7
Drei Tage hinter Sgäile hergezogen zu werden zerrte an Leesils Nerven. Mit einer Binde vor den Augen, einem Gehstock in der einen Hand und einem Seil in der anderen stapfte er dahin, gefolgt von Magiere. Chap lief irgendwo in der Nähe; Leesil hörte das Kratzen seiner Pfoten auf den Steinen.
Chap half mit warnendem Bellen, wenn sie vom Weg abkamen oder schwieriges Terrain vor ihnen auftauchte. Sgäile führte sie vorsichtig an größeren Hindernissen vorbei, aber sie kamen nur langsam voran. Gelegentlich legte Magiere eine Hand auf Leesils Schulter.
Während dieser blinden Reise wechselten sie nur wenige Worte, und Leesil bedauerte, sich auf diese Sache eingelassen zu haben. Warum gab er Sgäiles seltsamen Bitten immer wieder nach?
Tief in seinem Innern kannte Leesil den Grund: Er wollte herausfinden, was Brot’an und seine Mutter arrangiert hatten.
Wenn dies allein Brot’ans Plan gewesen wäre, hätte Leesil Sgäiles Bedingungen für diese Reise abgelehnt. Aber für seine Mutter … Er hatte sie acht lange Jahre der Gefangenschaft überlassen und durfte sie jetzt nicht enttäuschen.
Chap bellte, strich kurz an Leesils Bein entlang und huschte dann davon. Leesil hörte, wie sich unter den Pfoten des Hundes Steine lösten und den Hang hinunterrollten.
»Was ist los?«, fragte er.
»Wir müssen durch eine weitere Rinne zwischen zwei Felsseiten klettern«, erwiderte Sgäile. »Der Boden besteht aus Geröll. Ich werde das Seil an euren Gürteln befestigen, damit ihr euch mit beiden Händen festhalten könnt. Werft die Stöcke weg; die braucht ihr jetzt nicht mehr.«
»Sind wir dem Ziel nahe?«, fragte Magiere.
Sgäile antwortete nicht sofort. »Ja«, sagte er nach kurzem Zögern, als widerstrebte es ihm, irgendetwas preiszugeben.
Leesil warf seinen Gehstock beiseite und spürte, wie Sgäile das Seil an seinem Gürtel befestigte. Er wartete, bis er auch Magiere gesichert hatte und dann wieder die Führung übernahm. Sgäile ergriff seine rechte Hand und zog sie zur Seite, bis er damit eine vertikale Felswand berührte.
»Gebt gut acht!«, sagte Sgäile.
Leesil tastete sich durch die Rinne, und es dauerte nicht lange, bis seine rechte Hand keinen Kontakt zum Fels mehr hatte. Noch ein Schritt, und der Boden wurde eben. Aber als er versuchte, die Augenbinde abzunehmen, drückte Sgäile seine Hand nach unten.
»Nein«, sagte er scharf. »Noch nicht!«
Sie setzten den Weg fort, und Leesil stellte fest, dass es leicht nach unten ging. Dann roch er Staub, und die Geräusche um ihn herum hallten wider, woraus er schloss, dass sie sich in einer Höhle befanden.
Sgäile führte sie nach rechts und links.
Leesil versuchte zu zählen, wie oft sie abbogen, aber nach einer Weile gab er es auf. Ihm war von den vielen Richtungswechseln schwindelig, als er schließlich anhielt.
»Hier ist es wärmer«, sagte Magiere.
Während der vergangenen drei Tage war sie ungewöhnlich still gewesen. Leesil tastete nach hinten, bis er ihren Arm berührte.
»Wir sind jetzt weit genug gekommen«, sagte Sgäile. »Ihr könnt die Binden abnehmen.«
Leesil riss den schwarzen Stoffstreifen fort und rieb sich die Augen.
Für einen Moment war er nicht sicher, ob die Binde wirklich weg war, denn um ihn herum blieb alles düster. Dann erschienen erste Konturen in der Dunkelheit.
Ein orangefarbenes Glühen holte Magieres bleiches Gesicht aus der Finsternis – Sgäile hatte eine Fackel angezündet. Sie standen in einem Felstunnel so breit wie Leesils Armspanne und doppelt so hoch wie er groß.
»Wir gehen weiter«, sagte Sgäile und setzte sich wieder in Bewegung.
»Sind wir noch nicht am Ziel?«, fragte Magiere, aber er gab keine Antwort.
Leesil seufzte und setzte wieder einen Fuß vor den anderen. Als er an Magiere und Chap vorbei in die Richtung blickte, aus der sie kamen, sah er nicht viel, denn der Tunnel machte eine Biegung. Es gab keinen Hinweis darauf, wie tief unter der Erde sie sich befanden.
Sie folgten dem Verlauf des kurvenreichen Tunnels, vorbei an schroffen Felswänden. Der Boden erwies sich als erstaunlich glatt. Die wenigen Reste von Leesils Geduld schwanden, als das Licht der Fackel endlich das Ende des Tunnels und die große Höhle dahinter erreichte.
In der Wand auf der anderen Seite fiel ihm sofort ein großes Oval aus schimmerndem Metall auf.
Magiere schob sich an ihm vorbei und ging direkt darauf zu. Leesil folgte ihr, und Sgäile und Chap schlossen sich ihm an. Als sie bis auf Armeslänge heran war, strich Magiere mit der behandschuhten Hand über das Metall.
Leesil bemerkte einen kaum sichtbaren, absolut geraden Spalt, der das Oval in zwei Hälften teilte. Aber es gab keine Griffe, um die beiden Türhälften aufzuziehen, und Angeln konnte er ebenfalls nicht entdecken. Gelber Fackelschein spiegelte sich auf der glatten Oberfläche des Metalls wider, dessen silbriger Ton für Stahl zu hell war.
Das Oval bestand aus dem gleichen Metall wie die Anmaglâhk-Klingen.
»Es ist warm«, hauchte Magiere.
Leesil legte die Hand auf das Metall. Es war nicht nur warm, sondern fast heiß.
»Wendet euch ab!«, sagte Sgäile.
»Wie … wie öffnet man diese Tür?«, fragte Leesil.
Er hörte, wie Kleidung auf den Boden fiel und eine Klinge über Leder strich.
Chap knurrte.
»Ihr sollt euch abwenden!«, befahl Sgäile, und seine Stimme hallte durch die Höhle.
Leesil drehte sich schnell um.
Sgäile stand vor seinem abgelegten Mantel, das Gesicht verzerrt, als bereiteten ihm jedes Wort und jede Bewegung große Mühe. Er hielt ein Stilett in der Hand aus dem gleichen hellen Metall wie die Tür.
