16

Wynn beugte sich vor, stolperte im Wind und war selbst für einen Ruf um Hilfe zu schwach. Sie hoffte noch immer, Leesil oder Chap zu finden oder vielleicht auf Sgäile und Osha zu stoßen. Doch als die Zeit verging, schwand diese Hoffnung zusammen mit ihrer Körperwärme. Seltsame Gedanken gingen ihr durch den Kopf.

Wie lange dauerte es noch bis zur Morgendämmerung? Konnte sie bis dahin in Bewegung bleiben? Würde der Schneesturm aufhören und die Sonne scheinen? Was hätte Sgäile gesagt, wenn er hier gewesen wäre?

Er hätte ihr einen weiteren Vortrag über ihre Dummheit gehalten. Zweifellos gefolgt von der Androhung strengerer Maßnahmen, um seinem Schutzversprechen gerecht werden zu können.

Wynn hätte solche Worte jetzt gern von ihm gehört.

Sie hatte längst die Orientierung verloren, als aus dem Weiß des Schneesturms im Licht des Kaltlampen-Kristalls plötzlich Dunkelheit wurde, als wäre plötzlich ein großer, weit aufragender Schatten vor ihr erschienen.

Wynn zuckte nicht einmal zusammen.

Sie hob den Kopf, blinzelte mehrmals und stellte fest, dass eine Felswand vor ihr aufragte – sie war in eine weitere Sackgasse geraten. Sie wollte sich gerade umdrehen und in die Richtung zurückkehren, aus der sie gekommen war, als sie eine besonders dunkle Stelle an der Wand bemerkte.

Sie zwang ihre Beine, sich erneut in Bewegung zu setzen. Als sie sich der dunklen Stelle näherte, wurde eine Öffnung daraus, die in eine steile Rinne führte, einen Einschnitt im Bergrücken. Es lag nur wenig Schnee auf dem steinigen Boden, denn der Wind wehte über die Rinne hinweg.

Vielleicht, dachte Wynn, war Chap gar nicht zurückgekehrt. Hatten Leesil und er diese Passage gefunden? Und wenn nicht … Hier war sie wenigstens vor dem Wind geschützt.

Wynn trat in die Rinne und atmete erleichtert auf, als sie nicht mehr dem Wind ausgesetzt war. Steine lockerten sich unter ihren Stiefeln, und sie stützte sich an der Rinnenwand ab, um nicht zu fallen.

Am liebsten wäre sie zu Boden gesunken, um auszuruhen und vielleicht ein wenig zu schlafen. Doch das wäre ihr Tod gewesen, wusste sie.

»Wenn du hier schläfst, erfrierst du«, flüsterte es in ihrem Hinterkopf.

Oh ja, das war ein gutes Zeichen – jetzt redete sie mit sich selbst.

Wynn machte einen weiteren Schritt nach vorn und tastete sich an der linken Rinnenwand entlang. Sie musste in Bewegung bleiben, doch dieser Gedanke brachte Verzweiflung, denn sie brauchte dringend Ruhe, um neue Kraft zu schöpfen.

Wieder kam ein Stein ins Rollen, und diesmal knickte ihr Fuß um.

Die Kälte dämpfte den Schmerz, und sie verzog nicht einmal das Gesicht. Doch als sie fiel und sich mit der Hand auf dem Boden abfing, bohrte sich ihr die Spitze eines scharfkantigen Steins durch den Handschuh. Wynn hob den Kopf und blickte mit Tränen in den Augen die Rinne entlang. Die obere Öffnung befand sich direkt voraus, und sie begann zu kriechen. Doch als sie das Ende der Rinne erreicht hatte, erstreckte sich vor ihr eine weitere Landschaft aus Eis und Schnee.

Weit und breit war niemand zu sehen.

Wynn rollte sich zur Seite und zog die Beine an. Es war besser, die Augen zu schließen und diese Welt nicht mehr sehen zu müssen.

Übelkeit breitete sich in ihrer Magengrube aus. Die beiden Happen getrockneten Fischs, die sie zum Abendessen gehabt hatte, wollten nach oben zurückkehren.

Wynn wand sich – selbst ihr eigener Körper ließ ihr keine Ruhe!

Die Übelkeit breitete sich aus und wurde zu einem Summen und Knistern in ihrem Kopf.

Wynn?

