?
Aufregung leuchtete in Welstiels Augen. Stumm ging er weiter, bis sie alle einen großen Torbogen hinter sich gebracht hatten. Direkt voraus führte eine breite Treppe nach oben, und rechts und links gab es kleinere Korridore.
Einer der neuen Untoten schrie.
Chane wirbelte herum, wich zurück und zog sein Langschwert. Ein Schatten kam zwischen den Schulterblättern des ehemaligen Mönchs hervor und flog nach oben.
»Verteilt euch!«, rief Welstiel.
Chane trat zur breiten Treppe und beobachtete, wie ein zweites Schattenwesen durch den Torbogen hereinkam. Zuerst waren nur dunkle Pfoten zu sehen, dann vier dünne Beine und eine Schnauze – ein schwarzer Wolf nahm Gestalt an.
Er lief los und sprang Chane entgegen.
Der konnte nicht rechtzeitig ausweichen, und das Schattenwesen glitt ihm durch die Brust.
Chane schwankte, als sich eisige Kälte in ihm ausbreitete.
»Sie können dich nicht verletzen!«, rief Welstiel. »Es sind nur Geister!«
»Nein«, erwiderte Chane und betastete seine Brust. »Diese Wesen sind etwas anderes.«
Die neuen Untoten kreischten und schlugen um sich, als die Schattenwesen sie angriffen. Welstiel schwang sein Schwert, und es durchdrang den Flügel eines Schattenvogels, ohne Schaden anzurichten. Unbeeindruckt stieg das dunkle Geschöpf auf.
Auch Chane schlug mit seinem Schwert zu und musste feststellen, dass sich mit gewöhnlichem Stahl nichts gegen die Schattenwesen ausrichten ließ.
Die beiden jüngeren ehemaligen Mönche gerieten völlig außer sich und schlugen wild um sich, ihre Gesichter zu Fratzen verzerrt. Jakeb wirkte noch irrer als die anderen, obwohl er keinen Ton von sich gab. Nur Sabel und Sethè blieben ruhig und nahmen ihre Waffen zur Hand, sie ein Messer und er eine eiserne Keule.
Kalter Schmerz stach zwischen Chanes Schultern.
Er riss die Augen auf, als ein Schatten aus seiner Brust kam und nach oben flog. Diesmal konnte er Kopf und Gefieder deutlich erkennen – ein Rabe.
Ein gespenstisches Heulen hallte durch den Raum.
Chane sah sich nach dem Schattenwolf um, doch das Heulen kam aus der Ferne, aus dem schmalen Gang auf der linken Seite. Orangefarbenes Licht glühte dort in der Dunkelheit, und ein zweiter Schattenwolf sprang aus jenem Flur.
Nein, es war kein Schattenwolf, sondern ein Hund mit silbergrauem Fell. Chane erkannte Chap.
Wie tollwütig raste er heran, und ihm folgte eine weiße Gestalt, eine Frau mit langem schwarzem Haar. In ihren großen, farblosen Augen glitzerte es.
Chap griff sofort Welstiel an, und aus seinem Heulen wurde wütendes Knurren. Der überraschte Welstiel wich im letzten Augenblick aus.
»Helft mir!«, rief er.
Chap drehte sich und wollte sich erneut auf Welstiel stürzen, doch Jakeb warf sich ihm in den Weg. Der Hund schnappte nach dem untoten Mönch, schlug mit den Krallen nach ihm und versuchte, zu Welstiel zu gelangen. Chane schaute zu der bleichen Frau zurück.
Verwirrung zeigte sich in ihrem glatten, perfekten Gesicht, bis ein junger Mönch auf sie zulief, die Finger wie Krallen gekrümmt. Bevor er zugreifen konnte, packte die weiße Frau ihn an der Kehle und warf ihn zur Seite.
Der Untote drehte sich und prallte gegen die Seitenwand des Raums. Zuckend rutschte er zu Boden und regte sich dann nicht mehr.
Chane sah wieder die Frau an, die so schwach wirkte und doch so stark war.
Vermutlich handelte es sich bei diesem Wesen um eine von Welstiels »Alten«.
Sie konnte mühelos mit ihnen allen fertig werden. Chane wollte nach einem Ausweg suchen, als eine weitere Gestalt aus dem schmalen Flur kam.
Magieres Figur zeichnete sich vor dem orangefarbenen Licht hinter ihr ab, und ihre Augen waren schwarz. Mit dem Falchion in der Hand blieb sie stehen.
