14

Für Chane war seine Existenz als Untoter noch immer recht ungewohnt, und manchmal hatte er das Gefühl, nur wenig über seine wahre Natur zu wissen.

Fast ein ganzer Mond war vergangen, und zusammen mit Welstiel kletterte er höher in die schneebedeckten Pockenhöhen südlich der Klingenberge. Er vergeudete keinen Gedanken daran, dass die Temperatur jede Nacht unter den Gefrierpunkt sank, denn er fühlte die Kälte gar nicht.

Als die Morgendämmerung näher rückte, konnte er die Finger nicht mehr bewegen.

Chane starrte auf seine Hände, die noch bleicher wirkten als sonst.

»Welstiel?«, krächzte er.

Jakeb wimmerte und begann damit, auf seine Finger zu beißen.

Chane versuchte, seine Finger an der Hüfte zu beugen. Seine Beine waren steif und schienen ebenfalls erstarren zu wollen.

Welstiel fluchte leise, sank schwer auf die Knie und grub mit steifen Fingern.

»Schlagt das Lager auf, schnell!«, befahl er, doch seine Stimme war kaum mehr als ein Nuscheln.

»Was geschieht mit uns?«, fragte Chane.

Sabel und Sethè mühten sich mit den von der Kälte steifen Planen ab, als Welstiel einen flachen Felsen unter dem Schnee freilegte. Er griff nach seinem Rucksack, aber seine Finger waren so steif, dass er ihn nicht öffnen konnte. Schließlich biss er die Schnur durch, zog den Rucksack auf, griff unbeholfen hinein und holte einen Gegenstand hervor: einen stählernen Reif mit dunklen Gravierungen. Welstiel ließ ihn fallen.

Chane hörte das Geräusch von Stahl auf Stein und erinnerte sich an den Geruch des Reifs, an den Geschmack wie Holzkohle. Er fühlte seine Beine nicht mehr, blieb aber still und wartete.

Welstiel summte leise und strich mit steifen Fingern über den Reif – die haarfeinen Linien und eingravierten Zeichen begannen sich zu verändern. Rote Stellen erschienen und dehnten sich schnell aus, und die dunklen Zeichen wurden heller, bis sie glühten wie das Eisen in einer Schmiede. Wärme ging von dem Stahl aus.

»Taut eure Hände auf«, sagte Welstiel. »Aber haltet sie still, bis die Starre aus ihnen verschwunden ist. Andernfalls könntet ihr einen Finger verlieren. Und wir haben nicht genug gespeicherte Lebenskraft, um solche Verletzungen zu heilen.«

Chane sank ebenfalls auf die Knie, dankbar dafür, dass er die Beine überhaupt noch beugen konnte. Er sah Welstiel an.

»Warum hast du mich nicht gewarnt?«, zischte er.

»Ich dachte, es wäre alles in Ordnung, solange wir in Bewegung bleiben …«

»Beantworte meine Frage!«, fauchte Chane.

»Wir haben Körper, auch wenn sie tot sind«, erwiderte Welstiel leise. »Sie können gefrieren. Aber im Gegensatz zu den Lebenden spüren wir keinen Schmerz, der uns vorwarnt.«

Weitere Enthüllungen über Chanes neue Existenz – für einen Edlen Toten gab es nicht nur Feuer und Enthauptung zu fürchten. Und wieder war er nur knapp einer bitteren Lektion entgangen, weil er die Wahrheit stückchenweise von Welstiel erfuhr.

»Streckt die Hände aus!«, wies er die neuen Untoten an.

Er hielt die eigenen über Welstiels arkane Wärmequelle. Schon nach wenigen Momenten konnte er die Finger wieder beugen, doch Arme und Beine blieben steif.

