22
Magiere erforschte mit Leesil und Chap die Burg, während sich Wynn in der Bibliothek um Sgäile und Osha kümmerte. Sie waren übereingekommen, an diesem Ort zu übernachten und am nächsten Morgen zu ihrem Lager zurückzukehren, doch so sehr sie auch suchten, Betten oder auch nur Decken schien es in der Burg nicht zu geben.
Auch die Suche nach einer Küche oder einer Speisekammer blieb ohne Erfolg. Entweder hatte es in der Burg nie solch eine Einrichtung gegeben, oder sie war schon vor langer Zeit entfernt worden. Schließlich gaben sie es auf, kehrten in die Bibliothek zurück und stellten fest, dass Osha wach war.
Als sie hereinkamen, erstarrte Wynn kurz und schien zu lauschen. »Da ihr nichts gefunden habt … Chap meint, wir sollten uns in das Arbeitszimmer begeben, in dem Li’kän ihn und mich zurückließ. Es ist ein kleiner Raum, aber dort gibt es wenigstens eine Wärmequelle.«
Magiere nickte und nahm die Kugel. »Einverstanden.«
Sgäile und Leesil stützten Osha, als Chap sie durch mehrere Flure und Korridore zu dem Raum führte. Noch immer glühten dort faustgroße Kristalle in einer Kohlenpfanne. Was sie dazu brachte, zu leuchten und Wärme abzustrahlen, wusste niemand von ihnen. Magiere suchte nicht nach einer Erklärung – ohne die Möglichkeit, ein Feuer zu entzünden, war ihr jede Wärme recht, woher sie auch kam. Mit dem Einbruch der Nacht war es in der Burg kälter geworden, und sie alle hatten schon an schlimmeren Orten geschlafen.
Aber nicht an Orten voller Wahnsinn in Form von Worten, die eine Untote überall an den Wänden hinterlassen hatte. Eine Untote, die sich irgendwo unter der Burg befand, gefangen hinter einer großen Steintür.
Zweifel nagte an Magiere, als sie die Kugel in eine Ecke des Arbeitszimmers legte. Wo sie ihr noch immer viel zu nahe war.
»Ist mit Osha alles in Ordnung?«, fragte sie.
»Ich denke schon«, antwortete Wynn. »Und Chaps Hals scheint zu heilen.«
Magiere strich mit der Hand über den Kopf des Hunds. Sie hatte Chaps Behauptung, in der Höhle ein Feenwesen gespürt zu haben, nicht vergessen. Sie ließ sich schwerer beiseiteschieben als Leesils Hinweise auf einen riesigen Schlangenleib. Andererseits … Sie selbst hatte von einem solchen Schlangenleib geträumt.
»Sgäiles Verletzung ist am schlimmsten«, sagte Leesil. »Vielleicht hat er sich das Schlüsselbein gebrochen. Ich habe die Wunde so gut wie möglich verbunden.«
»Wenigstens sind wir am Leben«, sagte Magiere und verzichtete darauf, »noch« hinzuzufügen.
Was auch immer sie hierhergebracht und Li’kän beherrscht hatte, welch unterschiedliche Namen dieses Etwas auch trug … Es war in der Höhle auf drei verschiedene Arten wahrgenommen worden.
Als Untoter, Feenwesen und Drache.
Magiere wollte die Antwort auf dieses Rätsel gar nicht wissen. Sie schauderte bei der Vorstellung, dass die Stimme, die Chap in Li’käns Bewusstsein gehört hatte, mit der in ihren Träumen identisch war. Und wenn sie zur Kugel in der Ecke sah, wollte sie nicht einmal in diesem Zimmer bleiben.
In einem anderen Leben und einer anderen Zeit … Hätte es ihr ebenso ergehen können wie Li’kän?
»Ich brauche Ruhe«, murmelte sie, hielt Dolch und Falchion in die Kohlenpfanne und klemmte einen glühenden Kristall zwischen die beiden Klingen. Dann ging sie zur Tür, blieb dort stehen und sah zu Leesil.
»Kommst du mit?«, fragte sie.
Er nahm ihre Mäntel und folgte ihr.
»Bleibt in Rufweite«, riet ihnen Sgäile.