Chap stand hinter Sgäile und spannte die Muskeln, bereit, sich auf den Elfen zu stürzen.
Die einzige Erinnerung, die er in Sgäiles Bewusstsein fand, war ein flüchtiges Bild von diesem Ort: Sgäile, der voller Schrecken wartete, während sich die silberweiße Tür öffnete. Das Erinnerungsbild verschwand sofort wieder – Sgäile schien nicht zulassen zu wollen, dass Magiere oder Leesil erfuhren, wie man die Tür öffnete.
»Bitte … tretet zurück«, sagte der Elf etwas ruhiger. »Und wendet euch ab!«
Magiere schloss die Hand um den Griff ihres Falchions und rührte sich nicht von der Stelle.
Chap hatte die Anmaglâhk und ihre Paranoia satt. Aber es kam jetzt nur darauf an herauszufinden, was sich hinter dieser Tür befand – und was Brot’an diesmal ausgeheckt hatte. Chap machte einen Bogen um Sgäile, wandte sich an seine Gefährten und bellte zweimal.
»Warum bist du ihm gegenüber so gefällig?«, fragte Magiere, hielt den Blick aber auf Sgäile gerichtet.
»Dies ist lächerlich«, sagte Leesil. »Öffne die Tür, Sgäile!«
»Sei still!«, zischte Magiere. »Du bist es gewesen, der mit den Augenbinden einverstanden war.«
Chap bellte erneut. Sie hatten einen weiten Weg hinter sich, und er wollte nicht unverrichteter Dinge umkehren. Er sprang zu Magiere und schnappte nach ihrer Hose.
Magiere zog das Bein zurück. »Pass bloß auf!«
Aber schließlich wandte sie sich ab, und mit einem kurzen Blick auf Chap folgte Leesil ihrem Beispiel.
Sgäile wirkte nach wie vor angespannt, aber er forderte Chap nicht auf, sich ebenfalls umzudrehen. Mit dem Stilett in der Hand trat er zur Tür, hob die Klinge und zögerte.
»Dein Eid«, sagte er. »Vergiss ihn nicht!«
Er berührte das Portal mit der Klingenspitze, so leicht, dass es nicht einmal klackte. Einen Moment später knarrte es, und Chap beobachtete, wie der Spalt breiter wurde.
»Zurück!«, sagte Sgäile und steckte das Stilett ein.
Chap trat zu Magiere und Leesil, und Sgäile wich ebenfalls von der Tür zurück.
Die beiden Türhälften schwangen nach außen auf und kratzten dabei über den steinernen Höhlenboden. Heiße Luft schlug ihnen allen entgegen und trug einen Geruch wie von brennenden Kohlen mit sich. Chap fiel plötzlich das Atmen schwer.
»Ihr gewöhnt euch gleich daran«, sagte Sgäile und hielt sich die Hand vor Mund und Nase.
Das unangenehme Brennen in Chaps Hals ließ allmählich nach. Leesils Gesicht war gerötet, aber er schien unverletzt zu sein. Magiere hustete, sank auf die Knie und rang nach Luft.
Leesil ergriff sie an den Schultern. »Magiere!«
Nach einigen vorsichtigen Atemzügen wies sie mit einem Nicken darauf hin, dass sie in Ordnung war.
»Du hättest uns warnen können«, ächzte sie.
»Ich bitte um Entschuldigung«, erwiderte Sgäile. Sein Gesicht war ebenso gerötet wie das von Leesil.
Als Sgäile die Fackel holte, trat Chap vor und blieb zwischen den beiden Türhälften stehen. Ein breiter Tunnel erstreckte sich dahinter und wurde in der Ferne immer dunkler. Das Licht der Fackel warf nur einen matten Schein auf die Tunnelwände, und die Luft war sehr heiß.
»Soll das ein Witz sein?«, fragte Leesil.
»Es wird nicht angenehm werden«, sagte Sgäile. »Aber es besteht keine unmittelbare Lebensgefahr.«
Damit trat er an Chap vorbei in den Tunnel.
Chap folgte ihm, und der heiße Boden unter seinen Pfoten wurde bei jedem Schritt unangenehmer. Er hörte, wie sich Leesil und Magiere ihm anschlossen. Magiere wirkte geschwächt. Die Dhampir in ihr kam gut mit Kälte zurecht, aber von Hitze schien sie nicht viel zu halten.
»Bist du schon einmal hier unten gewesen?«, krächzte sie.
Sgäile schüttelte den Kopf. »Ich bin nur einmal bis zur Tür gekommen, mit meinem Lehrer, bevor er damit einverstanden war, dass ich in den Dienst meines Volkes trat.«
Leesil und Sgäile gewöhnten sich immer mehr an die Hitze, obgleich ihre Gesichter schweißnass waren. Magiere keuchte und versuchte, die hohe Temperatur zu ertragen und mit den anderen Schritt zu halten. Chap blieb dicht bei ihr, als Sgäile durch den breiten Tunnel schritt, dessen Boden nicht so glatt war. Plötzlich wurde die Passage schmaler und endete an einer Treppe, deren Stufen aus dem Fels gehauen waren.
Ein düsteres orangerotes Glühen kam von unten. Sgäile legte seine Fackel beiseite. Das Licht wurde heller, als sie nach unten gingen, und die Hitze nahm zu. Die Treppe führte ziemlich weit hinab, und unterwegs hielten sie einmal an, um Wasser zu trinken. Leesil gab für Chap etwas in den Becher aus Blech, den er immer bei sich führte, aber das Wasser war so warm, dass es kaum Erleichterung brachte.
Chap behielt Magiere im Auge, doch es gelang ihr, sich auf den Beinen zu halten. Er übermittelte ihr geistige Bilder von ihrer Reise durch die Klingenberge, von Schnee und eiskaltem Wind. Sie runzelte die Stirn, aber diesmal forderte sie ihn nicht auf, aus ihrem Kopf zu verschwinden. Stattdessen legte sie ihm die Hand auf den Rücken.
»Alles in Ordnung?«, wandte sich Leesil an sie.
»Geh weiter!«, sagte Magiere nur.
Als Chap schon glaubte, die Treppe würde nie ein Ende nehmen, erreichte Sgäile einen Absatz. Chap spähte an den Beinen des Elfen vorbei und bemerkte eine Öffnung in der Felswand. Das orangefarbene Licht dahinter war etwas heller, wie von einem Feuer, das dort brannte.