Chap mühte sich durch den Schnee, ohne Spuren oder einen Geruch, dem er folgen konnte.

Zuerst kehrte er den Weg zurück, den Leesil und er genommen hatten. Vielleicht war Wynn in der Nähe, wenn sie versucht hatte, ihnen zu folgen. Doch diese Möglichkeit erschien Chap immer unwahrscheinlicher, als er die vielen Rinnen und Einschnitte bemerkte, die alle nach oben führten.

Unter Chaps Reisegefährten nahm Wynn eine Sonderstellung ein. Nur sie hörte seine Worte und fühlte die Feen-Natur in ihm. Aber sie brachte ihm nicht die blinde Verehrung Sgäiles entgegen oder Oshas verwirrte Ehrfurcht, die allen Majay-hì galt. Wynn behandelte ihn nicht wie ein übersinnliches Wesen.

Und das wusste Chap sehr zu schätzen.

Er blieb unter einem Felsvorsprung stehen und schloss die Augen. Selbst als er teilweise vom Wind abgeschirmt war, dauerte sein Zittern an. Leesil und er waren nach links geklettert, in eine Rinne mit hohen Felswänden. Dort hatten sie Magiere gefunden, aber Chap konnte sich nicht daran erinnern, andere Spuren gesehen zu haben. Der Schneesturm hatte sie alle verweht.

Wenn sich Wynn in der Nähe befand, fiel es Chap nicht weiter schwer, ihr seine Gedanken zu schicken. Aber konnte er sie geistig rufen, ohne zu wissen, wo sie sich befand? War er imstande, sie über eine größere Entfernung hinweg zu erreichen, ohne dabei die Aufmerksamkeit der Feen zu wecken?

Seine Artgenossen entstammten allen Elementen, nicht nur dem des Geistes, das bei lebenden Geschöpfen eine besonders starke Präsenz hatte. Es gab Feenwesen des Wassers und der Erde, der Luft und des Feuers, und sie konnten jeden beliebigen Ort auf der Welt erreichen.

Wenn sie fühlten, dass er Wynn rief, ohne dass er wusste, wo sie sich aufhielt … Vielleicht fanden sie die junge Weise vor ihm.

Sie hatten schon einmal versucht, Wynn zu töten, im Elfenwald.

Ein solches Risiko durfte Chap nicht eingehen. Er wandte sich vom Felsvorsprung ab und setzte den Weg nach oben fort, bis er zu einem Sattel zwischen zwei Felsspitzen kam. Diese Stelle sah ganz nach der Rinne mit den beiden hohen Felswänden aus, und Zweifel legte sich schwer auf ihn.

Wynn war der Erschöpfung nahe gewesen, als sie ihr Lager aufgeschlagen hatten. Wie hätte sie bis hierher kommen können?

Er machte kehrt, sprang über den Felssattel und stapfte zu einem weiteren Einschnitt im Berg. Nach nur drei Schritten hielt er inne.

Selbst wenn Wynn seinen Ruf hörte – sie konnte ihm nicht auf die gleiche Weise antworten. Aber er musste etwas unternehmen. Er konnte nicht weiter durch die Nacht und das Schneegestöber laufen, ohne einen Hinweis darauf, wo sich die junge Weise befand.

Chap blieb erneut stehen und grub mit den tauben Pfoten, bis er auf den gefrorenen Boden darunter stieß. Er verband seine Gedanken mit dem Element Erde; der Schnee bildete das Symbol für Wasser, der kalte Wind das für Luft und die schwindende Wärme des eigenen Körpers die Verbindung zum Feuer. Mit dem Geist in seinem eigenen lebenden Fleisch öffnete er sich den Elementen der Existenz und erweiterte sein Bewusstsein.

Er konzentrierte sich auf seine Erinnerungen an die junge Weise, als er rief:

Wynn?

Keine Antwort.

Wynn, melde dich!

Chap hörte nur den Wind, der über den Hang des Berges heulte.

Bitte, wenn du mich hörst … Fühl mich. Selbst wenn dir davon übel wird.

Still stand er da und lauschte. Bis ihn jähe Panik erfasste und er blindlings den Hang hinauflief.

Wynn – antworte mir!

»Chap? Hier … Ich bin hier!«

Er verharrte und stellte die Ohren auf, als er die schwache Stimme hörte, fast vom Sturm verschluckt.