Sie errichteten das Zelt über dem flachen Felsen und drängten sich um den glühenden Reif zusammen. Welstiel streifte die Handschuhe ab, um die Hände direkt zu wärmen, und Chane stellte fest, dass er den Ring des Nichts jetzt an der linken Hand trug. Vielleicht hatte die Veränderung nichts weiter zu bedeuten – Chane verzichtete auf eine entsprechende Frage, denn er hätte ohnehin keine Antwort bekommen. Er verbrachte die dahinkriechende Zeit damit, über Welstiels andauernde Geheimniskrämerei nachzudenken.

Als draußen die Sonne aufging und ein neuer Tag begann, gab es nur eine Sache, die Chane Trost spendete: das Wissen, dass Wynn überlebt hatte.

Während einer Rast in den Klingenbergen war Welstiel zum Ufer geschlichen, um Magieres Spuren zu suchen. Chane hatte sich dazu hinreißen lassen, ihm in einigem Abstand zu folgen und ihn aus dem Verborgenen zu beobachten.

Welstiel war dicht vor der lauten Brandung in die Hocke gegangen und hatte den Boden betrachtet, um dann noch etwas weiter über den Strand zu gehen und sich der Baumlinie zuzuwenden. Auch dort hatte er den Boden untersucht. Schließlich wandte er sich vom Ufer ab und machte sich auf den Rückweg zum Lager. Was auch immer er suchte, er hielt nicht weiter danach Ausschau.

Chane wusste, was Welstiel gefunden hatte.

Magieres Spuren. Sie hatte die Küste schließlich verlassen und ihre Reise landeinwärts fortgesetzt, in Richtung Berge.

Als Welstiel außer Sicht war, eilte Chane nicht etwa zum Strand, sondern nach Süden durch den Wald. Er fand einen Bach, der sich am felsigen Hang hinabschlängelte, und auf der gegenüberliegenden Seite zeigten sich die Fußabdrücke mehrerer Personen im Boden. Einige von ihnen waren schmal und klein, konnten nur von Wynn stammen.

An dieser Erinnerung klammerte sich Chane fest, als er im Zelt am wärmenden Reif hockte. Er versuchte, die Präsenz von Welstiel und der neuen Untoten aus seiner Wahrnehmung auszublenden. Es dauerte nicht lange, bis ihn das Dämmern erfasste und er für den Tag in einen traumlosen Schlaf sank.

Weitere Nächte vergingen.

Welstiel wies ihnen den Weg, und immer folgte er Magiere. In jeder Nacht wurde es kälter, während sie weiter in die Höhe kletterten. Chane lernte, in Bewegung zu bleiben.

Solange er sich bewegte, fror sein Körper nicht ein. Auch Reibung erwies sich als nützlich: Zwar konnte sein toter Leib keine eigene Wärme erzeugen, aber wenn die Gelenke aneinanderrieben, blieben die Gliedmaßen flexibel. Er wandte sich mit entsprechenden Hinweisen an die neuen Untoten und forderte sie auf, seinem Beispiel zu folgen.

Der Stahlreif wurde zu einem vertrauten Anblick – er lag immer da, wenn sie morgens ins Zelt krochen. Irgendwann im Verlauf des Tages verblasste das helle Glühen, und dann wurden die haarfeinen Linien und eingravierten Zeichen wieder schwarz und grau. Wenn es dunkel wurde, entlockte Welstiel dem Reif neue Wärme, bevor sie ihr Lager abbrachen und den Weg fortsetzten.

Chane versuchte, mehr über das seltsame Objekt zu erfahren.

Eines Abends legte Welstiel den Stahlreif ab, wurde aber von Sethè abgelenkt, bevor er den Gegenstand in seinem Rucksack verstauen konnte. Der Reif blieb auf dem flachen Felsen liegen, und Chane streckte die Hand danach aus.

An seinen Fingerspitzen knisterte es, und rasch zog er die Hand wieder zurück.