Chap trat neben Sgäile und sah noch mehr.
Das Portal am Ende der Treppe führte auf ein breites Plateau, und an seinem Ende kam rotes Licht aus einem Riss im Bauch des Berges, breiter als ein Fluss. Rauch quoll dort aus den Tiefen der Erde empor.
»Wartet … hier«, brachte Sgäile mühsam hervor.
Er ging mit langsamen, schweren Schritten, blieb noch vor der Mitte des Plateaus stehen und holte etwas hervor.
»Was macht er da?«, fragte Leesil.
Sgäile hob den Arm und warf ein kleines, dunkles Objekt, das übers Plateau flog und in dem Riss verschwand. Chap hatte den Gegenstand in den Erinnerungen des Elfen gesehen: einen glatten Basaltstein mit darin eingeritzten Zeichen. Sgäile kehrte zurück, beugte sich wie erschöpft nach vorn und stützte die Hände auf die Knie.
»Jetzt warten wir«, sagte er.
Leesil wankte näher. »Wie lange? Worauf?«
Sgäile schüttelte nur den Kopf.
Sie standen dort so lange, dass sich Chap am liebsten hingelegt hätte. Aber er befürchtete, dann nicht mehr aufstehen zu können.
Da hörte er ein leises Kratzen.
Es klang wie Metall auf Stein. Chap drehte den Kopf und hielt Ausschau. Der Rand des Plateaus zeichnete sich dunkel vor dem roten Licht ab, das aus dem breiten Riss kam, und darin bewegte sich etwas.
Alles in Leesil drängte danach, diesen Ort zu verlassen, erst recht, wenn er Magiere ansah.
Mit halb geschlossenen Augen stand sie da und schnappte nach Luft. Leesil stellte fest, dass sie kaum schwitzte, und das hielt er für ein schlechtes Zeichen. Was Chap betraf … Seine Beine zitterten; er schien kurz vor dem Zusammenbruch zu sein.
Leesil war wütend auf sich selbst, weil er Sgäile erlaubt hatte, sie hierherzubringen. Was auch immer Brot’an und seine Mutter wollten, es spielte keine Rolle mehr. Er trat einen Schritt auf Magiere zu.
Plötzlich hörte er ein leises Kratzen, wie von einem Messer, das über Stein schabte. Chap hob den Kopf, und Leesil tastete nach seinen speziellen Klingen.
Sein Blick glitt zu Sgäile, der keine Waffe in der Hand hielt, sich mühsam aufrichtete und zum Riss auf der anderen Seite des Plateaus sah.
»Sgäile?«, fragte Leesil.
»Lass deine … Klingen in den … Scheiden«, brachte Sgäile hervor.
Magiere trat taumelnd neben Leesil, die eine Hand auf dem Griff ihres Falchion.
Etwas bewegte sich am Rand des Plateaus. Konturen zeichneten sich ab.
Zuerst war es nicht mehr als ein verwaschener Fleck vor dem Glühen. Das Etwas, klein und dunkler als der Fels, kroch aus den roten Tiefen aufs Plateau. Leesil konnte zwei spindeldürre Arme erkennen, als das Wesen nach vorn kroch und etwas hinter sich herzog.
Es fiel Leesil schwer, eine genaue Vorstellung von der Größe des Geschöpfs zu gewinnen, aber er schätzte, dass es, wenn es sich aufgerichtet hätte, nicht viel größer gewesen wäre als Chap. Dort, wo sich der Kopf befand, öffneten sich zwei horizontale Schlitze.
Der Blick von zwei Augen – weiß glühende Kohlen in der Dunkelheit – richtete sich auf Leesil.
Das Geschöpf kroch noch etwas weiter und zog einen Sack hinter sich her, etwa halb so groß wie das Wesen selbst. Der graue Stoff des Sacks glänzte, wie von Fäden aus schwarzem Metall oder Glas durchzogen. Dünner Rauch stieg davon hoch und löste sich in der heißen Luft auf.
»Was …«, begann Magiere.
»Chein’âs«, sagte Sgäile. »Die Brennenden.«
Aber es war nur einer, und das kleine Geschöpf zerrte an dem Sack. Es hielt inne und starrte mit seinen glühenden Augen, unter denen sich ein kleiner Mund öffnete.
Ein Kreischen hallte übers steinerne Plateau.
Leesil zuckte zusammen und hatte das Gefühl, dass es ihm die Trommelfelle zerriss. Das schreckliche Geräusch schien in Kopf und Knochen zu vibrieren.
»Geh!«, stieß Sgäile hervor, die Hände auf die Ohren gepresst. »Was auch immer es mitgebracht hat … es ist für dich, Léshil.«
Chap knurrte und machte einige Schritte nach vorn. Magieres Hand schloss sich um Leesils Arm.
»Alles in Ordnung«, flüsterte er und befreite sich behutsam aus ihrem Griff.
Magiere zitterte, versuchte aber nicht noch einmal, ihn festzuhalten.
Leesil wankte langsam übers Plateau und näherte sich dem schwarzen Wesen mit den glühenden Augen; jetzt konnte er es deutlicher erkennen.
Es war nicht größer als ein nacktes Kind von sechs oder sieben Jahren und hockte mit krummen Armen und Beinen da. Die Haut war schwarz und ledrig. An den Händen beobachtete Leesil dünne Finger, die in kurzen Klauen endeten, dunkel wie Obsidian. Der Kopf mit den glühenden Augen, den beiden vertikalen Nasenschlitzen und dem kleinen Mund wirkte viel zu groß für den schmächtigen Körper. Zwei kleine Vertiefungen ersetzten die Ohren.
Leesil hatte das Wesen noch nicht erreicht, als es zu zittern begann.
Es wich vor ihm zurück und schlang die Arme um sich wie ein missgestaltetes nacktes Kind im kalten Winterwind. Je näher Leesil zu kommen versuchte, desto mehr zitterte das Geschöpf, als ginge der kalte Wind von ihm aus. Leesil blieb stehen, ging in die Hocke und wartete.
Das Wesen schauderte und gab ein leises Zischen von sich – es klang wie Wasser auf einem heißen Backblech. Mit beiden Klauenhänden griff es in den Sack, und Leesil glaubte, darin das Aufblitzen von Metall zu sehen. Dann warf das Geschöpf zwei lange Gegenstände aus gewölbtem Metall über den Boden.
Leesil wich hastig zurück, als die beiden Objekte auf ihn zurutschten. Ihre Form erschien ihm vertraut, und als er sie aus der Nähe sah …
Er riss die Augen auf.