Magiere ging zur nächsten Öffnung in der Korridorwand. Die Tür darin existierte längst nicht mehr, und sie betrat einen leeren Raum, legte den Kristall in die Ecke. Leesil breitete einen Mantel daneben auf dem Boden aus und begann dann damit, sein Hemd auszuziehen.
Magiere wollte ihn zuerst daran hindern – er sollte sich an diesem Ort nicht zu sicher fühlen. Aber bevor sie Einwände erheben konnte, saß er bereits an die Wand gelehnt und streckte die Hand nach ihr aus.
Magiere nahm ebenfalls Platz und lehnte sich an seine Brust. Sie zitterte – nicht wegen der Kälte –, und Leesil legte den anderen Mantel über sie beide.
Während des letzten halben Jahres waren sie auf viele alte Rätsel gestoßen und hatten einige von ihnen gelöst. Jene wenigen, die einen Sinn ergaben, legten nahe, dass diese »Nachtstimme« – Il’Samar – Magieres Geburt geplant hatte. Welstiel schien nicht einmal das gewusst zu haben. Dass ihre Aufgabe darin bestand, eine Horde von Untoten anzuführen und die Rückkehr eines alten Feindes zu ermöglichen, war ihm ganz sicher nicht bekannt gewesen.
Aber es spielte keine Rolle. Sie würde sich nicht zu irgendetwas drängen lassen und ihren Weg selbst wählen.
Und was den Rest betraf, all die Fragmente des Vergessenen, auf die sie gestoßen waren und für die sich Wynns Gilde so sehr interessierte …
»Ich weiß, was ich gesehen habe«, flüsterte Leesil. »Vielleicht war es nicht echt. Ich meine, vielleicht war es nicht wirklich da … Aber ich kann es mir nicht einfach nur eingebildet haben.«
Magiere drehte den Kopf und sah zu ihm hoch. »Ich glaube dir. Wie dem auch sei … Etwas stimmt nicht, zumindest in Hinsicht auf Chaps Behauptungen.«
»Ich habe dies alles satt«, hauchte Leesil und legte die Arme um sie.
Magiere schloss die Augen, hörte Leesils leises Seufzen und fühlte, wie sich seine Brust unter ihrer Wange hob und senkte.
Leesil hatte eine ganz andere Geschichte. Bei ihm waren Geburt und Ausbildung von Abtrünnigen unter den Anmaglâhk geplant worden, damit er gegen den »Feind« kämpfte, den der Älteste Vater fürchtete. Selbst die Geister der An’Cróan-Ahnen hatten versucht, ihm dieses Schicksal aufzuzwingen.
Im Gegensatz zu Magiere weigerte sich Leesil, auch nur darüber zu sprechen. Aber es zu leugnen, nützte ihm nichts.
Man konnte nicht vor etwas entkommen, indem man die Augen davor verschloss. Es war sinnlos, gen Himmel zu blicken und so zu tun, als gäbe es den Abgrund einen Schritt weiter vorn gar nicht. Leesil musste sich die Tatsachen eingestehen. Wenn nicht, würde er nur blindlings umherstolpern. Irgendwann musste Magiere ihn dazu bringen, dies einzusehen, wenn er eine Chance haben wollte, seinen Weg selbst zu bestimmen.
Aber für diesen Abend hatte er genug hinter sich. Das galt für sie alle.
Der Raum war leer, bis auf ein hohes Fenster, das vom Licht des Kristalls kaum erreicht wurde. Leesils Amulett hatte in dem Augenblick aufgehört zu glühen, als der Eisenbalken in die Halterungen an der großen Steintür gerutscht war. Li’käns Schattenwesen erschienen nicht mehr, als könnten sie sich nur dann manifestieren, wenn die weiße Untote in der Nähe war.
Magiere fragte sich, ob zwischen Burg und Höhle eine unsichtbare Barriere existierte. Wie sonst konnte es hier so kalt sein, obwohl dort unten große Hitze aus der Tiefe aufstieg?
Magiere dachte auch daran, wann Leesil und sie zum letzten Mal einen Moment für sich allein gehabt hatten.
»Ich habe nachgedacht«, sagte er plötzlich.