Als Welstiel kurze Zeit später von Sethè zurückkehrte, den er erneut geschlagen hatte, griff er geistesabwesend nach dem Reif und steckte ihn in seinen Rucksack. Chane hörte nichts, als Welstiels Finger den Reif berührten, und er unterdrückte seine Ehrfurcht – und seinen Ärger. Welstiel zuckte nicht einmal zusammen.

Chane wusste Geheimhaltung zu schätzen. Kein Magier verriet mehr, als die Umstände erforderten. Aber er hatte es satt, dass Welstiel wichtige Informationen über die untote Existenz nur dann preisgab, wenn es sich nicht vermeiden ließ. Jetzt hatte Chane den Eindruck, dass Welstiels arkane Kenntnisse noch umfangreicher waren als bisher angenommen.

Ein Objekt zu erschaffen, das Feuer herbeirief, war eine Sache. Doch Welstiels Stahlreif enthielt auch etwas, das nur ihn gegen seine schädlichen Auswirkungen immun machte.

Einige Nächte später ergab sich ein größeres Problem. Der Rest der konzentrierten Lebenskraft in Welstiels Flaschen war verbraucht, und die ehemaligen Mönche wurden unruhig und schwer zu kontrollieren, insbesondere Sethè.

Chane erwachte, als der Abend dämmerte, und stellte fest, dass Welstiel weg war. Rasch trat er aus dem Zelt und sah, dass sein Reisegefährte im Schnee hockte und mithilfe des Messingtellers nach Magiere Ausschau hielt.

»Ich fühle, dass sie sich ihrem Ziel nähert«, sagte Welstiel, als spürte er Chanes Präsenz.

Chane scherte sich nicht mehr darum. Die Monotonie von Hunger, Kälte und Leid setzte sich in jeder Nacht fort. Und wofür? Für die Aussicht auf eine bessere Existenz?

»Dann trennt uns nicht mehr viel von der Vervollständigung unserer Vereinbarung«, flüsterte Chane.

»Ja«, antwortete Welstiel. »Du wirst das Empfehlungsschreiben für die Gilde der Weisen bekommen.«

Chane fühlte einen jähen Stich in seinem Innern. Das Tier in ihm kroch in eine Ecke und verbarg sich vor einer unbekannten Gefahr. Chane starrte auf Welstiels Rücken.

Dies war schon einmal geschehen, als er das Kloster hinter Welstiel verlassen hatte. Und dass sich dieses Empfinden wiederholte, konnte kein Zufall sein.

Entsprang diese plötzliche Panik Worten, die nur sein Instinkt richtig verstand? Es war mehr als nur Argwohn: ein bohrender Schmerz im Kopf, der einem keine Ruhe ließ.

Er erfüllte Chane mit einer sehr unangenehmen Gewissheit.

Welstiel belog ihn.

Magiere rückte den Kragen ihres Mantels und das Tuch vor ihrem Gesicht zurecht. Zum Glück hatte Osha ein zusätzliches Paar Handschuhe mitgenommen. Die Finger waren zu lang, aber das spielte keine Rolle. Mühsam setzte sie im tiefen Schnee einen Fuß vor den anderen.

Einen vollen Mond nach dem Schiffbruch befanden sie sich hoch oben in den Pockenhöhen südlich der Klingenberge, und seit sechs Tagen hatte Magiere keinen Baum mehr gesehen. Verkrusteter Schnee bedeckte die Wege zwischen zerklüfteten Felsen und steilen Schluchtwänden, und dunkle Gipfel ragten in den schmutzig weißen Himmel auf.

Der Wind war noch stärker und kälter als in den Gebrochenen Bergen auf dem Weg zum Reich der Elfen. Und das Atmen fiel schwer. Immer wieder mussten sie in der dünnen, eisigen Luft innehalten, um wieder zu Atem zu kommen.

Das Tageslicht schwand, und Magiere konnte kaum mehr die Gesichter der anderen unter ihren Kapuzen und Gesichtstüchern erkennen, die Leesil aus zerrissenen Kleidungsstücken angefertigt hatte.