Beim Anblick der Klinge schnürte sich Chane die Kehle zu, aber Magieres Aufmerksamkeit galt nicht ihm, sondern Welstiel.
Leesil erschien hinter ihr, mit einem glühenden Amulett auf der Brust und gefolgt von einem hochgewachsenen blonden Elfen in einem dunklen Umhang.
Flucht kam nicht mehr infrage.
Chane bereitete sich auf den Angriff vor. Er wusste nicht, mit welchem Gegner er es zu tun bekommen würde.
Chap setzte noch immer Jakeb zu und versuchte, an ihm vorbei zu Welstiel zu gelangen. Nur drei der anderen Untoten waren noch auf den Beinen.
»Chane!«
Er drehte sich um, als er die vertraute Stimme hörte.
Dann erstarrte er, den Blick auf Wynn gerichtet.
Ein zweiter Elf, größer als der erste, stand in der Öffnung des Korridors, den einen Arm schützend um die junge Weise geschlungen. Sie lehnte sich an den jungen Elfen, die Wange an ihn gedrückt, und der Kaltlampen-Kristall in ihrer Hand erhellte ihr rundes olivfarbenes Gesicht. Der kleine Mund öffnete sich, als sie ihn sah.
Chane fühlte eine plötzliche Leere in sich.
Und unmittelbar darauf füllte sich diese Leere mit Zorn. Er verspürte den Wunsch, den Arm, der um Wynn geschlungen war, aus der Schulter des Elfen zu reißen und ihm die Kehle zu zerfetzen, weil er die junge Weise berührt hatte. Fast hätte er sein Schwert fallen lassen, um beide Hände frei zu haben.
Sabel zischte, als sie an Chane vorbeihuschte und auf Wynn zusprang – er konnte sie nicht rechtzeitig festhalten. Leesil trat vor und hob seine gewölbten Klingen.
Chane knurrte, dazu bereit, das Halbblut zu töten oder Sabel zurückzuziehen, wen auch immer er zuerst erreichte.
Sabel wandte sich zur Seite und schlug mit einem Messer nach Leesils Gesicht.
Wynn drückte sich an Osha; ihre Gefühle bildeten ein wildes Durcheinander.
Welstiel war hier. Wie war das möglich? Und er befand sich in der Gesellschaft von geduckten Gestalten, die Kutten trugen und Schattenwesen – Raben und Wölfe – anfauchten. Wynn hatte solche Kutten schon einmal gesehen. Diese Leute waren Sluzhobnék Sútzits, Diener des Erbarmens, aber sie hatten sich auf schreckliche Weise verändert. Ihre Haut war bleich, die Augen farblos, die Zähne lang und spitz.
Li’kän stand einfach nur da und starrte ins Leere.
Und Chane …
Ohne nachzudenken, rief Wynn seinen Namen. Die Wahrheit war wie Gift oder eine plötzliche Krankheit.
Chane war mit Welstiel hierhergekommen – sie wollten die Kugel.
Chap biss einem der untoten Kuttenträger in die Wade und griff dann Welstiel an, das Maul triefend von schwarzer Flüssigkeit. Der grauhaarige Mönch war erstaunlich schnell und wirbelte herum – seine Faust traf Chap und stieß ihn zur Seite. Wynn hörte die geistige Stimme des Hunds.
Bring Magiere fort! Sie muss die Kugel als Erste erreichen, vor Welstiel!
Wynn löste sich von Oshas Seite, eilte zu Li’kän und rief:
»Lauf, Magiere! Du musst das Artefakt finden!«
Abgesehen von Magiere wusste vielleicht nur Li’kän, wie man auf die andere Seite der steinernen Tür gelangen konnte. Wynns Finger streckten sich Li’käns kalter Haut entgegen, und die Untote drehte sich halb um.
Li’käns Gesichtsausdruck veränderte sich, als Wynn sie berührte.
Und Wynn begriff plötzlich, wie töricht ihr Handeln war.
Magiere blieb stehen, als sie Welstiel erblickte.
Er sah recht mitgenommen aus, aber die weißen Stellen an den Schläfen leuchteten noch immer. Wie konnte er diesen Ort gefunden haben, obwohl sie erst vor zwei Monden in ihren Träumen davon erfahren hatte? Es gab nur eine Antwort.
Welstiel war ihr gefolgt, vielleicht von dem Tag an, als Leesil und sie vor etwa einem halben Jahr Bela verlassen hatten.