Sie drehte erneut den Kopf. »Worüber?«
»Wenn wir zurückkehren, können wir auch Wynns Linsensuppe auf die Speisekarte setzen. Und ihr Fladenbrot, vielleicht als Beilage für die Fischsuppe. Im Herbst sollten wie den Pharo-Tisch näher an den Kamin stellen. Am Fenster ist es zu kalt …«
Magiere beschloss, auf ihn einzugehen. »Wir können doch nicht der Hälfte unserer Gäste den Zugang zum Kamin verwehren.«
»Die Gäste sollen sich an den Tisch setzen und mit mir Karten spielen«, sagte Leesil. »Wie sonst könnte ich genug Geld für den Winter verdienen?«
Magiere schloss die Augen und stellte sich gemütliche Abende vor, an denen sie sich nur fragen musste, was sie den Gästen zum Essen anbieten sollte und warum die letzte Bierlieferung auf sich warten ließ. Zufrieden schob sie einen Arm unter Leesils Rücken.
Im Raum mit der Treppe lagen geköpfte Untote. Weiter unten in der Höhle war die weiße Vampirin gefangen. Und ihr Herr hatte sich irgendwie einen Weg in Magieres Träume gebahnt.
Aber Leesil wollte sie einfach nur halten und von ihrer Taverne reden, ihrem Zuhause, als sei überhaupt nichts geschehen.
Sie ließ ihn reden.
Wynn überprüfte Sgäiles Verband, obwohl er dabei unruhig wurde. Die Wunde war sauber, aber sie befürchtete nach wie vor, dass das Schlüsselbein gebrochen war.
»Keine bleibenden Muskelschäden, nehme ich an«, sagte sie. »Aber die Heilung wird eine Weile dauern.«
Osha lehnte an der Wand. Wynn hatte ein Stück vom Saum ihres Elfenumhangs abgeschnitten und ihm damit den Kopf verbunden, aber gegen seine Schmerzen konnte sie nichts ausrichten. Wenigstens war er wieder zu sich gekommen; das hielt sie für ein gutes Zeichen. Chaps Hals heilte, doch Wynn dachte voller Sorge an mögliche Infektionen. Immerhin war der Hund von zwei wandelnden Leichen gebissen worden.
Sgäile sah Wynn in die Augen.
»Ich danke dir«, sagte er.
Sie setzte sich auf die Fersen und seufzte. »Leider habe ich keine Salbe. Wenn wir bei der Gilde wären, könnte ich dir einen Umschlag gegen Infektionen machen.«
Sgäile schüttelte den Kopf. »Mach dir keine Sorgen! Es ist eine saubere Wunde.«
Wynn befürchtete noch immer eine Rüge, weil sie in der Nacht losgelaufen war, doch Sgäile lehnte nur den Kopf an die Wand und schloss die Augen. Vielleicht war er einfach zu müde.
Wynn stand auf, ging zur Tür und sah in den dunklen Flur. Von der nächsten Tür, etwa zehn Schritte entfernt, kam das matte orangefarbene Licht eines glühenden Kristalls. Sie sah zu Osha zurück.
»Ruh dich aus!«, sagte Wynn. »Ich sehe nach Magiere und Leesil.«
Er wollte aufstehen. »Du kannst nicht allein gehen.«
Sgäile rührte sich seltsamerweise nicht. Wynn trat zu Osha und drückte ihn auf den Boden zurück. Er widersetzte sich nicht, begann aber zu protestieren.
»Wynn …«
»Chap begleitet mich. Und jetzt ruh dich aus!«
Als sie erneut zur Tür ging, fühlte sie sich von leichter Übelkeit erfasst.
Wir sollten Magiere und Leesil in Ruhe lassen.
Sie sah auf Chap hinab. »Ich weiß.«
Wohin willst du?
Wynn seufzte schwer. »Ich kann diesen Ort nicht ohne weitere Antworten verlassen.«
Sie holte ihren Kaltlampen-Kristall hervor, rieb ihn und ging durch den Korridor. Chap lief voraus und versperrte ihr den Weg.