Chap bildete die Spitze ihrer Kolonne. Schnee klebte an der Decke, die sie ihm um Körper und Hals geschlungen hatten. Leesil und Sgäile stapften direkt hinter Magiere, Wynn und Osha bildeten den Abschluss.

Wynn war für diese Reise zu zart und zu schwach. Ihr kleiner Körper verlor die Wärme zu schnell, und mit ihren kurzen Beinen musste sie mehr Schritte machen als die anderen, um die gleiche Entfernung zurückzulegen. Osha hatte sich nie zuvor außerhalb des Elfenwalds mit seinem konstanten Klima aufgehalten. Die kalten Höhen kamen für ihn einem Schock gleich, und das Atmen fiel ihm noch schwerer als den anderen.

Doch diese sorgenvollen Gedanken beschäftigten Magiere nur am Rande. Im Zentrum ihrer Aufmerksamkeit stand das, was sie nach Süden zog, und die Absicht, die Kugel zu finden, bevor sie jemand anders in die Hände fiel.

Chap bellte vor ihnen, und Sgäile mühte sich an Magiere vorbei.

»Hier!«, rief er, und das Gesichtstuch dämpfte seine Stimme.

Alles in Magiere drängte danach, den Weg fortzusetzen. Es gab noch Licht, und sie fühlte sich kräftig genug weiterzustapfen.

Chap machte kehrt und kämpfte sich durch den tiefen Schnee. Er versperrte Magiere den Weg und wich nicht zur Seite. Magiere blickte über ihn hinweg.

Chap hatte eine kleine Höhle am Fuß einer granitenen Wand gefunden. Der untere Teil der Felswand war vor dem Wind geschützt, und die Höhle bot genug Platz für ihr Nachtlager.

Bisher war es Chap und Sgäile gelungen, jeden Abend einen geeigneten Lagerplatz zu finden. Schlimmstenfalls hatten Sgäile und Osha Schnee zu Wällen aufgetürmt und eine Plane darübergespannt. Unter ihr drängten sich alle zusammen, benutzten ihre Mäntel als Decken und wärmten sich gegenseitig.

Magiere seufzte, und der Wind trug ihren kondensierenden Atem davon. Es dauerte nicht mehr lange, bis es dunkel wurde, und einen so guten Lagerplatz mussten sie nutzen.

Leesil stapfte heran und sah in die Höhle. Zwischen Kapuze und Gesichtstuch waren nur seine Augen zu sehen.

»Dies ist ein guter Platz«, sagte er. »Wir können die Öffnung mit einer Plane abdecken, und ein Teil der Wärme des Feuers bleibt drinnen.«

Oshas Hand zitterte, als er versuchte, seinen Rucksack zu öffnen. Sgäile nahm ihm den Rucksack ab.

»Du und Wynn, hinein mit euch!«, sagte er.

Ohne ein weiteres Wort kroch Osha in die Mulde, gefolgt von Wynn. Hinten lehnte er sich an die Steinwand und öffnete den Mantel, und die junge Weise ließ sich an seine Brust sinken. Er schloss den Mantel um sie.

Sgäile zog sein Gesichtstuch nach unten; zum Vorschein kamen rissige Lippen, als er den Blick auf Leesil richtete. Sie waren beide erschöpft.

Magiere nahm schließlich ihren Rucksack ab.

Wortlos machten sie sich daran, den Zugang der Höhle mit der Plane abzudecken. Als sie damit fertig waren, nahm Magiere den kleinen Topf aus Sgäiles Gepäck.

»Zündet ein Feuer an«, sagte sie mit krächzender Stimme. »Ich hole Schnee für das Trinkwasser.«

Sie kroch nach draußen, während Sgäile getrockneten Dung zu einem kleinen Haufen anordnete und Leesil ihre abendlichen Rationen hervorholte.