Ruf noch einmal! Ruf immer wieder, bis du mich siehst!

»Hier … in der Rinne.«

Chap wirbelte herum und sprang über den Hang.

Wynns Stimme erreichte ihn nur, weil der Wind sie zu ihm trug, und deshalb wandte er sich den über die Felsen fauchenden Böen zu. Wirbelnde Schneeflocken gerieten ihm in Augen und Ohren, aber er stapfte weiter, bis zu einer Rinne, die an einer Felswand endete.

»Chap … in der Rinne … such nach einem Einschnitt!«

Er setzte den Weg an der einen Wand entlang fort, wo der Schnee nicht so hoch lag. Es war so dunkel, dass er den Riss erst bemerkte, als er sich direkt davor befand. Eine Rinne öffnete sich dort, vor dem Wind geschützt. Chap kletterte über loses Geröll, und sein Herz schlug schneller, als er einen vertrauten Geruch wahrnahm.

Ich bin gleich bei dir!

Und dann sah er Wynn, zusammengerollt am Ende der Rinne.

Schneeflocken bildeten eine weiße Schicht auf dem Rücken des Mantels. Chap eilte zu der jungen Weisen, und sie streckte ihm die Hand entgegen.

Du musst versuchen, dich zu bewegen. Leg die Hände unter meine Decke und ins Fell.

Chap schob den Kopf unter Wynns Mantel und drückte sich an sie, um ihr seine Körperwärme zu geben. Wynn sackte auf seine Schultern und vergrub das Gesicht an seinem Hals – die Erschöpfung schien sie schwerer zu machen.

Er musste sie wach halten, und deshalb plapperte er geistig drauflos.

Wir haben Magiere gefunden. Sie ist sicher. Die anderen sind bei ihr im Lager. Du musst bis morgen früh überleben, dann siehst du sie wieder. Alles wird gut … Wynn?

Sie bewegte sich nicht.

Leg die Hände in mein Fell, jetzt sofort!

Mit den Zähnen zog Chap die Schnüre von Wynns Mantel auf und steckte den Kopf durch die Öffnung. Die ganze Zeit über schickte er ihr seine Gedanken und versuchte, sie wach zu halten.

Wynns Finger strichen durch sein Fell.

»Du … stinkst«, brachte sie zwischen klappernden Zähnen hervor. »Du brauchst … ein Bad.«

Chap atmete tief durch. Du duftest auch nicht gerade wie eine Frühlingsblume.

Der kurze Moment der Erleichterung verstrich. Chap hob den Kopf und sah sich wachsam um, nach Stein für Erde, Schnee für Wasser und Wind für Luft. Wynn und er würden immer von den Elementen umgeben sein.

Chap hoffte, dass nur die junge Weise ihn gehört hatte.

Hkuan’duv hatte Dänvârfij als Wache im Lager zurückgelassen und hockte nun zusammen mit A’harhk’nis und Kurhkâge hinter eisverkrusteten Felsen. Noch immer heulte der kalte Wind, und das Schneegestöber dauerte an. Über den Hang hinweg beobachtete Hkuan’duv, wie Sgäilsheilleache und Osha zu ihrer kleinen Höhle zurückkehrten und darin verschwanden.

»Was hast du zuvor beobachtet?«, fragte Hkuan’duv.

A’harhk’nis wandte den Blick nicht von der Höhle ab. »Die Menschenfrau namens Magiere brach allein auf und kletterte den Hang empor. Kurze Zeit später folgten die anderen, zögerten aber und teilten sich in zwei Gruppen. Ich vermute, sie wussten nicht, wohin die Frau unterwegs war. Das Halbblut und der Majay-hì brachten sie später zurück, und ich habe dir Bericht erstattet.«

»Wo ist die kleine Frau?«, fragte Kurhkâge.

A’harhk’nis schüttelte den Kopf. »Sie war noch nicht zurückgekehrt, als ich diesen Ort verließ.«

Lautes Bellen kam aus der kleinen Höhle. Der silbergraue Majay-hì sprang heraus und eilte am Hang empor. Hkuan’duv runzelte die Stirn und richtete sich ein wenig auf, um das Geschehen besser zu beobachten.

»Was ist passiert? Was veranlasst sie dazu, während eines nächtlichen Sturms unterwegs zu sein?«

Die beiden anderen Anmaglâhk wussten keine Antwort.

