9

Magiere stand zusammen mit ihren Gefährten auf dem Deck, als die Besatzungsmitglieder Kisten und Fässer in zwei Ruderboote luden. Nach drei Tagen hatte das Schiff den nächsten Hafen erreicht.

Die Frachtluke war noch offen, und Magiere warf einen Blick in den Frachtraum, der inzwischen fast leer war. Dann sah sie wieder zum Ufer, zu der Anlegestelle und der kleinen Siedlung. Leesil trat neben sie, und alles schien friedlich zu sein.

Aber das war es nicht. Sie fühlte es.

Immer wieder warfen ihnen die Elfen verstohlene Blicke zu. Sie waren viel zu still, wenn man die Präsenz von Menschen an Bord ihres Schiffes bedachte.

Sgäile, Osha, Chap und Wynn gesellten sich Magiere an der Seitenwand hinzu.

»Was ist los?«, fragte Magiere leise.

Wynn hielt den Blick gesenkt.

»Dies ist der letzte Hafen«, flüsterte sie. »Wir haben das Ende der An’Cróan-Gewässer erreicht. Wenn wir nicht wären, würde das Schiff jetzt nach Ghoivne Ajhâjhe zurückkehren. Aber weil wir an Bord sind, können die Elfen nicht heimkehren.«

Die Erklärung ergab durchaus Sinn, und Magiere zweifelte nicht an Wynns Worten, aber manchmal lag die junge Weise mit ihren Deutungen nicht ganz richtig.

»Stimmt das?«, fragte sie Sgäile.

An diesem Tag trug er sein langes Haar offen, und es wehte im Wind, was ihm etwas Wildes, Unzivilisiertes gab. Bevor er antworten konnte, näherte sich der Hkomas und sprach einige Worte auf Elfisch. Seine ledrige Haut wirkte rau im Vergleich mit Sgäiles, und die beiden Männer führten ein kurzes Gespräch.

Chap stand neben Wynn und beobachtete sie.

»Worum geht’s?«, fragte Leesil.

Sgäile sah erst ihn an und dann Magiere. »Es stimmt, dies ist der letzte Hafen. Der Hkomas hat sich bereit erklärt, euch dorthin zu bringen, wohin ihr wollt, aber jetzt bittet er um die Angabe eines klaren Ziels. Er hat die südlichen Gewässer einige Male befahren und weiß, dass diese Küste für sein Schiff und die Besatzung gefährlich ist.«

»Erwartet uns im Süden schlechteres Wetter?«, fragte Wynn.

»Nein«, antwortete Sgäile langsam. »Es geht um die Sicherheit dieses Schiffes, das nicht militärisch ist.«

»Es gibt also andere Schiffe, die euer Volk schützen?«, warf Leesil ein.

»Wir haben Schiffe, die patrouillieren«, bestätigte Sgäile und wandte sich wieder an Magiere. »Ich muss dem Hkomas eine Antwort geben. Er muss wissen, wie weit die Reise geht und wohin er Schiff und Besatzung bringt.«

Hilflosigkeit machte Magiere fast so zornig wie Furcht. Sie musterte den Hkomas, der ihren Blick ernst erwiderte. Er schien um die fünfzig zu sein, nach menschlichen Maßstäben, was bedeutete, dass er als Elf viel älter war. In stummer Herausforderung verschränkte er die sehnigen Arme, und Magiere konnte es ihm trotz ihres Ärgers nicht verdenken. An seiner Stelle hätte sie ebenso empfunden.

»Ich weiß es nicht«, sagte sie schließlich. »Ich kann ihm leider kein genaues Ziel nennen. Wir müssen nach Süden segeln, bis ich das Gefühl bekomme, dass wir den richtigen Ort erreicht haben.«

»Das genügt nicht«, entgegnete Sgäile.

»Wie wäre es mit einer Zeitangabe?«, schlug Leesil vor. »Bitte den Kapitän, uns sieben weitere Tage nach Süden zu bringen. Wenn Magiere bis dahin nicht den richtigen Ort gefunden hat, gehen wir von Bord und setzen den Weg zu Fuß fort. Wir erreichen unser Ziel, so oder so.«

Er berührte Magiere am Arm und fügte hinzu: »Als Erste.«

Für Magiere war vor allem wichtig, dass sie in Bewegung blieben, doch eigentlich hätte sie nicht diesen Drang zur Eile verspüren sollen. Ihr Halbbruder Welstiel konnte nicht wissen, wo sie sich befand und dass sie einen Hinweis darauf hatte, was er suchte. Manchmal beneidete sie Leesil um seine Fähigkeit, die einfachste Lösung für ein Problem zu finden.