Magiere war ihm zum letzten Mal in der Kanalisation von Bela begegnet, aber seitdem hatte sie mehr über ihn herausgefunden. Bilder ihrer Mutter stiegen in ihr auf: Magelia, wie sie auf dem Bett lag und verblutete; Welstiel, der ihr die gerade geborene Magiere wegnahm.
Sie hatten denselben Vater, den er gekannt hatte und sie nicht, aber wer von ihnen war dadurch besser dran? Ein kleiner Teil von Magiere wäre vielleicht bereit gewesen, Mitleid mit ihrem Halbbruder zu haben. Aber der größere Teil wollte ihm den Kopf von den Schultern reißen und beobachten, wie er verbrannte.
Die Dhampir erwachte in ihr, und Magieres Kiefer begannen zu schmerzen. Tränen strömten ihr aus den Augen, als der Raum für sie hell wurde. Ihre Hand schloss sich fester um den Griff des Falchions.
Sgäile lief an ihr vorbei, den Garottendraht zwischen seinen Händen gespannt. Er hielt direkt auf Welstiel zu.
Leesil stürmte der untoten Frau entgegen, die ebenfalls eine Kutte trug und ein Messer schwang.
»Lauf, Magiere!«, rief Wynn. »Du musst das Artefakt finden!«
Magiere hörte sie kaum, denn die Stimme des Zorns war lauter und verlangte von ihr, das bleiche Ding vor ihr zu zerfetzen und sich anschließend auf Welstiel zu stürzen. Sie drehte den Kopf und sah, wie sich Wynns kleine Hand um Li’käns Unterarm schloss.
Vage Sorge regte sich in Magieres Blutgier.
Aber Li’kän stand nur da und schlug nicht nach der jungen Weisen. Die Augen der weißen Untoten bewegten sich, und ihr Blick traf Magiere.
Mit einem Satz war Li’kän heran, und Magiere blieb nicht genug Zeit für eine Reaktion. Die weiße Frau ergriff sie am Handgelenk, lief zum Korridor und zog Magiere hinter sich her.
Abrupt verschwand der Zorn aus Magiere.
»Geh mit ihr!«, rief Wynn.
Magiere sah nicht zurück. Nur sie konnte die Kugel finden, und nur Li’kän konnte ihr dabei helfen. Niemand hatte Magiere darauf hingewiesen, aber sie wusste es trotzdem. Der Drang, der weißen Untoten zu folgen, war stärker als alles andere.
Li’kän erreichte die große Bibliothek, und Magiere schüttelte die Hand der Untoten ab. Die weiße Frau lief weiter, und als Magiere zu ihr aufschloss, stand sie bereits vor der Steintür. Li’kän stemmte eine schmale Schulter unter den Eisenbalken, dicht neben einer der steinernen Halterungen, griff mit den Händen danach und wartete.
Magiere schob ihr Falchion in die Scheide und ging ein Stück entfernt ebenfalls am Balken in Position.
Li’kän spannte die Muskeln, und Magiere weckte die Dhampir in ihrem Innern, griff auf ihre Kraft zurück.
Der eiserne Balken war enorm schwer, aber bei Li’kän kam er langsam nach oben und löste sich schließlich ganz aus der Halterung. Schulter und Hände am Balken, drückte Magiere mit ganzer Kraft und versuchte, sich mit den Beinen nach oben zu stemmen. Ganz langsam bewegte sich der Eisenbalken, und Magiere war schweißgebadet, als sie ihn schließlich aus der Halterung gehoben hatte. Sie wich einen Schritt zurück und ließ den Balken gleichzeitig mit Li’kän fallen. Ein Donnern hallte durch die Bibliothek, als er auf den Boden prallte.
Li’kän griff nach der Halterung und begann zu ziehen. Magiere versuchte, ihrem Beispiel zu folgen, doch ihre Seite der Tür bewegte sich kaum. Als die Lücke zwischen den beiden Türflügeln groß genug war, hielt die Untote inne und schlüpfte hindurch.
Ein seltsames Gefühl erfasste Magiere, als sie durch die schmale Öffnung trat.
Es war ein Empfinden von Leichtigkeit nach einer schweren Last – sie glaubte plötzlich, nie wieder müde oder hungrig zu werden. Schmerz und Erschöpfung nach fast einem anstrengenden Mond in den Bergen fielen von ihr ab.
Als sie wieder zu Sinnen kam, kauerte Li’kän in einem dunklen, nach unten führenden Tunnel mit Wänden aus behauenem Felsgestein. Das Gesicht der Untoten wirkte wie erschlafft.