»Willst du vielleicht behaupten, du hättest nicht daran gedacht?«, flüsterte Wynn. »Wir können diesen Ort nicht verlassen, ohne zu wissen, was die Bibliothek enthält! Wer außer mir könnte dort etwas Wichtiges finden?«
Chap zögerte, aber schließlich drehte er sich um und lief wieder los.
Wir können nicht die ganze Nacht suchen, und du kannst nicht viel mehr tragen, wenn wir die Burg verlassen. Triff also eine sorgfältige Auswahl!
»Domin Tilswith würde es mir nie verzeihen, wenn ich nicht einmal den Versuch unternähme, etwas aus der Bibliothek mitzubringen.«
Was auch immer du auswählst – wie willst du es fortschaffen? Du hast keinen Rucksack, und ich bezweifle, dass die anderen noch einmal hierher zurückkehren wollen, bevor wir die Berge verlassen.
»Wir sind nicht die Einzigen, die hierhergekommen sind«, erwiderte Wynn. »Und die anderen haben Rucksäcke mitgebracht.«
Chap wurde langsamer, blieb aber nicht stehen, als er Wynn aus zusammengekniffenen Augen ansah. Die junge Weise war sicher, dass er ihre Absicht verstanden hatte, als sie den Raum mit der Treppe erreichten.
Schwarzes Blut bedeckte den Boden rings um die vier kopflosen Leichen. Auf dem Weg zum Arbeitszimmer hatten Leesil und Sgäile die Köpfe in den Flur mit den Säulen geworfen, um sie von den Körpern zu trennen. Bedauerlicherweise hatten sie kein Lampenöl, um die Leichen zu verbrennen.
Wynn schluckte.
Also los!
Mit dem Stiefel drehte Wynn den Körper einer kleinen Frau um und stellte fest, dass eine zusammengerollte Plane mit Stricken auf ihren Rücken gebunden war. Sie legte den Kaltlampen-Kristall beiseite und nahm Magieres alten Dolch zur Hand.
Damit schnitt sie die Plane los. Schwarze Flüssigkeit kam aus dem Halsstumpf, als sie die Leiche bewegte. Wynn wandte den Blick davon ab und hielt ihn auf die Kutte der kleinen Frau gerichtet. Sie versuchte, nicht daran zu denken, was mit diesen Menschen geschehen war, als Welstiel und Chane sie gefunden und verwandelt hatten.
Wynn zog die Stricke unter dem Körper hervor, und öliges schwarzes Blut geriet an ihre Finger. Ihr wurde übel.
Bring es zu Ende!
Wynn würgte fast.
»Sei still!«, ächzte sie. »Dies ist schlimm genug, auch ohne deine Stimme in meinem Kopf!«
Chap knurrte, lief zu einer anderen Leiche und drehte sie auf den Bauch. Mit Pfoten und Krallen versuchte er, eine weitere zusammengerollte Plane zu lösen. Wynn schloss die Augen und wischte das schwarze Blut an der Kutte der kleinen Frau ab.
Als sie die Lider wieder hob, stand Chap mit Stoff im Maul vor ihr. Er wandte sich dem Korridor auf der anderen Seite zu. Wynn nahm Kristall, Stricke und Plane und folgte ihm. Als sie kurze Zeit später die Bibliothek erreichte, huschte das Licht des Kristalls über die langen steinernen Regalwände.
Chap ließ sein Leinenbündel am Torbogen zurück, und Wynn legte ihre Plane und die Stricke beiseite. Ein aufgeregtes Prickeln begleitete sie, als sie zwischen die Regale trat. Zusammen mit Chap war sie allein und unbeobachtet an einem Ort, für dessen Katalogisierung die Gilde Jahre oder Jahrzehnte gebraucht hätte. Doch die Ehrfurcht wich schnell aus ihr, als sie daran dachte, wie dieses Wissen hierhergekommen war.
Sie war von alten Texten umgeben, die Untote wie Li’kän geschrieben hatten.
Chap hob die Schnauze und sah zu den oberen Regalen hoch.
Wynn fühlte sich von der Aufgabe überwältigt, der sie sich hier gegenübersah. Hier gab es so viel, und dies war nur ein Gang zwischen Regalwänden von vielen – wie sollte sie entscheiden, was es mitzunehmen lohnte?
Erneut regte sich Übelkeit in ihr.