Zwei lange Klingen mit gewölbter Außenseite lagen dort vor ihm und sahen genauso aus wie die Spezialanfertigungen, die er in den Scheiden am Gürtel trug.
Jene Klingen waren von einem Waffenschmied in Bela hergestellt worden, nach den von Leesil gezeichneten Skizzen. Doch diese beiden Waffen bestanden nicht aus Stahl; dafür schimmerten sie zu rein, selbst im düsteren roten Licht aus dem Riss. Sie glänzten wie Spiegel, wie das Metall der Tür, hinter der sich dieser Ort befand. Wie die Stilette der Anmaglâhk.
Leesil betrachtete die beiden Waffen. Im Gegensatz zu seinen Klingen krümmten diese sich am Ende elegant nach außen. Der Teil vor den Griffen war dünn, lief spitz zu und schien etwas länger zu sein als bei den Spezialanfertigungen.
Die ovalen Griffe waren noch nicht in Leder gehüllt.
In der Mitte wiesen beide Klingen halbkreisförmige, zur Seite gerichtete Öffnungen auf, die vielleicht dazu dienten, die Waffen an den Armen zu stabilisieren.
Leesil hob den Blick von den Klingen und richtete ihn auf das zitternde kleine Wesen. Seine Mutter hatte die Spezialanfertigungen nie aus solcher Nähe und nicht ein einziges Mal in Aktion gesehen. Nur Brot’an wusste über sie Bescheid – und er hatte gewusst, dass Leesil hierherkommen würde.
Neuer Ärger brodelte in Leesil.
»Nimm die Klingen!«, drängte Sgäile hinter ihm.
Leesil sah über die Schulter – Sgäile wirkte verwirrt und sogar schockiert. Ganz offensichtlich hatte er etwas anderes erwartet, vielleicht Stilette wie sein eigenes. Dann bemerkte Leesil, dass Magiere neben Chap kniete und ihn beobachtete.
Er musste sie von hier wegbringen.
Mit einer Hand ergriff er die Klingen und hätte sie fast fallen lassen, weil sie so heiß waren. Er klemmte sie sich unter den Arm, kehrte über das Plateau zurück und erreichte Magiere.
Sgäile streckte dem kleinen Wesen beide Hände entgegen und sprach leise Worte auf Elfisch. In seiner Stimme erklang eine sonderbare Ehrerbietung.
Chap hinkte bereits zur Treppe, als Leesil Magiere auf die Beine zog und Anstalten machte, mit ihr dem Hund zu folgen.
Hinter ihm wiederholte das kleine Geschöpf sein grässliches Kreischen.
Für einen Moment war Chap taub.
Er wirbelte herum und schaute zurück übers Plateau. Das Gekreische des kleinen Wesens hallte noch immer durch seinen Kopf, und instinktiv bellte er, damit es endlich Ruhe gab.
»Was jetzt?«, rief Leesil.
Sgäile beobachtete das Wesen stumm.
Das schwarze Geschöpf erinnerte Chap an etwas, aber die Hitze machte ihn benommen. Vielleicht hatten ihm die Feen bei seiner Geburt auch die Erinnerungen an diese Wesen genommen. Oder ging der vage Eindruck des Vertrauten auf etwas zurück, das er nach seiner Fleischwerdung auf dieser Welt gesehen hatte? So sehr er auch suchte, er fand in seinem Gedächtnis keine Informationen über diese »brennenden« Wesen, die Chein’âs.
Das Geschöpf beugte sich wieder über seinen Sack und wurde zu einer krummen Silhouette, die unmittelbar darauf plötzlich einen Arm bewegte.
Ein metallenes Objekt spiegelte das rote Licht wider, als es aus der Klauenhand des Wesens flog und klappernd auf den Boden fiel. Bevor Chap feststellen konnte, um was für einen Gegenstand es sich handelte, warf das Geschöpf noch etwas.
Diesmal war das Geräusch dumpfer, wie von etwas mit mehr Gewicht, und das zweite Objekt glänzte nicht so wie das erste.
»Was jetzt?«, wiederholte Leesil und ließ Magiere mit der Absicht los, übers Plateau zurückzugehen.
Sgäile schüttelte den Kopf, wirkte dabei besorgt und sehr wachsam. »Ich verstehe dies nicht.«
Die Kreatur warf den Kopf zurück, schloss die Augen und öffnete den Mund. Wieder hallte ein Kreischen durch die heiße Düsternis und vibrierte in Chaps Knochen. In seinen Ohren dröhnte es noch, als das Wesen die Hand hob, und ein Zischen erklang wie von verdampfendem Wasser.
Die Hand mit den Krallen bewegte sich und schien zu versuchen, die Luft zu zerreißen. Die Geste galt Chaps Mündeln.
Leesil hatte über das Plateau zurückkehren wollen. Das schien dem kleinen schwarzen Wesen nicht recht zu sein. Sein Ruf galt nicht ihm.
Chap richtete einen besorgten Blick auf Magiere. Was wollte die Kreatur von ihr?
Sgäile hatte nur Leesil hierherbringen sollen. Worin auch immer Brot’ans Plan bestand, er hatte nicht wissen können, dass Magiere Sgäile zwingen würde, sie mitzunehmen. Was hatte das schwarze Wesen dort auf den Boden geworfen?
Die Krallen des Geschöpfs fuhren erneut durch die Luft, als es die Magiere geltende Geste wiederholte.
Die Luft brannte heiß in ihren Lungen, doch tief in ihrem Innern fühlte Magiere Kälte. Die widerstreitenden Empfindungen machten sie schwindelig und schwach.
Sgäile wankte einige Schritte übers Plateau und schüttelte den Kopf. Als er zu Magiere zurücksah, bildete sein schweißnasses Gesicht eine Grimasse.
Magiere hatte jenen Blick schon einmal gesehen: als er zum ersten Mal beobachtet hatte, wie sie neben Leesil unter die Decke kroch. Und an dem Tag, als sie auf Nein’as Lichtung die Kontrolle über sich verloren hatte.
Das kleine dunkle Wesen aus dem rot glühenden Riss wollte, dass sie zu ihm kam.
Diese überraschende Wende der Ereignisse machte Sgäile sehr zu schaffen. Plötzlich winkte er und forderte sie auf, sich in Bewegung zu setzen.
»Geh … jetzt!«, stieß er hervor.
»Ich führe dich«, flüsterte Leesil ihr zu.