»Ja, sag das dem Kapitän«, wandte sie sich an Sgäile. »Frag ihn, ob er damit einverstanden ist.«

Sgäile sprach erneut mit Hkomas, aber der Mann schüttelte den Kopf und gab eine scharfe Antwort. Wieder folgte ein Wortwechsel, und Magiere verstand einen Namen: Aoishenis-Ahâre.

Daraufhin zögerte der Hkomas, nickte knapp und stapfte fort.

Magiere schnitt eine Grimasse. »Du hast dich auf den Ältesten Vater berufen?«

»Ihr habt eure sieben Tage«, sagte Sgäile nur.

Das beunruhigte Magiere noch mehr. Der Einfluss des Ältesten Vaters konnte gefährlich sein.

Die Ruderboote kehrten noch vor Mittag von ihrer letzten Fahrt zum Ufer zurück. Das Schiff lichtete sofort den Anker und segelte weiter nach Süden.

Chane verließ eine Hölle und fand sich in der nächsten wieder.

Inzwischen befanden sie sich seit einigen Nächten an Bord des ylladonischen Schiffes, das mit vollen Segeln nach Süden lief. Es war nicht ganz so groß wie ein Schoner, und sein Rumpf bestand aus doppelt dicken Planken, die sich gegenseitig überlappten.

Seit der Nacht, in der Chane zusammen mit Welstiel und den neuen Untoten an Bord gekommen war, hatte er kaum mehr über ihre Situation herausfinden können. Jetzt stand er in ihrem »Quartier«, dem dunklen, feuchten und halb gefüllten Frachtraum.

Sabel hockte in der Nähe und neigte den Oberkörper vor und zurück, während sie eine Melodie summte, die Chane nicht kannte. Ihre Augen waren glasig, der Blick ging ins Leere. Die ehemaligen Mönche hungerten erneut.

Bisher hatte sich die Besatzung des Schiffes vom Frachtraum ferngehalten, aber Chane erinnerte sich daran, dass der Kapitän und der Steuermann Klâtäs in jener ersten Nacht einen ähnlichen Blick auf Sabel geworfen hatten wie der Kapitän auf Welstiels Kugel mit den drei Lichtern.

Chane rechnete jeden Augenblick mit einem Angriff der Besatzung. Beim Morgengrauen kämpfte er jedes Mal gegen den Schlaf und hielt sein Schwert bereit, um dann doch dem Dämmern zu erliegen.

An diesem Abend war Welstiel allein losgegangen und hatte es Chane überlassen, über die neuen Untoten zu wachen. Die beiden jüngeren Männer und der Grauhaarige lagen zusammengerollt auf dem Boden. Sabel und der grimmige Mann mit dem lockigen Haar hockten in einer Ecke und schienen sich ihrer Umgebung vage bewusst zu sein.

Wenn Welstiel sich von diesen Dienern Hilfe dabei erhoffte, den gesuchten Gegenstand zu erlangen, so mussten sie in dieser Nacht Nahrung bekommen – andernfalls ließ sich nichts mehr mit ihnen anfangen. Auch Chane war geschwächt. Wenn die Besatzung jetzt angriff, bestand die Gefahr, dass nicht alle neuen Untoten den Kampf überstanden.

Chane ging zur Tür und wandte sich an Sabel. »Wartet hier! Ich bin bald wieder da.«

Der Frachtraum befand sich im Heck des Schiffes, die Unterkünfte der Seeleute lagen im Bug. Chane verließ den Frachtraum und vergewisserte sich, dass niemand in der Nähe war, bevor er zur Treppe auf der Backbordseite ging. Oben öffnete er die Luke einen Spaltbreit und wartete.

Er roch Leben auf dem Deck. Wenn er jemanden sah, musste er sich jedes Mal beherrschen, um nicht durch die Luke zu springen. Er wartete darauf, dass sich der richtige Seemann näherte. Einem dünnen Mann in mittleren Jahren schenkte er ebenso wenig Beachtung wie einem anderen, der noch keine zwanzig war. Mehr als einen durfte er nicht nehmen, und er brauchte jemanden, der groß und gesund war.