Such zuerst nach Sprachen, die du lesen kannst, und dann nach denen, die du zumindest erkennst. Konzentriere dich vor allem auf Bücher. Gebundene Texte sind älter und bestehen aus Material, das später knapp wurde.
»Ja«, sagte Wynn und nickte. »Aber die Bücher sind bestimmt besonders empfindlich und könnten auseinanderfallen, wenn man sie berührt. Im Gegensatz zu Schriftrollen in schützenden Zylindern.«
Eine solche Aufgabe hätte von erfahrenen Weisen wahrgenommen werden sollen, von den besten Katalogisierern der Gilde. Wynn war nur eine einfache Gesellin im Orden der Weisen, noch weit vom Titel des Meisters oder gar des Domin entfernt. Aber sie befand sich allein an diesem Ort und musste eine Entscheidung treffen.
Wenn du einen Text entdeckst, der die »Nachtstimme« erwähnt, ganz gleich, in welcher Sprache, so gib ihm Vorrang vor den anderen. Das gilt auch für Texte, die vor unserer Ära entstanden sind, selbst wenn du sie nicht lesen kannst. Vielleicht ist eine Übersetzung möglich, wenn …
»Willst du dies alles noch schwerer machen?«, fragte Wynn.
Chap sah zu ihr hoch. Entschuldige!
Sie folgte ihm tiefer durch den Gang, sah sich dabei im Licht des Kristalls Bücher, Pergamentrollen und kleine Kästen an.
Während Magiere, Leesil, Sgäile und Osha ruhten, suchte die junge Weise nach Texten, die vielleicht über die Rätsel einer verlorenen Vergangenheit Auskunft gaben.
Vielleicht verbarg sich hier irgendwo eine Antwort auf die Frage, was damals die Welt zerstört hatte.
Im Morgengrauen stand Magiere auf der Treppe vor der Burg. Große Schneeflocken fielen aus dem weißen Himmel.
Aus Teilen einer Plane und Stricken hatten sie eine Art Hängematte für die Kugel angefertigt. Außerdem hatten sie Leder aus dem Gepäck eines untoten Kuttenträgers verwendet und zwei wärmespendende Kristalle aus der Kohlenpfanne darin eingewickelt. Das Leder schwelte und rauchte zwar ein bisschen, aber wenigstens brauchten sie keinen Gedanken mehr daran zu vergeuden, woher sie Dung fürs Lagerfeuer nehmen sollten.
Wynn wirkte müde und erschöpft, als sie zwei große Planenbündel herbeischleppte, die eigentlich zu schwer für sie waren.
Magiere richtete einen argwöhnischen Blick auf Chap, und der Hund sah zur Seite. Es war nicht schwer zu erraten, was Wynn und er angestellt hatte, während Magiere und die anderen geschlafen hatten. Eigentlich wunderte sie sich kaum darüber.
Die Bibliothek enthielt viel mehr als Wynns Bündel, und Magiere fragte sich, ob jemand anders die Burg in absehbarer Zeit finden würde. Vielleicht gewährte das, was die junge Weise mitgenommen hatte, Einblicke in die Geheimnisse jenes Ortes.
Magiere blickte über den weißen Hof zum Tor, dessen einer Flügel noch immer schief in den Angeln hing. Der Gedanke, dass eine weitere lange Reise vor ihnen lag, belastete sie, aber es war besser, als auch nur einen zusätzlichen Tag in der Burg zu verbringen.
Leesil und sie hatten bis tief in die Nacht miteinander gesprochen, über ihre Hoffnungen für die Zukunft und den Weg nach Hause. Sie hatten keine Karte, aber wenn sie nach Westen zogen, sollten sie irgendwann das Immermoor erreichen, das ausgedehnte Sumpfland südlich von Dröwinka. Von dort aus ging es weiter nach Nordwesten in Richtung Küste, am nördlichen Rand des Sumpflands entlang.
Leesil glaubte, dass sie ohne Zwischenfälle das südliche Belaski erreichen konnten, wenn sie an der Südgrenze von Dröwinka blieben, doch Magiere hatte da ihre Zweifel. Wenn Dröwinkas Adelshäuser noch immer darüber stritten, wer dem Großfürsten auf den Thron folgen sollte, so war keine Ecke ihres Heimatlands sicher. Alle Beteiligten konnten Außenstehende für eine Bedrohung halten und sie angreifen.