Hkuan’duv wartete, aber sonst verließ niemand die Höhle.

»Sollen wir dem Majay-hì folgen?«, fragte Kurhkâge.

Hkuan’duv überlegte. Der Hund war bereits im Schneegestöber verschwunden.

»Bleibt aus dem Wind«, wies er seine Begleiter an. »Der Majay-hì soll uns nicht wittern.«

Lautlos kletterten sie über Felsen und Schnee, und A’harhk’nis übernahm die Führung.

Zum Glück kam der Majay-hì in den Schneewehen nicht mit voller Geschwindigkeit voran. A’harhk’nis bedeutete ihnen gelegentlich, langsamer zu werden oder die Richtung zu ändern. Sie blieben ein ganzes Stück hinter dem Majay-hì, kamen ihm gerade nahe genug, damit sie im Schneesturm seine schattenhafte Gestalt sahen.

Der Schnee fiel so dicht, dass A’harhk’nis mehrmals stehen blieb, um sich zu orientieren. Als sie einen Felssattel passierten, hörte Hkuan’duv einen Ruf.

»Chap? Hier … Ich bin hier!«

Die Anmaglâhk versteckten sich rasch, als der Majay-hì kehrtmachte. Alle drei sanken vor einem Felsvorsprung in den tiefen Schnee und breiteten ihre weißen Mäntel aus – auf diese Weise sahen sie aus wie kleine Felsbrocken.

Der Majay-hì lief an ihnen vorbei in eine Rinne mit hohen Felswänden.

Die drei Elfen erhoben sich wieder und schlichen weiter, diesmal mit Hkuan’duv an der Spitze.

War der erschöpfte Ruf von der kleinen Menschenfrau gekommen? Warum hatte sich der Majay-hì allein auf die Suche nach ihr gemacht?

Hkuan’duv begriff, dass sie höher waren, als er zunächst gedacht hatte, vielleicht nicht mehr weit von den höchsten Gipfeln entfernt. Konnte die kleine Menschenfrau Magieres Ziel gefunden haben? Und wenn das tatsächlich der Fall war – warum hatte sie sich dann allein auf den Weg gemacht?

Zu viele Fragen ohne Antworten. Und dann beobachtete er, wie sich der Majay-hì am Ende der Rinne zur Seite wandte und hinter der Felswand verschwand.

Hkuan’duv legte sich auf den Bauch und kroch nach vorn. Er zog sich die weiße Kapuze tief ins Gesicht und spähte durch den Einschnitt.

Eine weitere Rinne führte durch das Felsgestein, und an ihrem Ende kauerte jemand auf der linken Seite. Hkuan’duv erkannte die kleine Menschenfrau; ihr Mantel wölbte sich, und darunter bewegte sich etwas. Sie murmelte einige Worte, so leise, dass Hkuan’duv nichts verstand, und dann kam der Kopf des Majay-hì unter dem Mantel hervor.

Hkuan’duv schob sich vorsichtig durch den Schnee zurück an die Felswand. Ein Majay-hì riskierte sein Leben für einen Menschen. Nie zuvor hatte ein Angehöriger des Volkes der Hüter einem Schwachblut gegenüber solche Opferbereitschaft gezeigt.

Sgäilsheilleache befand sich in sehr seltsamer Gesellschaft, und Hkuan’duv fragte sich, ob sein Kastenbruder noch ganz bei Sinnen war. Am besten wäre es gewesen, diese kleine Frau zu nehmen und ihr Fragen zu stellen. Sie hatte sich verirrt, und ihre Reisegefährten würden nie erfahren, was mit ihr geschehen war. Bei dem Majay-hì sah die Sache ein wenig anders aus.

Niemand mischte sich in die Angelegenheiten eines solchen Wesens ein.

Hkuan’duv forderte Kurhkâge mit einem Wink auf, ihm zu folgen, und ließ A’harhk’nis als Wächter bei der Rinne zurück. Er stand auf und trat durch die steinerne Passage, hatte jedoch erst drei lautlose Schritte gemacht, als der Majay-hì plötzlich den Kopf hob.

Seine hellblauen Augen glitzerten in der Dunkelheit, und ein dumpfes Grollen wehte durch die Rinne.