Während Magiere Erleichterung fühlte, schien Li’kän voller Kummer zu sein. Die weiße Untote zögerte, richtete sich auf, wich einen Schritt zurück und schüttelte langsam den Kopf. Dann erbebte ihr Körper, und wie von etwas gezogen trat sie durch den Tunnel.
Magiere folgte ihr, sah einmal zurück und fragte sich, ob es nicht besser wäre, die Tür hinter ihnen zu schließen. Aber Li’kän setzte den Weg fort.
Weit unten im Tunnel sah Magiere einen orangefarbenen Lichtschein, und in diesem Licht bemerkte sie zu beiden Seiten des Tunnels seltsame Vertiefungen.
Sie ging weiter, und die Dhampir in ihr erweiterte ihre Wahrnehmung.
In jeder Nische kauerte eine Gestalt. Magiere trat näher und betrachtete eine von ihnen.
In Jahrhunderten dunkel gewordene Knochen verschmolzen fast mit dem Gestein, doch nach der Verwesung des Fleisches vor langer Zeit war das Skelett nicht in sich zusammengefallen. Die Gestalt ruhte auf den Knien und hatte die Unterarme darum geschlungen, fast in Embryonalstellung. Die Schädeldecke war zu breit für einen Menschen und befand sich zwischen den Resten der Hände, die Stirn auf dem Boden.
Der Unbekannte wirkte wie ein Betender, der geduldig auf die Rückkehr seines Herrn wartet.
Magiere sah sich auch die anderen Nischen und die Gestalten darin an. Nur eine von ihnen schien einst ein Mensch gewesen sein; andere machten einen sehr fremdartigen Eindruck.
Einige der kauernden Toten waren klein, doch Magiere fand auch einen sehr großen, mit langer Wirbelsäule und dicken Fingerknochen, die in Krallen endeten. Ein Kamm aus spitzen Knochen ragte aus dem gesenktem Schädel.
Die beiden Nischenreihen reichten den Tunnel hinab, bis hin zum fernen Glühen.
Li’kän ging weiter, ohne den Gestalten in den Nischen Beachtung zu schenken, als wäre es nur recht und billig, dass sie sich in ihrer Präsenz zusammenkauerten und den Kopf senkten.
Magiere folgte ihr in die Tiefe, vorbei an den stummen Wächtern, die ihre Blicke von Li’kän abzuwenden schienen.
Leesil schlug mit seinen Klingen nach der dunkelhaarigen Untoten und vereitelte ihre Versuche, an ihm vorbeizugelangen. Sie stach immer wieder mit dem Messer zu, fauchte und wich ihm aus. Spitze Vampirzähne zeigten sich in ihrem offenen Mund. Hinter ihr griff Chap einen grauhaarigen Untoten und einen der jüngeren Mönche an.
Und dann eilte Chane herbei und wollte an der Frau vorbeigelangen.
Leesil verlagerte sein Gewicht und stieß die rechte Klinge nach vorn. Chane blieb abrupt stehen und wich aus, aber die irre Frau sprang Leesil erneut entgegen, und ein untersetzter Mann mit einer Eisenkeule näherte sich von der anderen Seite. Leesil erschrak und sah sich plötzlich mit drei Gegnern konfrontiert.
Chane schlug mit seinem Langschwert zu.
Leesil war so beschäftigt, dass er nicht nach Wynn sehen konnte. Und dann sauste Sgäile an ihm vorbei und lief Welstiel entgegen.
Welstiel hätte fast aufgeschrien, als die so zierlich wirkende weiße Untote Magiere in den schmalen Korridor zerrte. Fassungslos sah er ihnen nach.
Schickte sich die Alte an, Magiere zu helfen? Aber warum? Und wo waren die anderen?
Wenn es hier Wächter gab, hätten sie sich längst gegen die Dhampir wenden müssen. Welstiels Traumherrin hatte ihm zugeflüstert, Magiere sei nötig, die Wächter zu überwinden. Sie hatte nicht davon gesprochen, dass sie ihr helfen würden.
Welstiel versuchte, durch das Kampfgetümmel den Korridor zu erreichen.
Ein graugrün gekleideter Elf trat ihm in den Weg.
Er sah den Stiefel, kurz bevor der ihn an der Schläfe traf. Für einen Moment umhüllte ihn Schwärze, und als er wieder sehen konnte, war der Elf nicht mehr da.
Etwas Glitzerndes strich an Welstiels Augen vorbei.