Und sosehr sich Magiere auch eine Nachricht von Tante Bieja erhoffte – ihr Heimatdorf Chemestúk lag viel zu weit im Landesinnern.
Leesil hatte Bieja Geld und einen Brief hinterlassen, in der Hoffnung, dass sie nach Miiska reiste. Tante Bieja war ausgesprochen stur – wie offenbar alle Frauen in Magieres Familie –, aber nicht dumm.
Magiere seufzte und hatte es satt, sich dauernd Sorgen zu machen. Wenn sie Miiska erreichten, würde Wynn Domin Tilswith in Bela Bescheid geben, und dann würde Magiere einen Weg finden, Bieja ausfindig zu machen, wenn ihre Tante dort nicht auf sie wartete. Anschließend konnten sie alle endlich ausruhen und die Kugel der Weisengilde übergeben.
Der Wind wurde stärker und wirbelte die Schneeflocken durcheinander.
»Es droht ein weiterer Schneesturm«, brummte Leesil.
»Ja«, pflichtete ihm Sgäile bei. »Wir müssen uns beeilen, wenn wir das Lager rechtzeitig erreichen wollen.«
Sie bückten sich, und jeder von ihnen schlang sich eine der beiden Trageschlaufen der Hängematte über die Schulter. Leesil nahm auch die Schlinge des Lederbeutels mit den Feuerkristallen.
»Setz die Kapuze auf, Wynn«, sagte Magiere, drehte sich um und hob eins der schweren Bündel der jungen Weisen.
Wynn verzog das Gesicht, kam der Aufforderung aber nach. Dann machte sie plötzlich kehrt und betrat die Burg.
»Was machst du da?«, rief Magiere ihr nach.
Als Wynn wieder zum Vorschein kam, wankte sie unter dem Gewicht eines zwischen zwei Eisenplatten gepressten Bündels. Magiere erinnerte sich daran, es auf dem Boden des Arbeitszimmers gesehen zu haben.
»Jetzt ist aber Schluss!«, sagte sie. »Du kannst nicht jedes Pergament in der Burg mitnehmen!«
»Dies muss mit!«, beharrte Wynn. »Es könnte ein Tagebuch sein, geschrieben von Li’käns ehemaligen Gefährten.«
Magiere fragte sich, wer jene anderen gewesen sein mochten und warum sie Li’kän allein zurückgelassen hatten. Wie waren sie überhaupt in der Lage gewesen, die Burg zu verlassen, obwohl die weiße Untote über Jahrhunderte hinweg die Fesseln eines verborgenen Herrn getragen hatte?
»Ach, gib her«, brummte Magiere und nahm das Bündel mit den Eisenplatten entgegen.
Es war so schwer, dass sie es fast fallen gelassen hätte, und Wynn schnappte erschrocken nach Luft. Dann gelang es Magiere, sich das metallene Buch unter den einen Arm zu klemmen.
Osha nahm Wynns zweites Bündel aus der Bibliothek. Der junge Elf kam gut zurecht für jemanden, der einen Schlag mit einer Eisenstange an den Kopf bekommen hatte. Er runzelte die Stirn und richtete einige leise Worte auf Elfisch an Sgäile.
»Ich weiß«, antwortete der.
»Für die von Li’kän getöteten Kastenmitglieder müssen Rituale durchgeführt werden«, erklärte Wynn.
Leesil warf ihr einen kurzen Blick zu und erklärte: »Zuerst marschieren wir zum Lager. Anschließend werden wir dann sehen, wie schlimm das Wetter wird.«
Sgäile blickte übers Hochplateau. »Ja, unsere Mission steht an erster Stelle.«
Magiere ging die Stufen hinunter und stapfte durch den Schnee zum Tor.
Hkuan’duv konnte kaum mehr atmen, als er plötzlich Stimmen hörte. Dänvârfij und er hielten nicht zum ersten Mal bei schlechtem Wetter Wache, aber dünne Luft und Kälte ließen ihn steif werden, obwohl er bei seiner Ausbildung gelernt hatte, seine Körperwärme zu kontrollieren und zu bewahren. Es schneite wieder, und Wind kam auf. Es fiel ihm schwer, Arme und Beine zu bewegen, als er von der Felswand fortkroch, um besser Ausschau halten zu können.