Hkuan’duv erstarrte, doch der Majay-hì hob den Kopf, und er folgte seinem Blick.

Ein Flackern dunkler als die Nacht fiel zwischen die hohen Felswände der Rinne.

Das leise Pfeifen des Windes hörte ganz plötzlich auf. Chap hob den Kopf.

Über ihm erklang das Krächzen eines Vogels wie ein Schrei.

Überrascht schaute Chap zum Himmel. In diesen Höhen konnte kein Vogel überleben.

Ein schwarzer Schatten fiel aus der Nacht, dunkler als der Himmel, und flog hoch oben durch die Rinne.

Chap fühlte, wie sich eine sonderbare Hitze in ihm ausbreitete, begleitet vom Drang zu jagen. Sein Herz klopfte schneller, als er die Nähe eines Untoten fühlte. Doch als sein Blick dem Schatten folgte, nahm er die Gestalt eines großen Vogels an, vielleicht eines Raben.

Steh auf, Wynn!

Sie bewegte sich, hob den Kopf und sah sich um.

Ein zweites Flackern huschte an den hohen Wänden der Rinne vorbei und folgte dem Vogel.

Es war nicht schwarz, sondern weiß wie der Schnee, und es sprang zwischen den Felswänden der Rinne hin und her.

Chaps Jagdfieber wich jäher Kälte. Er löste sich von Wynn, hob den Kopf noch höher und versuchte, den huschenden weißen Schemen im Auge zu behalten. Dann bemerkte er plötzlich hochgewachsene Gestalten am Eingang der Rinne.

Weißes Tuch bedeckte ihre Mäntel, doch die Zipfel waren an der Taille zusammengebunden, über dem Graugrün der Anmaglâhk.

Hkuan’duv glaubte, die dunkle Silhouette eines Raben zu sehen. Seine Flügel waren so lang, dass eine Spitze die hohe Felswand berührte. Als er tiefer ging, sah Hkuan’duv die Wand dahinter.

Nein, er sah durch den Vogel wie durch einen Schatten, und dieser Schatten kam direkt auf ihn zu.

Hkuan’duv duckte sich im letzten Moment und drehte sich um, kam aber nicht mehr dazu, eine Warnung zu rufen.

Der dunkle Schemen in Gestalt eines Vogels flog durch Kurhkâges Brust.

Kurhkâge riss die Augen auf, als das schwarze Etwas aus seinem Rücken kam, hochstieg und in der Nacht verschwand. Er öffnete den Mund, gab aber nicht einen Ton von sich und kippte zur Seite.

Hkuan’duv packte ihn vorn am Mantel und zerrte ihn aus der Rinne.

Was hatte es mit diesem Schatten eines Raben auf sich?

Kurhkâges Mantel wurde Hkuan’duv plötzlich aus der Hand gerissen, und gleichzeitig geriet das Geröll unter ihm in Bewegung. Nur mit Mühe gelang es ihm, das Gleichgewicht zu wahren, und er sah zurück, um festzustellen, was Kurhkâge festgehalten hatte. Er vermutete einen Felsvorsprung oder dergleichen, aber stattdessen sah er ins Gesicht einer Frau, fast so weiß wie der Schnee.

Es handelte sich nicht um die Frau, die er verfolgt hatte, die Menschenfrau namens Magiere. Wachsamkeit schärfte alle seine Sinne.

Farblose Augen starrten ihn an, geformt wie Tränen, und sie zogen sich zu misstrauischen Schlitzen zusammen. Das ovale Gesicht wurde zum Kinn hin schmaler, vielleicht ein Hinweis auf elfische Vorfahren. Doch die Augen waren zu klein für einen Elfen, und auch die dunklen Brauen darüber passten nicht zu Hkuan’duvs Volk – solche Brauen hatte nicht einmal ein Halbling. Nein, es handelte sich um eine Menschenfrau, aber sie schien aus einem Volk zu stammen, von dem Hkuan’duv noch nie gehört hatte.

Zerzaustes obsidianschwarzes Haar umgab den Kopf und reichte fast bis zum Boden der Rinne, denn sie hockte seitlich an der Felswand und hielt sich mit nur einer Hand daran fest, als könnten sich ihre Fingernägel ins Gestein bohren. Ihr schlanker Körper war vollkommen nackt, doch die Kälte schien ihr überhaupt nichts auszumachen. Die andere schmale Hand lag auf Kurhkâges Gesicht und drückte seinen Kopf an die Rinnenwand.