Ein untersetzter Matrose in einem rotbraunen Hemd und mit offener Weste ging am mittleren Mast vorbei, und als er in Reichweite geriet, streckte Chane blitzschnell die Hand aus.

Seine Finger schlossen sich um die Kehle des Mannes, schnürten ihm die Luft ab und rissen ihn zur Treppe. Der Mann konnte nicht schreien, aber er zappelte und trat.

Chane schmetterte ihm die Faust an den Kopf, und sofort erschlaffte der Matrose. Er zog sein Opfer halb die Treppe herunter, fühlte den Puls am Hals und konnte sich nicht länger zurückhalten. Seine Zähne bohrten sich in die Kehle des Menschen, und gierig trank er warmes Blut.

Es brachte herrliche Erleichterung, doch nach einigen Schlucken ruckte Chanes Kopf nach oben, als hätte jemand daran gezogen. Er musste sich zurückhalten, so schwer es ihm auch fiel; die neuen Untoten brauchten das Blut noch dringender als er.

Der Mann rührte sich wieder und versuchte erneut, sich zur Wehr zu setzen. Er stöhnte leise.

Wenn ihn jemand hörte und kam, um nach dem Rechten zu sehen … In dem Fall hätte Chane in eine schwierige Lage geraten können.

Er zog den Seemann durch den Gang zum Frachtraum, hielt ihm dabei den Mund zu, damit er nicht schreien konnte. Als er den Frachtraum erreichte, ließ er ihn gerade lange genug los, um die Tür zu öffnen.

Die Veränderung im Frachtraum bemerkte er erst, als er mit dem Mann halb drinnen war. Die neuen Untoten standen oder hockten erwartungsvoll auf dem Boden. Sie alle starrten auf Chanes Opfer und schienen zu wissen, warum er es zu ihnen brachte.

Sabel begann zu zittern, und deutlich war zu sehen, wie ihre Eckzähne länger wurden. Der Mann mit dem lockigen Haar schnüffelte und schien das Blut zu riechen.

»Ihr müsst leise sein, wenn ihr überleben wollt«, warnte Chane.

Der Mann mit dem lockigen Haar kam herbei.

Chane gab dem Seemann einen Stoß, schloss die Tür und lehnte sich mit dem Rücken dagegen.

Der Matrose fiel zu Boden, und im gleichen Augenblick waren zwei der Untoten heran. Der Mann versuchte zu schreien, brachte aber nur ein gurgelndes Geräusch hervor. Er schlug nach einem der Untoten und wollte dann sein großes Messer ziehen, doch der ehemalige Mönch mit dem lockigen Haar knallte ihm seine Eisenkeule an den Kopf.

Der Matrose erschlaffte, und die Untoten fielen über ihn her, bohrten ihm die Zähne in den Leib und leckten vergossenes Blut wie Hunde auf. Sabel gesellte sich ihren Artgenossen als Letzte hinzu.

Sie biss in den Oberschenkel des Mannes und zerriss den Stoff der Hose, um ans Fleisch zu gelangen. Mit einem Quieken hob sie den Kopf, und der grauhaarige Mann schlug ihr mit der flachen Hand ins Gesicht, stieß sie zurück, nahm sich dann die von ihr geschaffene Wunde vor. Chane hätte fast eingegriffen, aber Sabel knurrte den älteren Untoten an und kratzte ihm mit den Fingernägeln durchs Gesicht.

Ihr Angriff führte zu einem wilden Durcheinander, und alle kämpften gegeneinander, während sie gleichzeitig den Seemann zerfetzten.

Chanes Besorgnis nahm immer mehr zu.

Vom Deck des Schiffes kam ein Geräusch, das nach zerreißendem Stoff klang.

Chane hörte die Rufe von Männern, gefolgt von eiligen Schritten. Was auch immer oben geschehen war, es schien keine unmittelbare Gefahr zu drohen, und er war für alles dankbar, das die Geräusche des gierigen Fressens im Frachtraum übertönte.

Er wandte sich ab, hielt das Ohr an die Tür, lauschte und hoffte, dass der Blutrausch nicht zu lange dauerte. Doch in seinem Innern zerrte das Tier an seiner Kette, heulte und wollte sich ebenfalls ins blutige Gewühl stürzen.

Der Matrose gab inzwischen keinen Ton mehr von sich – nur das Knurren, Zischen und Fauchen der Untoten war zu hören. Als diese Geräusche schließlich verklangen, keuchte Chane – das Tier in ihm hatte erneut auf eine leckere Mahlzeit verzichten müssen.