»Sgäilsheilleache und Osha«, flüsterte Dänvârfij.
Hkuan’duv sah zu ihr zurück. Sie war blass; selbst die Lippen hatten ihre Farbe verloren. Als er wieder nach vorn blickte, traten die anderen durchs Tor, und er duckte sich in den Schnee.
Magiere ging voraus, mit einem quadratischen Gegenstand unter dem Arm und einem größeren Bündel auf dem Rücken. Hinter ihr kamen Léshil und Sgäilsheilleache, die einen schweren Gegenstand in einer Art Hängematte trugen. Der Majay-hì lief in der Nähe, und den Abschluss bildeten Osha, der ein ebenso großes Bündel trug wie Magiere, und die kleine Menschenfrau.
Hkuan’duv beobachtete die Gruppe, und seine Aufmerksamkeit galt insbesondere den beiden großen Bündeln sowie dem Gegenstand, den Léshil und Sgäilsheilleache trugen. Weitere Komplikationen … Er wusste nicht, bei welchem der Objekte es sich um das Artefakt handelte.
»Offenbar ist Magiere erfolgreich gewesen«, flüsterte er.
»Nehmen wir ihnen den Gegenstand ab?«, fragte Dänvârfij. Ihre Stimme klang schwach, aber sie hielt den Bogen fest in den Händen.
»Nicht hier«, erwiderte Hkuan’duv. »Wenn sie weiter von diesem Ort und der Hüterin entfernt sind.«
Von der weißen Frau war weit und breit nichts zu sehen, aber Hkuan’duv hielt es für besser zu warten. Er wollte keine neue Konfrontation mit ihr riskieren.
Als die Gruppe die Hälfte des Hochplateaus hinter sich gebracht hatte, kroch er zu Dänvârfij zurück.
Ihr eingefallenes Gesicht wirkte noch blasser als vorher, und unter der Kapuze hatte sich Raureif am Haar gebildet. Ihre Pupillen waren sehr klein.
»Geht es dir gut?«, fragte Hkuan’duv.
»Natürlich«, flüsterte sie.
Trotzdem öffnete er seinen Mantel und zog sie an seinen Körper, obwohl es ihm nicht viel besser ging als ihr.
»Es dauert nicht mehr lange«, sagte er.
Dänvârfij lehnte sich stumm an ihn. Als Magieres Gruppe das Ende des Hochplateaus erreichte, fiel der Schnee dichter, und der Wind war stärker geworden.
»Bei diesem Wetter kommen sie nicht weit«, sagte Hkuan’duv. »Bestimmt bleiben sie in ihrem Lager.«
Dänvârfij gab keinen Ton von sich, als er aufstand. Sie wollte sich ebenfalls erheben, aber dabei rutschte ihr der Bogen aus den Händen. Einen Moment später sank sie in den Schnee.
Hkuan’duv kniete sich rasch hin, drehte sie herum und wischte ihr Schnee vom Gesicht.
Dänvârfijs Augen waren geschlossen, und sie atmete flach.
Der böige Wind fauchte, als Hkuan’duv den Bogen auseinandernahm und die Teile unter seinem Mantel auf den Rücken band. Als er sich Dänvârfij über die Schulter legte und die ersten Schritte machte, zitterten ihm die Knie. Die lange Nacht hatte ihn mehr Kraft gekostet, als ihm bisher klar geworden war. Mühsam wankte er durch den Schnee.
Als er das Ende des Plateaus erreichte, war das Zischen des Winds so laut, dass er Dänvârfijs Atem nicht mehr hörte. Er kletterte die Felswand hinab, suchte dabei mit einer Hand am kalten Gestein nach Halt.
Da ihre Mission unmittelbar vor dem Abschluss stand, hätte er Dänvârfij zurücklassen und alles zu Ende bringen sollen, doch das brachte er nicht fertig. Vielleicht war er inzwischen zu alt geworden und ließ deshalb in seiner Entschlossenheit nach. Wie auch immer, allein würde Dänvârfij im heraufziehenden Schneesturm nicht überleben.