Hkuan’duv griff nach dem Stilett an seinem Unterarm, aber die Hand erreichte es nicht.

Die Frau verzog das Gesicht, knurrte, sprang von der Wand und versetzte ihm einen Schlag, der ihn an der Brust traf und von den Beinen riss.

Hkuan’duv flog nach hinten; schneebedeckter Boden und dunkler Himmel wirbelten vor seinen Augen vorbei. Dann fiel er auf eine Stelle, wo nur wenig Schnee lag, und der Aufprall schmerzte in Schulter und Arm. Ein ganzes Stück vor dem Eingang der Rinne blieb er liegen.

Mühsam rollte sich Hkuan’duv herum und rang nach Atem.

Die Frau trat aus der Rinne, und ihre kleinen Füße sanken in den Schnee.

Der Wind erfasste ihr langes schwarzes Haar und wirbelte es durcheinander. Am Hals der Frau bemerkte Hkuan’duv einen metallischen Glanz von einem dicken goldenen Objekt. Und dann fiel sein Blick auf etwas anderes.

Der linke Unterarm und die Hand der Frau waren dunkelrot. Ihre Finger hielten etwas Blutiges, das eine dunkle Spur im Schnee hinterließ.

A’harhk’nis näherte sich ihr, in den Händen zwei große Klingen.

Für einen An’Cróan war er nicht besonders groß, doch die wie eine Frau aussehende Erscheinung reichte ihm nur bis zum Schlüsselbein. Sie duckte sich so tief und so plötzlich, dass A’harhk’nis bei seinem ersten Angriff zögerte.

Hkuan’duv wollte helfen und versuchte, sich hochzustemmen. Sein linker Arm gab nach, und er sank in den Schnee zurück.

Direkt vor A’harhk’nis kam die weiße Frau nach oben.

A’harhk’nis riss seine Klingen herum. Er war sehr schnell, aber die Frau war noch schneller – ihre Hand schoss nach vorn und packte ihn an der Kehle. Der Anmaglâhk verlor das Gleichgewicht und kippte nach hinten, und die Frau ließ nicht los, fiel auf ihn.

Hkuan’duv sah, wie sich der kleine Mund öffnete, wie lange, spitze Zähne darin sichtbar wurden. Er versuchte erneut, auf die Beine zu kommen, als die Frau in A’harhk’nis’ Kehle biss.

Schneeflocken tanzten und nahmen Hkuan’duv für einen Moment die Sicht. Er hatte erst einen Schritt nach vorn gemacht, als eine Windbö freie Sicht schuf und er sehen musste, wie die Frau seinem Kastenbruder die Kehle zerfetzte.

Blut spritzte aus ihrem Mund, als sie den Kopf zurückwarf.

Etwas knackte und knirschte, und die Frau hob einen dünnen Arm und warf etwas. Hkuan’duv erstarrte innerlich, als er das Objekt sah, das die gegenüberliegende Felswand traf.

Mit einem dumpfen Pochen prallte es ab. Eine zerrissene Kapuze löste sich davon, und zum Vorschein kam blondes Haar. Hkuan’duv beobachtete, wie A’harhk’nis’ Kopf zu Boden fiel.

Blut quoll aus dem Halsstumpf und gefror im Schnee.

Die weiße Frau saß noch immer rittlings auf A’harhk’nis’ Leiche. Blut tropfte aus dem Mund auf ihre kleinen Brüste. Sie achtete nicht auf Hkuan’duv und starrte auf die blutige Masse in ihrer Hand. Dampf stieg davon auf.

Irgendwo in der dunklen Rinne lag Kurhkâges Leichnam. Hkuan’duv musste beobachten, wie die kleine Frau aufstand und Kurhkâges Herz beiseitewarf.

Wer oder was war dieses Geschöpf, das keine Kälte fühlte und so mühelos zwei Anmaglâhk getötet hatte? Er spannte die Muskeln, als die Frau ihn mit eisigen Augen ansah. Plötzlich hörte er ein Knurren, aber es kam nicht von ihr.

Die Frau wirbelte herum.

Der Majay-hì sprang aus der Öffnung der Rinne.