Er sah zurück und starrte auf das, was übrig geblieben war.

Ein Arm und ein Bein waren abgerissen. Nur noch die Wirbelsäule verband den Kopf mit dem Rest des Körpers. Ein jüngerer Mann nagte noch immer an der Hälfte einer abgebissenen Hand. Der Mann mit dem lockigen Haar leckte Blut vom Boden.

Was eben noch ein Mensch gewesen war, lag in Fetzen. Chane konnte kaum glauben, was sich seinen Blicken darbot.

Sabel hob ihr blutverschmiertes Gesicht vom Oberschenkel des abgerissenen Beins. Das Lächeln unter ihren farblosen Augen wuchs in die Breite und zeigte rote Zähne.

»Danke …«, sagte sie undeutlich. »Danke!«

Chane presste die Lippen zusammen, als sich erneut Gier in ihm regte. Ihm ging es nicht um Dank, sondern darum, dass die neuen Untoten überlebten, bis Welstiel sie brauchte.

Was Sabel einst gewesen war, existierte nicht mehr. Er musste sich damit abfinden und versuchen, nur an die Gegenwart zu denken.

»Macht hier sauber!«, forderte er Sabel und die anderen auf und deutete auf den zerfetzten Körper.

Chane ging um die Reste des Festmahls herum und suchte nach Leinen oder Drillich, um den Boden abzuwischen. Dabei entdeckte er eine Luke hoch oben in der Wand. Er stieg auf eine Kiste, zog den Eisenriegel beiseite und drückte die Luke auf. Meereswind blies ihm ins Gesicht und trug den Blutgeruch fort. Als er zurücksah, war nur Sabel aufgestanden und beobachtete ihn; die anderen nagten weiterhin an den Resten des Matrosen.

Mit kühler Distanziertheit machte er sich ans Werk, trennte den Kopf und die Gliedmaßen ganz ab und zerschnitt den Körper mit seinem Schwert in Stücke, die durch die Öffnung in der Wand passten. Sabel reichte sie ihm, nachdem er zur Luke zurückgekehrt war. Als er erneut die Hand nach ihr ausstreckte, um das nächste Stück entgegenzunehmen, senkte sie den Kopf, als hätte er wie Welstiel einen Befehl erteilt, den sie nicht befolgen konnte. Chane sah an ihr vorbei zu den anderen.

Die übrigen Untoten waren noch immer mit den erbeuteten Fleisch- und Knochenteilen beschäftigt und verhielten sich wie Bettler vor der Hintertür eines Adligen, wenn die Reste einer Mahlzeit hinausgeworfen wurden. Im Gesicht des älteren Mannes zeigten sich lange Kratzer, die von Sabels Fingernägeln stammten.

Chane stieg von der Kiste herunter und näherte sich den Untoten.

»Lasst das fallen!«, wies er sie an.

Der ältere Mann rümpfte nur die Nase.

Chane schwang das Schwert, und die flache Seite traf den Mann am Rücken. Er ließ seinen Bissen fallen, drehte sich um und starrte Chane an. Die anderen Untoten rührten sich plötzlich nicht mehr.

»Bleibt sitzen!«, zischte Chane. »Und lasst die Stücke fallen!«

So wenig sich Chane auch wünschte, dass Welstiel hereinkäme und das Durcheinander sähe seine Präsenz hätte alles einfacher gemacht. Der Mann mit dem lockigen Haar kam langsam näher. Chane schwang erneut das Schwert, die Spitze auf einer Höhe mit dessen Gesicht.

Nacheinander ließen die wilden Untoten ihre Bissen fallen. Chane behielt sie im Auge, als er die Stücke durch den Raum trug, zur Wand mit der Luke. Doch der Boden war voller Blut.

Selbst wenn er Wasser gehabt hätte, um den Boden abzuwaschen – das Holz hatte einen Teil des Blutes aufgesaugt. Schließlich konnte er die Untoten nur dazu bringen, die Planken mit einer Plane abzuwischen und dann Kisten auf die größten Flecken zu stellen.

Als alles getan war, wirkten die ehemaligen Mönche kräftiger und wachsamer.

Chane wünschte sich an einen anderen Ort, fort von diesen wilden Geschöpfen. Sabel sah den älteren Mann an, dessen Gesicht sie zerkratzt hatte, und richtete den Blick dann auf Chane.