»Nein!«, widersprach Sgäile und schluckte. »Sie muss allein gehen.«
Chap drückte die Schnauze an Magieres Beine. Sie legte ihm die Hand auf den Rücken und spürte sein Zittern. Als er losging, folgte sie ihm langsam übers Plateau. Sgäile machte zwei unsichere Schritte, zögerte dann aber. Wie üblich widerstrebte es ihm, sich in die Angelegenheiten eines Majay-hì einzumischen.
Magiere grub ihre Finger in Chaps Fell, und ihr Blick galt dem glänzenden Objekt auf dem steinernen Boden. Ein letzter Schritt, und sie stand genau davor. Sie sank auf die Knie und tastete über den Stein.
Ihre Finger fanden die glänzende Stelle und zuckten zurück – der Gegenstand war heiß. Sie blinzelte mehrmals und sah ihn deutlicher.
Der Dolch war so lang wie ihr Unterarm und über dem Schutzbügel breiter als eine Faust. Weder Holz noch Leder umgab die Metallstange unter dem Bügel; sie endete in einem kleinen Knauf. Die Länge der Klinge entsprach etwa zwei Dritteln eines Kurzschwerts – ein Kriegsdolch. Er schimmerte silberweiß und war ohne den geringsten Makel, wie die Tür, die Sgäile in der Höhle geöffnet hatte, wie sein Stilett.
Chap schnaufte, und Magiere blickte hoch. Ihre Augen juckten, da sie in der Hitze austrockneten. Der Hund wandte sich dem zweiten Objekt zu und senkte die Schnauze. Auf Händen und Knien kroch Magiere zu ihm.
Neben Chap lag ein Reif aus rötlich-goldenem Metall, zu rot für Messing und zu dunkel für Gold. Der Gegenstand wirkte recht schwer, und sein Umfang war größer als der eines Helms. Der Reif wies sonderbare Zeichen auf, die Magiere nicht klar erkennen konnte. Etwa ein Viertel fehlte zu einem vollständigen Ring.
Sie blinzelte erneut, um deutlicher zu sehen, und stellte fest, dass die Lücke beabsichtigt war. An den beiden Enden zeigten sich kleine Verdickungen.
Magiere schwankte auf allen vieren und versuchte, den Kopf zu heben.
Das schwarze ledrige Wesen beobachtete sie und hob dann plötzlich die Klauenhand zur einen Seite des ohrlosen Kopfes. Lange Finger strichen über den Schädel, wie durch imaginäres Haar. Die Geste weckte eine Erinnerung in Magiere.
Eine geflügelte, zarte Frau, kaum größer als dieses Wesen – eine Silf –, war bei der Versammlung der An’Cróan-Ältesten erschienen. Und jene Frau hatte mit dünnen Fingern durch Magieres Haar gestrichen.
Ein knisterndes Zischen kam aus dem lippenlosen Mund des schwarzen Wesens, und es schloss die phosphoreszierenden Augen. Dann neigte es den Kopf nach hinten und hob beide Hände vors Gesicht. Die Hände glitten gleich darauf nach unten, und zum Vorschein kam der offene Mund in einem Gesicht, das Schmerz zum Ausdruck brachte.
Das Wesen stimmte ein klagendes Heulen an.
Das Geräusch vibrierte im Stein unter Magieres Händen und Knien, und ihr wurde übel. Ihre Arme gaben nach, und das Letzte, was sie sah, war der weit geöffnete Mund des Geschöpfs.
Er enthielt keine Zähne, sondern dunkle Kämme in der Farbe von Metall.
Irgendwo hatte sie das schon einmal gesehen, und der Eindruck von Vertrautheit ließ sie innerlich erbeben.
Chap beobachtete, wie das Wesen den Kopf hob und voller Kummer heulte.
Es erkannte Magiere oder schien von ihr zu wissen.
Warum sonst hatte es ihr die beiden Objekte gebracht, eine Waffe und einen Reif aus seltsamem Metall? Weder Brot’an noch Nein’a konnten gewusst haben, dass Magiere an diesem Ort erscheinen würde. Die Geschenke stammten also direkt von den Chein’âs.
Doch Magieres Anblick schien dem Geschöpf Schmerz zu bereiten. Und dann brach sie zusammen.
»Magiere!«, rief Leesil.
Bevor Chap zu ihr eilen konnte, heulte das Wesen erneut. Als das Echo verklang und die Vibrationen in Chaps Kopf nachließen, huschte das Geschöpf zum Rand des Plateaus.
Chap erstarrte, als es über den Rand sprang, hinein in den glühenden Riss.
Das kleine Wesen fiel nicht – es schien in der Luft zu schweben. Rotes Licht umgab den dürren schwarzen Leib, der sich in der aufsteigenden heißen Luft drehte wie ein Insekt im Wind, dann sank das Geschöpf langsam in die Tiefe.
Bevor es ganz verschwand, sprang Chap übers Plateau und versuchte, Erinnerungen zu empfangen.
Feuer loderte in seinem Geist.
Es fraß sich durch Chaps Körper, bis er nur noch heißen Schmerz fühlte und sich alles um ihn herum in sengendes Weiß auflöste.
Leesil eilte zu Magiere und hörte Chaps schmerzerfülltes Jaulen.
Der Hund fiel zuckend auf den Boden. Auf dem Bauch lag er da und trat, als versuchte er, sich aus etwas zu befreien.
Leesil erreichte Magiere und packte sie am Kragen der Weste, aber als er die Hand nach Chap ausstreckte, musste er feststellen, dass der Hund zu weit entfernt lag. Er drehte Magiere herum, hielt das Ohr dicht an ihren Mund und hörte, dass sie atmete – sie lebte. Chap jaulte noch immer, und Leesil wandte sich ihm zu.
Plötzlich legte sich ihm eine Hand auf die Schulter und riss ihn herum.
»Ich kümmere mich um ihn!«, rief Sgäile. »Bring Magiere und ihre Geschenke fort!«
»Was ist mit Chap?«, flüsterte Magiere.
Leesil drehte sich um und sah, dass ihre Augen halb geöffnet waren.
In diesem Moment störte er sich nicht daran, dass ihm Sgäile Anweisungen erteilte. An den Geschenken des kleinen schwarzen Wesens war er nicht interessiert – ihm ging es nur darum, Magiere und Chap fortzubringen. Aber er nahm die beiden Objekte trotzdem, den goldenen Reif und den Dolch.
»Sgäile kümmert sich um Chap«, ächzte er, hakte sich den Reif an die Schulter und klemmte sich den Dolch zusammen mit seinen beiden neuen Waffen unter den Arm. Dann zog er Magiere hoch, legte sich ihren einen Arm um die Schultern und hielt sie mit der freien Hand an der Taille. Keiner von ihnen blickte zurück, als sie in den Tunnel wankten, zurück zur Treppe.