Er ließ sich instinktiv fallen und spürte, wie ihm der Draht übers Haar strich.
Welstiel wirbelte herum und schwang sein Langschwert, so schnell, dass kein lebendes Geschöpf ausweichen konnte. Er musste Magiere folgen.
Die Spitze der Klinge kratzte über den Boden, aber der Elf war nicht mehr da.
Chap drehte sich zwischen zwei Untoten und schnappte nach ihren Beinen. Schwarze Flüssigkeit spritzte von seiner Schnauze, wann immer er den Kopf schüttelte. Er musste einen seiner beiden Gegner so sehr schwächen, dass er zu Boden ging, denn sonst konnte er seine Gefährten nicht rechtzeitig erreichen, bevor sie überrannt wurden. Doch was auch immer er versuchte, die beiden Untoten blieben auf den Beinen. Sie fauchten und schrien auf, wenn er sie biss, aber sie fielen nicht.
Der grauhaarige Mann holte aus und schlug zu, traf jedoch nicht und geriet dadurch aus dem Gleichgewicht. Er schwankte, und Chap nutzte die Gelegenheit, sprang nach seiner Kehle.
Er war vielleicht nicht imstande, dem Untoten den Kopf abzureißen, aber er konnte die Wirbelsäule durchtrennen und ihn damit außer Gefecht setzen. Als er die Zähne in den Hals bohrte, packte ihn jemand von hinten an den Schultern.
Chap bekam seinerseits Zähne zu spüren, ließ den Mann los und wand sich hin und her, um den Angreifer abzuschütteln. Der grauhaarige Mann kratzte ihm mit den Fingernägeln über die Schnauze.
Chap trat mit den Hinterbeinen und fühlte, wie sich seine Krallen in die Oberschenkel des Angreifers bohrten. Ein gedämpftes Kreischen kam von dem Geschöpf, aber seine Zähne lösten sich nicht aus Chaps Hals. Dann bemerkte Chap Wynn neben dem Korridor. Sie lief los und wollte zu ihm, mit Magieres altem Dolch in einer Hand.
Nein, bleib zurück!
Die junge Weise zögerte, und jemand krächzte: »Wynn!«
Chap drehte sich und sah Chane.
Sgäile sprang zur Seite und wich dem Langschwert des Untoten mit den weißen Schläfen aus.
Dieser Mann hatte den Befehl über die anderen, und es war am besten, zuerst den Anführer zu erledigen.
Es verblüffte Sgäile, wie schnell sich dieser Untote von seinem Tritt erholt hatte und der Garotte ausgewichen war. Rasch trat er auf das Schwert, davon überzeugt, dass es dem Untoten dadurch aus der Hand rutschte.
Weit gefehlt. Als er seinen Fuß auf den Stahl setzte, kam die Klinge plötzlich nach oben.
Das Schwert hob ihn so mühelos an, als hätte er überhaupt kein Gewicht, und Sgäile ließ sich von ihm emportragen und trat zu, als die Klinge unter ihm verschwand.
Sein Stiefelabsatz traf den Untoten im Gesicht, mit solcher Wucht, dass das Bein schmerzte.
Doch der Mann drehte sich nur und wankte.
Dann sah Sgäile Léshil.
Er kämpfte gegen zwei Untote, wie auch Chap, aber lange würden sie sich nicht mehr behaupten können. Wenn es ihnen nicht bald gelang, mindestens einen der beiden Gegner zu erledigen, mussten sie damit rechnen, überwältigt zu werden.
Zu viele Geschehnisse rangen um Sgäiles Aufmerksamkeit. Sein Blick kehrte zum eigenen Widersacher zurück.
Er sah das Schwert des Untoten gar nicht kommen.
Die Spitze bohrte sich ihm ins Schlüsselbein.
Welstiel beobachtete, wie der Elf zurücktaumelte und fiel. Noch bevor er auf den Boden prallte, hatte Welstiel seinen Rucksack genommen und suchte nach einem freien Weg zum Korridor.
Wynn stand neben dem Zugang, mit einem Dolch in der Hand. Sethè sprang mit einem Knurren an Leesil vorbei und hielt auf die junge Weise zu. Der andere Elf neben ihr versperrte ihm den Weg.
»Schirmt mich ab!«, rief Welstiel den neuen Untoten zu und lief zum Korridor.
Der schlaksige junge Elf griff nach Sethès Handgelenk, als die eiserne Keule herunterkam. Beide wankten auf die anderen Kämpfenden zu, doch die junge Weise stand Welstiel noch immer im Weg. Sie riss die Augen auf und hob den Dolch, als er sich näherte. Welstiel schwang seinen Rucksack.