»Es wird heilen«, sagte Chane. »Die Lebenskraft, die er aufgenommen hat, bringt es in Ordnung.«

Sabel neigte den Kopf zur Seite und runzelte die Stirn, und Chane wusste nicht, ob sie verstanden hatte. Einige Strähnen ihres welligen dunklen Haars klebten am trocknenden Blut auf ihren Wangen. Sie deutete auf den älteren Mann.

»Jakeb.«

Chane wartete erstaunt. Es schien, als erinnerte sie sich an den Namen des Mannes.

»Jakeb«, wiederholte Sabel, dann zeigte sie auf den Mann mit dem lockigen Haar. »Sethè.«

Sabel sah zu den beiden jüngeren Männern, drehte den Kopf wie eine Eule und schnaufte verdrossen.

Chane fand den Anblick tragisch.

Er wich in eine Ecke des Frachtraums zurück und ließ sich dort nieder.

Welstiel wanderte übers Deck und gab vor, frische Luft zu schnappen, während er sich in Wirklichkeit die Einzelheiten des Schiffes einprägte.

Selbst die Matrosen, die derzeit nicht im Dienst waren, befanden sich noch an Deck, spielten Karten und reichten einen Krug herum. Sie waren ganz offensichtlich nicht an Passagiere gewöhnt und starrten ihn immer wieder an. Klâtäs und der Kapitän beobachteten ihn vom Achterschiff aus.

Welstiel fühlte sich relativ sicher, obwohl er wusste, dass es an Bord dieses Schiffes auf Dauer keine Sicherheit gab. Wenn es so weit war, wenn diese Männer schließlich angriffen, würden sie eine letzte, fatale Überraschung erleben. Er zählte insgesamt nur vierzehn, aber sie schienen sich lange zu kennen und waren bei der Arbeit an Bord bestens aufeinander abgestimmt.

Welstiel schlenderte wie beiläufig zum Bug und warf dort einen kurzen Blick unter die Plane, die ein großes Objekt an der Reling bedeckte. Er erkannte eine Balliste, eine große Armbrust – damit konnte man Pfeile abfeuern, die schwerer waren als die Lanze eines Fußsoldaten. An verschiedenen Stellen auf dem Deck waren ihm bereits drei solche abgedeckten Objekte aufgefallen. Dieses Schiff war für den Kampf gerüstet.

Oben erklang eine Stimme, und Welstiel sah hoch. Der Matrose im Mastkorb rief ihm etwas zu. Ihm blieb kaum Zeit genug, den Blick zu senken, als auch schon Klâtäs auf ihn zueilte.

»Was du machst?«, fragte er. »Du gesagt hast, ihr bleibt unten!«

»Die anderen sind unten«, erwiderte Welstiel. »Ich konnte den Gestank nicht länger ertragen und brauchte frische Luft.«

»Deck nicht für Passagier in der Nacht. Geh unten!«

Welstiel glaubte, einen gedämpften Schrei unter Deck zu hören. Dann weckte ein anderes Geräusch seine Aufmerksamkeit – oben riss ein Segel.

Die äußere Hälfte flatterte im Wind und zerrte an der Takelage. Der Kapitän rief etwas, und Klâtäs lief zum Bug und erteilte den Männern Anweisungen, die dort nach oben kletterten.

Welstiel wich schnell zur Achterluke zurück. Der Geruch im Frachtraum und gewisse Abnutzungserscheinungen deuteten darauf hin, dass das Schiff schon seit einer ganzen Weile unterwegs war. Was Welstiel angesichts eines größtenteils leeren Frachtraums erstaunlich fand.

Vielleicht hatten der Kapitän und seine Leute bei ihren Überfällen nur wenig Beute gemacht oder seit zu langer Zeit keinen sicheren Hafen angelaufen. Welstiel ging die Treppe hinunter, zögerte jedoch auf halbem Wege.

Er roch frisches Blut – bis ein Windstoß, der den Weg über die Treppe fand, den Geruch forttrug. Er war sehr deutlich gewesen und konnte nicht von der leichten Verletzung eines Seemanns stammen.

Ärger brodelte plötzlich in Welstiel. Was hatte der Narr Chane angestellt? Er brachte die Treppe ganz hinter sich, blieb erneut stehen und sah zum Bug.