Sgäile sank neben dem jaulenden Chap auf die Knie, schob beide Arme unter den Hund und murmelte immer wieder: »Bitte, ihr Ahnen, schützt ihn … ich flehe euch an!«
Chap zappelte und war schwerer als erwartet. Erst beim zweiten Versuch gelang es Sgäile, ihn hochzuheben, und als er ihn übers Plateau trug, lastete außerdem das Gewicht der Schuld auf ihm.
Er hatte Außenstehende zu den Chein’âs gebracht. Er hatte ein bleiches Ungeheuer zu diesem Ort geführt und beobachtet, wie es ebenfalls Geschenke bekam. Und jetzt litt Chap, der vom alten Geist berührt war.
Und das alles, weil er Brot’ans Anliegen nicht zurückgewiesen hatte.
Jeder Tag brachte mehr Verwirrung, und er geriet in eine immer schwierigere Situation, bis ihm kaum mehr etwas anderes übrig blieb, als sich blind an seinem Glauben festzuklammern. Aber er hätte es nicht ertragen können, wenn dieser uralte Geist in seinen Armen starb.
»Bitte, lass dich von mir tragen«, flüsterte Sgäile Chap ins Ohr, hob ihn hoch und eilte zum Tunnel.
Chaps Knochen schienen sich in glühende Kohlen zu verwandeln, die seinen Körper von innen verbrannten. Überall um ihn herum glühten Steine, und er konnte kaum mehr atmen. Von der Erinnerung, die er dem kleinen schwarzen Wesen gestohlen hatte, ging ein Schmerz aus, der in Herz und Seele stach.
Er sah andere seiner Art: Sie krochen und sprangen umher, ganz nahe bei einer Ansammlung rauchender Steine, die einen Lavafluss umgaben. Manche von ihnen schwammen in der orangefarbenen Flüssigkeit, die so hell strahlte, dass sie blendete.
Verloren in dieser Erinnerung betrachtete Chap seine eigenen dunklen, ledrigen Hände und die dünnen, in Krallen endenden Finger. Sie waren um die Kante des Felsvorsprungs gewölbt, auf dem er saß.
Bitte, lass dich von mir tragen!
Die Worte flüsterten irgendwo in Chaps Innern, und der Schmerz ließ nach, bis er nur noch angenehme Hitze unter den schwarzen Händen und Füßen fühlte.
Dann war plötzlich das Kreischen der Wesen von Furcht erfüllt.
Kleine dunkle Hände huschten am Rand des Risses entlang wie Nagetiere, die versuchten, sich irgendwo zu verstecken. Die qualmenden, halb verbrannt wirkenden Wände des Risses, der die Ausmaße einer Schlucht gewann, zitterten und verschwammen, wurden zu wogendem Schwarz, in dem hier und dort Lichter schwebten. Chap verlor sie aus den Augen, als etwas Neues in sein Blickfeld geriet.
Er schwebte in der heißen Luft über dem Lavafluss. Und er war dort nicht allein.
Eine Gestalt flog ihm entgegen, gehüllt in einen langen Kapuzenmantel. Die Symbole darauf schienen das rote Licht des Flusses einzufangen und ihrerseits zu glühen. Die obere Hälfte des Gesichts unter der Kapuze verbarg sich hinter einer alten Ledermaske. Darunter waren verschrumpelt wirkende Lippen und ein faltiges Kinn. Die Maske wies keine Augenschlitze auf, aber die Gestalt drehte den Kopf und schien die kleinen schwarzen Wesen zu sehen, die entsetzt flohen.
Chaps eigene Erinnerungen überlagerten die gestohlenen, und er schmeckte Fleisch und Blut zwischen seinen Zähnen.
Ubâd, der verrückte Nekromant, der Magieres Geburt geplant hatte … Er schwebte in der Luft, getragen von einem Gefährt aus versklavten Geistern. Teile dieser dünnen grauweißen Kugel wurden zu langen Streifen, die den Fliehenden folgten, und einer von ihnen berührte eins der Wesen.
Es kreischte gequält, als einer von Ubâds Geistern seine Brust durchdrang. Ubâd kam herab und packte das Geschöpf am Hals.
Chap lief mit schwarzen Händen und Füßen los. Am Ufer des Lavaflusses sprang er von Stein zu Stein und versuchte, sich Ubâd zu nähern. Der Nekromant stieg in seinem Geisterkokon auf und schwebte wieder in der heißen Luft. Chap kletterte an der nahen Wand empor und stieß sich ab.
Nein, nicht Chap stieß sich ab, sondern das schwarze Wesen, aus dessen Perspektive er die Ereignisse sah.
Chap erlebte, wie es versuchte, das von Ubâd gepackte Geschöpf zu erreichen – jenen Chein’âs, den Ubâd in der Feste von Magieres Vater getötet hatte, um ihre Geburt zu ermöglichen. Seine schwarzen Hände ergriffen den Kapuzenmantel des Nekromanten.
Ubâds Gesicht wandte sich nach unten, während seine knochigen Hände den Gefangenen festhielten. Die grauweiße Kugel um ihn herum verwandelte sich in eine Art Strudel um Chaps dünne schwarze Arme.
Plötzliche Kälte saugte die Wärme aus Chaps Körper.
Seine kleinen Hände lösten sich von dem Kapuzenmantel, und er fiel mit einem Kreischen.
Wach auf! Bitte, stirb nicht! Kehr zu mir zurück!
Wieder flüsterte eine Stimme in ihm. Er hörte sie, kurz bevor sein dürrer Körper in den Lavafluss stürzte.
Chap zuckte und öffnete die Augen.
Er sah in das schweißnasse Gesicht eines Elfen.
Sgäile seufzte schwer. Für einen Moment senkte er den Kopf, dann drehte er sich auf den Knien und sah in die andere Richtung.
»Er ist wach!«, rief er.
Chap lag auf dem Boden, mit dem Kopf auf glattem Stein, und die Welt schien zur Seite gekippt zu sein. Das Bild vor seinen Augen war verschwommen, aber er sah eine silberweiße ovale Tür. Sie war geschlossen und versperrte den Zugang zur brennenden Schlucht tiefer im Berg. Sie befanden sich wieder in der Eingangshöhle.
»Wie geht es Magiere?«, fragte Sgäile.
Leesil lag halb hinter ihr, die Arme um ihre Taille geschlungen. Sie atmete noch immer schwer, öffnete aber gelegentlich die Augen.