Die metallenen Objekte darin klapperten, als der Rucksack Wynn traf und sie zur Seite stieß. Welstiel lief weiter, durch den Korridor.
Chap sah Welstiel fliehen, und Wynn wurde von seinem Rucksack beiseitegestoßen. Er spürte, wie sich die Zähne des Untoten tiefer in seinen Hals bohrten, und das Gewicht des Angreifers drückte ihn nach unten.
Das Geschöpf wollte seinen Tod, und er konnte sich kaum noch zur Wehr setzen. Es gab nur noch eine Möglichkeit für ihn …
Chap konzentrierte sich auf den Stein des Bodens … Stein für Erde, und die Luft im Raum, und Feuer von der Hitze in seinem Leib. Er gab den eigenen Geist hinzu, verband sich mit den Elementen … und begann zu brennen, so wie bei der Konfrontation mit den Seinen, als sie versucht hatten, Wynn zu töten.
Diesmal würde sie ihn nicht mit ihrer mantischen Sicht sehen, als ihn phosphoreszierender Dampf in Form von Flammen umgab.
Seine beiden untoten Gegner begannen zu zittern.
Chane hörte Welstiel rufen und erstarrte, als Wynn vom Rucksack beiseitegestoßen wurde. Dann verschwand Welstiel im Korridor.
Hass wogte in Chane empor – Welstiel interessierte sich nur für die Kugel.
Er sah, wie der schlaksige Elf mit Sethè rang. Wynn versuchte aufzustehen – sie war den Kämpfenden zu nah. Sabel stürzte sich auf Leesil und schrie; ihre Stimme hallte von den Steinwänden wider. Chane begriff, dass sie verwundet worden war.
Doch für ihn gab es nur Wynn und seinen Hass auf Welstiel.
Während sich Leesil und Sabel auf dem Boden wälzten, trat Chane zwei schnelle Schritte vor, packte Sethè an seiner Kutte und zerrte ihn mit einer halben Drehung von seinem überraschten Elfengegner und von Wynn weg. Er riss ihn herum, sodass er gegen Leesils Rücken prallte. Das Halbblut und der untersetzte Untote fielen auf die kreischende Sabel.
Wynn sah zu Chane hoch, und er erstarrte. Dann versuchte sie erschrocken, sich von ihm zu entfernen. Ihre großen braunen Augen waren voller Furcht – es zeigte sich keine freudige Überraschung in ihnen –, und sie richtete ihre Klinge auf ihn.
Chane erzitterte, als hätte sie ihm jene Klinge in den Leib gestoßen.
Aber der Weg zum Korridor war frei, und dies mochte seine einzige Chance sein. Er drehte sich um und lief in den schmalen Gang. Hass verhinderte, dass ihn der Schmerz übermannte.
Vor langer Zeit hatte er seine armselige Existenz in Bela verloren und sich von der Vereinbarung mit Welstiel ein besseres Leben erhofft. Er wäre zu allem bereit gewesen, um Teil von Wynns Welt zu werden. Doch Welstiels Pläne hatten seine Hoffnung Stück für Stück zerstört …
Bis hin zu der Furcht in Wynns Augen.
Chane erreichte das Ende des Korridors und sah sich plötzlich einer riesigen Bibliothek gegenüber, als wäre er blindlings in Wynns Welt gelaufen, nur um festzustellen, dass sie ohne einen einzigen Kaltlampen-Kristall dunkel war. Auf der rechten Seite hörte er das Geräusch von Schritten, und davon ließ er sich leiten, als er den Weg fortsetzte. Er versuchte, den Schätzen des Wissens um sich herum keine Beachtung zu schenken, und schließlich erreichte er das Ende des Saals.
Ein gewaltiger Balken aus rostigem Eisen lag vor einer großen steinernen Tür, deren beide Flügel einen Spaltbreit offenstanden. Das Geräusch der Schritte kam durch die Lücke.
Ein seltsames Gefühl erfasste Chane, als er in die dunkle Öffnung sah – etwas dahinter schien ihn berühren zu wollen. Es nahm ihm den Blutdurst, bis nur noch Kummer und Hass blieben.
Er wollte nicht der Einzige sein, der einen großen Verlust erlitten hatte.
Chane trat durch die Lücke zwischen den beiden Türflügeln und machte sich auf die Jagd nach Welstiel.