Und Hkuan’duv hätte Dänvârfijs Verlust nicht überlebt.
Er senkte den Kopf und setzte den Weg fort. Als er durch die Rinne kam, schenkte er Kurhkâges schneebedeckter Leiche kaum Beachtung. Kurze Zeit später erreichte er ihr Lager und stellte fest, dass das Zelt halb unterm Schnee begraben lag. Er setzte Dänvârfij ab, entfernte den Schnee, zog seine Gefährtin ins Zelt und griff nach dem Dungbeutel.
Am Eingang entzündete er ein Feuer und hoffte, dass es eine Zeit lang brennen würde, als er neben Dänvârfij unter die Mäntel kroch. Er drückte sich an sie und fügte der Wärme des Feuers seine eigene hinzu.
Für einen Moment schloss Hkuan’duv die Augen und versuchte, nicht der Erschöpfung zu erliegen.
Als er die Lider wieder hob, hörte er keinen Wind, und draußen war es dunkel. Dänvârfij bewegte sich neben ihm.
»Wo sind wir?«, murmelte sie.
Er kroch zum Eingang des Zelts. Schnee hielt dort die Plane fest, und mit bloßen Händen schaufelte er ihn beiseite. Dann trat er nach draußen, in eine stille, dunkle Welt, die eine neue weiße Decke trug.
Der Schneesturm war weitergezogen. Hkuan’duv war an Dänvârfijs Seite eingeschlafen – aus dem Tag war Nacht geworden.
Als Hkuan’duv ins Zelt schaute, hatte sich Dänvârfij aufgesetzt. In ihren großen Augen zeigte sich die Sorge, die auch er empfand.
»Bleib hier!«, befahl er und eilte durch die Nacht.
Er erreichte eine Stelle, von der aus er das andere Lager sehen konnte, und wusste sofort, dass es zu spät war – es kam kein Licht durch die Plane. Er näherte sich schnell, ohne zu versuchen, im Verborgenen zu bleiben. Warum hatten sie die Plane zurückgelassen?
Hkuan’duv trat in die kleine Höhle.
Kurhkâge und A’harhk’nis lagen dort, die Hände auf der Brust. Mehr brauchte Hkuan’duv nicht zu sehen.
Sgäilsheilleache hatte das Todesritual für die gefallenen Kastenbrüder durchgeführt.
Zumindest ihre Seelen, wenn nicht ihre Körper, würden zu den Ahnen zurückkehren. Ohne eine Möglichkeit, die Leichen nach Hause zu schaffen, hätten sie eigentlich verbrannt und die Asche heimgebracht werden sollen. Aber dazu war Sgäilsheilleache wohl nicht in der Lage gewesen, und deshalb hatte er sich auf das Ritual beschränkt.
Hkuan’duv verließ die kleine Höhle und blickte über den weiten Hang, konnte aber nirgends Spuren im frisch gefallenen Schnee entdecken. Vermutlich war Magieres Gruppe aufgebrochen, als der Sturm nachgelassen hatte, und der Neuschnee hatte ihre Spuren zugedeckt. Hkuan’duv eilte zu seinem eigenen Lager zurück, wo Dänvârfij bereits damit beschäftigt war, ihre Sachen zusammenzupacken.
»Ich habe ihre Spur verloren«, sagte er und ging neben ihr in die Hocke.
Ihr Gesicht war noch immer hohlwangig und bleich. Sie hatte die Kapuze zurückgeschlagen, und das Haar fiel ihr auf die Schultern.
»Wenn sie das Artefakt nach Belaski bringen wollen«, sagte sie, »werden sie die Berge überqueren und versuchen, die westliche Küste zu erreichen. Selbst wenn wir ihnen hier im Gebirge nicht folgen können … Bestimmt finden wir ihre Spur, wenn sie die Berge verlassen. Ihr Weg führt zum Immermoor, und das Sumpfland kenne ich gut.«
Die Unruhe wich aus Hkuan’duv, als er diese Worte hörte.
»Natürlich«, erwiderte er. »Wir verlieren nur etwas Zeit.«