Dann sah Hkuan’duv eine andere Bewegung hinter ihr, und ein Schemen jagte durchs Schneegestöber.

Er warf sich zu Boden und stieß dabei mit der vom ersten Aufprall verletzten Schulter gegen eine Felsspitze. Der Schattenrabe sauste dicht über ihn hinweg, und wieder knurrte der Majay-hì.

Hkuan’duv wollte den Hund nicht im Stich lassen, aber zwei Kastenbrüder waren getötet worden, bevor er irgendetwas hatte unternehmen können. Er durfte sein Leben nicht einfach so wegwerfen. Es galt, eine wichtige Mission zu einem erfolgreichen Abschluss zu bringen und seinem Volk zu dienen.

Er musste fliehen.

Wynn sah, wie Chap durch den Einschnitt lief. Sie stützte sich an der kalten Felswand ab und versuchte, auf die Beine zu kommen. Unsicheren Schrittes wankte sie übers Geröll, doch am Ende der Rinne blieb sie stehen.

Etwas lag dort an der Felswand.

Sie hörte Chaps Bellen plötzlich wie aus weiter Ferne und starrte auf den Toten.

Das eine Auge des Elfen war weit aufgerissen – wo sich das andere befinden sollte, zeigte sich nur vernarbte Haut. Der Mantel wies vorn ein großes Loch auf, durch das man in den offenen Brustkorb sehen konnte. Alles war voller Blut.

Wynn brachte nicht einmal einen Schrei hervor.

Lauf! Ich finde dich.

Chaps Worte hallten der jungen Weisen durch den Kopf. Sie hob den Blick von der Leiche und sah, wie der Hund von hinten eine weiße Gestalt ansprang.

Chaps Gegner schien ein in Weiß gekleideter Begleiter des an der Felswand liegenden Toten zu sein. Doch dann sah Wynn, dass die Gestalt viel kleiner war.

Der weiße Fremde mit dem dunklen Haar zuckte nicht einmal zusammen, als Chap von hinten gegen ihn prallte und dann zur Seite fiel. Er drehte sich um, und ein verblüffter Schrei entrang sich Wynns Kehle.

Es war eine Frau, nackt und zart gebaut, nicht größer als Wynn. Blut klebte in ihrem bleichen Gesicht und auf der Brust. Wieder sprang Chap ihr entgegen, und beide knurrten.

Die Frau hatte so spitze Zähne wie Magiere, wenn die Dhampir in ihr die Oberhand gewann, doch ihre Augen waren nicht schwarz, sondern farblos.

Wie konnte eine Untote so hoch in diesem Gebirge existieren, wo es kein Leben gab?

Wynn bemerkte eine weitere Leiche zu Füßen der weißen Frau. Der graugrüne Mantel und die Hose in der gleichen Farbe waren in Schnee und Blut kaum noch zu erkennen. Der Kopf fehlte.

Chap lief um die Frau herum und schien vor allem bestrebt zu sein, ihre Aufmerksamkeit an sich zu binden. Immer wieder schlug sie nach ihm und war dabei so schnell, das Wynn zweimal glaubte, sie hätte ihn getroffen.

Die junge Weise konnte Chap nicht einfach sich selbst überlassen, aber sie wusste nicht, wie sie ihm helfen sollte.

Die Frau sprang, und erneut zuckte ihre Hand nach vorn. Chap wich dem Hieb aus, aber die Hand schwang herum, und ihr Rücken traf ihn.

Es war ein so wuchtiger Schlag, dass Chap jaulte, durch die Rinne flog und gegen die Felswand prallte.

Er rutschte daran herab in den Schnee und blieb reglos liegen.

Wynn öffnete den Mund, um nach ihm zu rufen.

Etwas blitzte vor ihr, und dann sah sie direkt in die farblosen Augen der Frau.

Die Untote stand so dicht vor ihr, dass ihr die Wolken von Wynns kondensierendem Atem übers Gesicht strichen. Eine schmale, blutbesudelte Hand packte die junge Weise an der Kehle und drückte sie mit den Schultern an die Felswand.

Wynn schnappte nach Luft. »Nein, nicht!«, rief sie.

Die Hand löste sich abrupt von ihrer Kehle.

Wynn sackte in sich zusammen.

Die weiße Frau war zur anderen Seite der Rinne zurückgewichen und duckte sich wie Wynn, aber nicht aus Furcht.