Die Besatzungsmitglieder waren mit dem gerissenen Segel beschäftigt – eine so gute Gelegenheit bot sich ihm vielleicht nie wieder. Es galt herauszufinden, welche Ressourcen zur Verfügung standen für den Fall, dass er das Schiff übernehmen musste. Es wäre sehr nützlich gewesen, etwas zu entdecken, das ihm bei der Navigation in diesen südlichen Gewässern helfen konnte, zum Beispiel Karten des Kapitäns.

Welstiel kehrte an Deck zurück. Das peitschende Segel hätte einen Seemann fast aus der Takelage gerissen, und die anderen Männer verdoppelten ihre Anstrengungen. An der Reling entlang schlich Welstiel zur nächsten vorderen Luke.

Zweimal musste er sich ducken, um nicht von einem vorbeilaufenden Matrosen gesehen zu werden. Die anderen waren viel zu sehr damit beschäftigt, das Schiff wieder unter Kontrolle zu bekommen.

Welstiel setzte den Weg fort, erreichte die Luke, öffnete sie und huschte die kurze Treppe hinab. Kurz darauf erreichte er die Kajüte des Kapitäns. Sie war klein, enthielt nur eine Koje, einen Tisch, zwei Truhen und ein Bullauge.

Die Kugel mit den drei Lichtern lag auf dem Tisch, neben Papieren, in denen Welstiel mit der Suche nach einer Karte begann. Er fand keine, was ihn kaum überraschte, denn ein ylladonischer Kapitän hielt seine bevorzugten Jagdgründe geheim. Es war nicht ungewöhnlich, dass sich ein Besatzungsmitglied mit entsprechenden Informationen einen Platz an Bord eines anderen Schiffes erkaufte.

Welstiel öffnete die Schublade unter dem Tisch und entdeckte darin ein in Leder gebundenes Tagebuch, Pergamentreste und mehrere abgenutzte Federkiele.

Wo hatte der Kapitän seine Karten versteckt?

Welstiel zögerte und schärfte sein Gehör. Oben an Deck herrschte noch immer Aufregung – ihm blieb also Zeit genug für die Suche nach Geheimfächern oder dergleichen, von denen nur Kapitän und Steuermann wussten. An den Wänden fehlten Schränke oder Regale. Welstiel nahm die Kugel und sah unter die Koje. Nichts. Er öffnete die erste der beiden Truhen und kramte darin, ohne irgendetwas zu finden. Die zweite Truhe war verschlossen, und sie aufzubrechen, hätte bedeutet, einen Hinweis darauf zu hinterlassen, dass er in dieser Kajüte gewesen war. Enttäuscht legte er die Kugel wieder auf den Tisch, ging zur Tür und wollte den kleinen Raum verlassen, als ihm ein Schatten an der Wand hinter dem Tisch auffiel.

Der Schatten stammte offenbar von einer leichten Unregelmäßigkeit im Holz. Welstiel ging um den Tisch herum und achtete darauf, nicht ins Licht der Kugel zu treten. Aus der Nähe gesehen war der Schatten deutlicher zu erkennen – eine der alten Planken schien sich dort nach innen zu wölben.

Ein solcher Makel im Rumpf hätte eigentlich längst behoben sein sollen. Als Welstiel mit der Hand darüberstrich, fand er keine Spalten, bis auf die an den Enden der Planke. Seine Fingerkuppen wanderten weiter, bis ganz nach unten, und dort fand er ein kleines Holzquadrat, bündig an der Wand. Es gab nach, als er Druck darauf ausübte. Welstiel richtete sich auf und setzte den Fuß auf die betreffende Stelle.

Das quadratische Holzstück bewegte sich.

Ein Teil der leicht gewölbten Wand neigte sich nach innen. Welstiel legte die Hand darauf und drückte.

Die Holztafel kippte noch weiter nach innen, aber nicht ganz. Welstiel untersuchte ihre untere Kante. Das entsprechende Holzteil ruhte in einer Art Gabel hinter der Wand – er sah Eisenstreifen, die von der Bodenplatte in die Wand hineinreichten. Erneut drückte er auf die Holztafel, schob sie hinter und unter die anderen Wandbretter, ergriff dann die Kugel mit den drei Lichtern und leuchtete in die Öffnung.

Rechts fiel das Licht der Kugel auf die Eisenstäbe eines Gitters. Der Bereich dahinter lag größtenteils im Schatten, doch als Welstiel die Kugel ein wenig bewegte, spiegelte sich ihr Schein in bernsteinfarbenen Augen wider, die so groß waren, dass sie keinem Menschen gehören konnten.