»Sie wird es schaffen«, erwiderte Leesil. »Aber wir brauchen mehr Wasser für sie beide. Und wir sollten weiter nach oben, raus aus dieser Hitze.«
Sgäile nickte, griff in seinen Rucksack und holte eine Wasserflasche hervor. Als er zur Seite rückte, bemerkte Chap die metallenen Gegenstände, die auf halbem Weg zwischen ihm und Magiere und Leesil auf dem Boden lagen. Das Bild vor seinen Augen wurde klarer, bis er schließlich die beiden langen Klingen sah, die Leesil bekommen hatte, außerdem den Dolch und den goldenen Reif. Insbesondere der letzte Gegenstand machte ihm Sorgen, aber er konzentrierte sich auf den Dolch.
Sie waren auf ein weiteres der verlorenen Völker gestoßen, die Úirishg, eine von fünf nichtmenschlichen Spezies, die allgemein nur für einen Mythos gehalten wurden.
Wie die Séyilf bei der Versammlung der Ältesten hatte der Chein’âs Magiere erkannt und vielleicht eine Art Verwandte in ihr gesehen. Er hatte ihr Geschenke gegeben, und Chap fragte sich, was sie bedeuten mochten.
Jenes Wesen hatte vor langer, langer Zeit gesehen, wie ein Artgenosse entführt worden war. War der Dolch ein Hinweis auf das Blut, das bei Magieres Empfängnis vergossen wurde?
Oder forderte er sie auf, Rache zu üben?
Eine Rache, zu der das kleine Wesen und die anderen Chein’âs nicht imstande waren, da sie die heißen Tiefen nicht verlassen konnten.
Chap schloss die Augen. Wie auch immer, er konnte keinen Trost anbieten. Wie sollte er dem Geschöpf mitteilen, dass er Ubâds Kehle bereits zerfetzt hatte?
Die Träumerin fiel durch tiefe Dunkelheit und stand dann plötzlich in einer schwarzen Wüste. Um sie herum ragten Dünen auf, aber dann erkannte sie, dass es gar keine Dünen waren, denn sie sah den Glanz von schwarzen Schuppen.
»Zeig mir die Burg!«, sagte die Träumerin.
Der Flug über den Nachthimmel ging weiter.
Hier. Sie ist hier.
Die Stimme erklang, als die Träumerin erneut fiel. Hohe Berggipfel mit ewigem Eis umgaben sie wie die Zähne eines riesigen Mauls, und in seinem Schlund erstreckte sich ein gewaltiges schneebedecktes Plateau. Ein Fleck darauf wurde größer, und für einen Moment sah die Träumerin eine Burg mit sechs Türmen und hohen Mauern.
Das weiße Plateau raste der Träumerin entgegen, aber es kam nicht zu einem Aufprall.
Von einem Augenblick zum anderen stand sie vor einem hohen, gewölbten Tor, über dessen Spitze sich die Schnörkel gusseiserner Verzierungen trafen. Rost bildete Flecken an ihnen, hatte sie aber noch nicht zerfressen. Hinter dem Tor führten die steinernen Stufen einer Treppe zum eisernen Portal der Burg.
Ein Krächzen ließ die Träumerin aufsehen. Ein Rabe saß auf dem Tor.
Sie wandte den Blick von ihm ab und schaute wieder zur Treppe und dem Portal. Etwas bewegte sich hinter dem niedrigen Fenster eines Turms.
Es war eine Frau. Bevor sie auf der anderen Seite des Fensters verschwand, sah die Träumerin ein Gesicht weiß wie Schnee und kohlschwarzes Haar.
Süden. Du musst nach Süden reisen.
»Ja«, antwortete die Träumerin. »Ich reise nach Süden.«
Nein. Du versuchst es nicht einmal!
»Wann … finde ich die Burg? Wann lässt du mich endlich in Ruhe?«
Wenn du dein Ziel erreicht hast. Dann sind keine Träume mehr nötig. Übernimm die Führung, mein Kind … große Schwester der Toten.
Magiere riss die Augen auf, kroch abrupt unter der Decke hervor, schnappte nach Luft und starrte in die Nacht.
Sie lag noch immer neben Leesil, in dem Lager, das sie am vergangenen Abend bei ihrem Rückweg zur Küste aufgeschlagen hatten. Chap hatte sich am heruntergebrannten Lagerfeuer auf Leesils Mantel zusammengerollt, und auch Sgäile schien fest zu schlafen. Hinter ihm lag der Beutel mit den »Geschenken« des Chein’âs.
Beim Rückweg ging es bergab, und selbst mit den Augenbinden hätte es schneller gehen sollen als beim Aufstieg, aber sie machten oft Rast. Alle hatten während dieser Reise viel Kraft verloren.
Am kommenden Tag würden sie das Schiff erreichen und die Fahrt nach Süden fortsetzen, gelenkt allein von Magieres Instinkt. Sie blickte in die Dunkelheit und verspürte den Wunsch, einfach loszulaufen, bis sie fand, was sie finden musste. Bis dieser Drang endlich aus ihr verschwand.
Magiere legte sich wieder hin, den Kopf auf Leesils ausgestrecktem Arm. Sie rückte näher an ihn heran, bis sie seine Brust an ihrem Rücken spürte. Doch als sie die Augen schloss, sah sie wieder die Burg aus ihrem Traum und eine bleiche Frau, die an einem Fenster vorbeiging.
In den vergangenen vier Nächten hatte Chane immer wieder das Meer gerochen, und in dieser Nacht wurde der salzige Geruch stärker. Die neuen Untoten nahmen ihn ebenfalls wahr und wurden unruhig.
Welstiel machte plötzlich halt und deutete nach vorn. »Dort … hinter den Bäumen!«
Chane reckte den Hals und erweiterte sein Sehvermögen.
Zuerst sah er nur eine Ebene in der Ferne, geradezu unmöglich flach, und dann nahm er die langsamen Bewegungen auf ihrer Oberfläche wahr – Wellen zogen in der Nacht dahin.
Plötzlich wehte ihm noch ein anderer Geruch entgegen.
Leben. Menschliches Leben.
Der Untote mit dem lockigen Haar begann zu zischen und zu fauchen, und die beiden jüngeren Männer heulten und wollten loslaufen. Chane wusste, dass der Geruch für sie noch viel berauschender sein musste, denn er stellte ihnen all das in Aussicht, was sie sich wünschten. Der grauhaarige Mann und Sabel wimmerten aufgeregt.