Stattdessen sah sie Wynn mit einer Mischung aus Schmerz und Zorn an und hatte die blutigen Hände zum Kopf gehoben.

Chap kam wieder zu Bewusstsein und spürte stechenden Schmerz in den Rippen.

Diese Untote war ganz anders als jene, die er gejagt hatte. So schwach sie auch aussehen mochte: Sie war sehr schnell und außerordentlich kräftig. Sie hatte nicht das Blut ihrer Opfer getrunken, sie nur getötet, als wäre sie wütend darüber, dass sie es gewagt hatten, ihren Weg zu kreuzen.

Chap versuchte aufzustehen, und der Schmerz in seiner Brust wurde stärker. Plötzlich rief Wynn:

»Nein, nicht!«

Er sprang zur Öffnung der Rinne; Schmerz raste durch seinen Körper. In dem Einschnitt blieb er stehen.

Wynn kauerte an der linken Wand, und an der rechten, ihr gegenüber, stand die weiße Frau, die Hände zum Kopf gehoben.

Sie hielt sich die Ohren zu.

Chaps Instinkt drängte ihn zum Angriff, bevor die Untote wieder bei Sinnen war. Aber selbst unverletzt war es ihm nicht einmal gelungen, außerhalb ihrer Reichweite zu bleiben. Die Frau hatte zwei Anmaglâhk getötet, und jetzt wich sie vor Wynn zurück.

Warum?

Die weiße Frau strich sich mit einer Hand über die Wange, und ihre Fingerkuppen hinterließen blutige Linien unter einem der beiden sonderbar geformten Augen. Am kleinen, blutverschmierten Mund verharrten sie.

Wynn wagte einen Schritt auf Chap zu.

Die Untote trat so schnell vor, dass ihre Bewegung schemenhaft war. Chap knurrte, und seine Gedanken riefen der jungen Weisen zu.

Beweg dich nicht!

Wynn erstarrte, begann aber zu zittern. Die weiße Frau stand da, und ihre Fingerkuppen wanderten über die eigenen Lippen.

Sie sah nicht einmal zu Chap – ihr Blick blieb auf Wynns Gesicht gerichtet. Chap beobachtete sie beide.

Nein, der Blick galt nicht Wynns Gesicht, sondern ihrem Mund.

Hatte Wynns Ruf der Frau irgendwie … wehgetan? Oder lag es vielleicht an den Worten?

Die weiße Frau befingerte weiterhin ihren Mund, während sie Wynn anstarrte. Der Schrei der jungen Weisen hatte die Untote irgendwie aufgehalten.

Sprich!, forderte Chap Wynn auf, als sie verwirrt in seine Richtung sah. Sprich! Es lenkt sie ab.

Wynns Stimme zitterte, als sie sagte: »Wir … haben uns verirrt. Wir möchten nur den Weg zurück finden.«

Die Frau zuckte bei jedem Wort zusammen. Ihr Gesicht wurde kurz zu einer Grimasse, und dann erschien überraschte Faszination darin.

Chap hob eine Pfote mit der Absicht, sich Wynn zu nähern.

Die weiße Frau sprang, noch bevor die Pfote wieder den Boden berührte. Mit der blutigen Hand stieß sie Wynn gegen die Felswand.

Chap erstarrte. Wenn er jetzt angriff, drohte Wynn der Tod. Dann hörte er ein weiteres Krächzen von oben …

Die beiden Schattenvögel segelten mit durchsichtigen Flügeln hoch über der Rinne, über dieser Untoten. Die weiße Frau furchte die Stirn und neigte den Kopf wie eine Krähe. Als sie Chap erneut ansah, erschien Argwohn in ihren zarten Zügen. Oder war es Erkennen?

Chap versuchte, trotz seiner Furcht klar zu denken. Irgendwie musste er die Aufmerksamkeit der Untoten lange genug auf sich lenken, damit er Wynn befreien konnte.

Die Frau wirbelte herum, ergriff Wynn am Mantel und sprang mit ihr so mühelos durch die Rinne, als wöge die junge Weise überhaupt nichts.

Chap setzte sich in Bewegung und lief übers lockere Geröll.

Wynn!

Am Ende der Rinne wehte ihm kalter Wind entgegen. Sowohl Wynn als auch die weiße Frau waren verschwunden.