Zwei Elfenfrauen steckten in der verborgenen Zelle, die eine erwachsen und die andere kaum mehr als eine Jugendliche. Stumm starrten sie ihn an. Trotz des zerzausten Haars und der zerrissenen Kleidung waren sie schön: die braune Haut glatt, die Körper geschmeidig. Beide trugen Fesseln und Knebel.

Jetzt wusste Welstiel, warum die Ylladoner so weit im Norden gewesen waren. Vielleicht hatte der Kapitän verzweifelt versucht, seine Verluste wettzumachen. Auf dem ylladonischen Sklavenmarkt würden diese beiden Frauen einen hohen Preis erzielen – so exotische »Gegenstände« würden viele Bieter auf den Plan rufen.

Welstiel erinnerte sich daran, dass einer der Männer vergiftetes Wasser erwähnt hatte. Steckten die beiden Elfenfrauen dahinter? Hatten sie sich eine Chance erhofft, das Schiff zu verlassen und zu fliehen.

Und jetzt wussten sie, dass er hier herumgeschnüffelt hatte.

Vielleicht glaubten sie, dass sie diese Information bei Verhandlungen mit dem Kapitän zu ihrem Vorteil nutzen konnten. Möglicherweise würden sie versuchen, sich damit ihre Freiheit zu erkaufen.

Welstiel biss die Zähne zusammen. Es hatte keinen Sinn, die beiden Frauen zu töten, denn ihre Leichen wären sicher schon nach kurzer Zeit entdeckt worden.

Die Elfinnen starrten ihn auch weiterhin an und betrachteten seine Kleidung, die sich von der der Ylladoner unterschied. Konnte er das ausnutzen? Aber er sprach kein Elfisch.

»Versteht ihr mich?«, flüsterte er auf Belaskisch.

Die Frauen antworteten nicht, und Welstiel stellte die gleiche Frage auf Dröwinkanisch.

Die erwachsene Frau sah auf.

Welstiel konzentrierte seine Willenskraft und berief sich auf ein Geschick, das in seinen Jahren als Edler Toter gewachsen war. Er sah der erwachsenen Frau in die Augen, hob seine Stimme ein wenig und sorgte dafür, dass ihr Klang die Worte verstärkte und direkt ins Bewusstsein der Elfin brachte.

»Noch nicht … Wenn wir der Küste näher sind … dann hole ich euch.«

Die Frau blinzelte zweimal.

Hatte sie begriffen, worum es ging? Verstand sie genug Dröwinkanisch, um den Sinn der Worte zu erfassen? Welstiel wiederholte sie und sprach ganz langsam.

Die jüngere Frau reckte den Hals und richtete einen furchterfüllten Blick auf ihre Begleiterin. Die ältere runzelte die Stirn, blinzelte erneut und sah Welstiel misstrauisch an.

Er unterschied sich von den Ylladonern, war aber ein Mensch, und als solcher verdiente er kein Vertrauen. Dennoch nickte die Elfin schließlich.

Welstiel erwiderte ihr Nicken, fügte ein sanftes Lächeln hinzu und hob den Zeigefinger vor die Lippen. Dann zog er den Kopf zurück und versuchte, die Öffnung in der Wand wieder zu schließen, was ihm erst gelang, als er noch einmal auf die quadratische Stelle trat – daraufhin glitt die zur Seite geschobene Holztafel an ihren ursprünglichen Platz zurück. Anschließend legte er die Kugel auf den Tisch und verließ die Kajüte des Kapitäns.

Ihm war klar, dass noch immer Gefahr drohte, aber er hoffte, dass die ältere Frau das Schweigen der jüngeren gewährleistete. Er erinnerte sich an Geschichten über Menschenschiffe, die versucht hatten, das nördliche Kap zu umsegeln und die Gewässer der Elfen zu erreichen, aber von jenen Schiffen war nie eins zurückgekehrt. Die Elfen schützten sich gut und kannten dabei kein Erbarmen. Welstiel fragte sich plötzlich, ob die Elfen an Bord des Schiffes, mit dem Magiere reiste, von der Entführung wussten.

Einmal mehr schlich er an der Reling entlang, kehrte nach achtern zurück und eilte dort die Treppe hinunter. Dabei stieg ihm erneut der Geruch von Blut in die Nase.

Was hatte Chane angestellt?