»Halt!«, befahl Welstiel. »Ihr alle, bleibt stehen.«
Die ehemaligen Mönche verharrten wie an Fäden geführte Marionetten. Ein junger Mann konnte nicht so schnell stehen bleiben und fiel aufs Gesicht. Sabel sank auf die Knie, neigte den Oberkörper vor und zurück und setzte das leise Wimmern fort.
Die Verzweiflung der Untoten erinnerte Chane daran, dass er noch länger auf Nahrung verzichtet hatte als sie – er wollte Blut.
»Folge mir!«, wandte sich Welstiel an Chane und sah kurz zu seinen Dienern. »Verlasst diesen Ort nicht, bevor ich es euch sage.« Er deutete auf Chane. »Oder bevor er es euch befiehlt.«
Chane folgte Welstiel durch den lichten Wald am Hang vor ihnen. Mit jedem Schritt wurde der Geruch von Leben in der salzigen Brise stärker und auch der eines Lagerfeuers.
Schließlich blieb Welstiel stehen und legte sich auf den Bauch. Chane folgte seinem Beispiel, kroch mit ihm zum Rand eines Felsvorsprungs und sah zum Strand hinab.
Es überraschte ihn nicht, dort unten Männer zu sehen, die an einem Lagerfeuer saßen, doch das Schiff in der Bucht weiter hinten war eine andere Angelegenheit. Ein Schoner mit drei Masten lag nicht weit entfernt vor Anker, und zwei lange Ruderboote waren ans Ufer gezogen, jedes von ihnen halb mit Fässern gefüllt.
»Was sind das für Leute?«, flüsterte Chane.
Welstiel beobachtete weiterhin die Männer und antwortete nicht, und so kehrte Chanes Blick zu den Fremden zurück, zu den sechs Männern, die verschlissene Kleidung trugen. Deutlich roch er ihre Lebenskraft und ihren Schweiß. Zwei kehrten zu einem Ruderboot zurück und luden ein Fass an Bord, das recht schwer zu sein schien. Er hörte die Stimmen der Männer am Feuer, doch einzelne Worte ihres Gesprächs verstand er nicht.
»Warum sind sie hierhergekommen?«, flüsterte er.
»Ich glaube, die Suche nach Frischwasser hat sie hierhergebracht«, erwiderte Welstiel. »Der Große in der Jacke hat vergiftetes Wasser an Bord des Schiffes erwähnt.«
»Du sprichst ihre Sprache?«
»Nicht sehr gut. Ich habe sie seit Jahren nicht mehr gehört, seit mein Vater …«
Welstiel sprach nicht weiter.
Chanes Neugier war geweckt. Er wusste nur wenig von Welstiels früherem Leben, eigentlich nicht mehr, als dass er auf einem anderen Kontinent geboren war. Und dass sich sein Vater in der Hierarchie des dröwinkanischen Adels nach oben gearbeitet hatte.
»Ich verstehe das eine oder andere Wort«, fügte Welstiel schließlich hinzu. »Irgendwo in der Nähe muss es frisches Wasser geben. Seefahrer merken sich solche Dinge. Allerdings wundert es mich, so weit im Norden und so nahe beim Reich der Elfen Menschen anzutreffen.«
»Wasser wird bald ihre geringste Sorge sein«, sagte Chane und spürte, wie die Gier nach Blut stärker wurde. »Wir sollten die anderen holen.«
»Nein, dies ist besser, als ich zu hoffen wagte«, entgegnete Welstiel und deutete zum Schiff. »Magiere reist so schnell, dass sie nur auf einem Schiff unterwegs sein kann. Der Schoner wird uns nützlich sein.«
Chane glaubte, seinen Ohren nicht trauen zu können, und richtete einen noch aufmerksameren Blick auf die Männer am Strand. Einige trugen krumme Dolche hinter ihren Gürteln; bei anderen steckten Entermesser in Scheiden. Die meisten von ihnen waren schlicht gekleidet, und bei zwei Männern bemerkte Chane Westen aus Leder.
»Ich bezweifle, dass sie an Passagieren interessiert sind«, sagte Chane. »Wir könnten uns mit ihrem Blut stärken, den Neuen Kraft geben und das Schiff übernehmen. Aber ich verstehe nichts vom Segeln, und ich nehme an, die ehemaligen Mönche wissen davon ebenso wenig wie ich. Was ist mit dir?«
Welstiel schüttelte den Kopf und sah nach unten. »Wir brauchen die Besatzung. Und ich zähle auf ihre Habgier.«
Er holte einen Beutel unter seinem Mantel hervor und ließ die Münzen darin klirren. Chane sah ihn groß an.
Bisher war er davon ausgegangen, dass sie in Venjètz den größten Teil ihres Geldes verloren und den Rest für den Erwerb von Pferden und Vorräten ausgegeben hatten. Aber Chane hatte nie gefragt, denn in den Bergen war kein Geld nötig gewesen.
»Woher hast du das?«, fragte er jetzt.
Welstiel lockerte die Schnur des Geldbeutels. »Aus einer Truhe im Kloster.«
»Du willst für einen Platz an Bord des Schoners bezahlen?«, wandte sich Chane überrascht an Welstiel. »Ich bezweifle, dass die Mönche genug Geld gespart haben, um diese Seefahrer in Versuchung zu führen.«
»Und ich bezweifle, dass sie etwas anderes hören als das Klirren der Münzen. Erst recht, wenn wir ihnen zu verstehen geben, dass es noch mehr für sie geben könnte.«
Chane rutschte vom Rand des Felsvorsprungs und setzte sich auf.
Es war eine verlockende Vorstellung, die Berge endlich zu verlassen, aber er sah auch die Schwachstellen in Welstiels Plan. Wenn Welstiel mit der Sprache der Seefahrer nicht zurechtkam, liefen sie Gefahr, in einen Kampf zu geraten, bevor eine Vereinbarung getroffen werden konnte. Die Männer dort unten am Strand sahen aus, als würden sie aus der Wildnis kommende Wanderer eher ausrauben als ihnen anbieten, sie bis zum nächsten Hafen mitzunehmen. Und außerdem: Wie würden sie wohl reagieren, wenn die anderen Untoten aus der Dunkelheit kamen, mit gierigem Fauchen und hungrig starrenden Augen?
»Wir machen einen Bogen um diese Klippe und suchen nach einem Weg zum Strand«, sagte Welstiel.
Chane schüttelte den Kopf, folgte ihm aber. Er glaubte, dass sie das Schiff letztendlich bekommen würden – ohne eine Besatzung, die es segeln konnte.