Sie alle hatten genug von Beeren, die beim Auftauen breiig wurden, und Fisch, der durch das Pilzpulver einen bitteren Geschmack bekam. Die meisten von ihnen brachten gar nichts herunter, bevor sie nicht Tee oder heißes Wasser getrunken hatten. Die letzten Abende hatte Wynn nur schlafen wollen, als sie haltmachten; man musste sie stets zwingen, etwas zu essen.

Magiere füllte den Topf mit Schnee und kehrte in die Höhle zurück, in der es nach schwelendem Dung roch. Wynn lag noch immer halb unter Oshas Mantel, und Chap hatte sich dicht bei den beiden zusammengerollt. Langsam wurde es wärmer – die Temperatur stieg zumindest über den Gefrierpunkt.

Leesil zog sich das fransige Tuch vom Gesicht, und Magiere sah, wie spröde seine Lippen und die Haut an den Augen waren. Er lehnte an der Wand, rieb sich die Hände und streckte sie dem kleinen Feuer entgegen. Magiere setzte sich neben ihn, und Sgäile nahm den Topf von ihr entgegen.

»Wir sollten Osha und Wynn eine Weile ruhen lassen«, sagte Leesil. »Bis morgen Mittag.«

»Mittag?«, zischte Magiere. Es fiel ihr schwer genug, die ganze Nacht über auf den nächsten Morgen zu warten.

»Sie müssen sich ausruhen«, sagte Leesil und ergriff ihre Hand. »Das gilt für uns alle, auch für dich. Anschließend kommen wir besser voran. Und einen so guten Lagerplatz finden wir so schnell nicht wieder.«

Magiere versuchte, sich neben ihm zu entspannen, Schulter an Schulter, aber tief in ihr zitterte der Drang, den Weg fortzusetzen.

Hkuan’duv blieb stehen, als er A’harhk’nis durch den tiefen Schnee stapfen sah. Die schnelle Rückkehr des Spähers bedeutete, dass er früher als erwartet Spuren gefunden hatte.

»Sgäilsheilleache hat eine kleine Höhle entdeckt und das Lager früher als sonst aufgeschlagen«, sagte A’harhk’nis.

Hkuan’duv nickte und deutete zu einer kleinen Felsnase. »Wir lagern hinter den Felsen dort.«

Weder Dänvârfij noch Kurhkâge sprachen, als sie die aus weißem Segeltuch improvisierten Umhänge ablegten. Tagsüber waren sie damit im Schnee schwerer zu erkennen. Nachts spannten sie die Planen über das Zelt und tarnten es damit.

Sie waren auf nördlicher Seite hinter Sgäilsheilleaches Gruppe geblieben, aber A’harhk’nis wagte sich des Öfteren näher heran und schlich unbemerkt über die steilen Hänge. Er behielt auch die beiden bleichen Männer und ihre geduckten Begleiter im Auge, die einen noch größeren Abstand zu der Gruppe aus Menschen und Elfen wahrten. Die Distanz erstaunte Hkuan’duv zunächst, da die Nächte ebenso lang waren wie die Tage und den nächtlichen Reisenden Gelegenheit gaben, die Entfernung zu verkürzen.

»Sie sind absichtlich langsam«, hatte ihm A’harhk’nis mitgeteilt. »Offenbar wollen sie auf keinen Fall riskieren, der Gruppe zu nahe zu kommen.«

A’harhk’nis litt am wenigsten unter der Kälte und Höhe. Jahrelang war er in verschiedenen Klimazonen und wilden Landschaften unterwegs gewesen. Kurhkâge und Dänvârfij waren mehr an geheime Einsätze in Städten gewöhnt: Kurhkâge hatte sich mehrmals in den südlichen Küstenregionen aufgehalten und Dänvârfij in den Mooren von Dröwinka. Einen ganzen Mond mit nur wenig Essen in diesen kalten Höhen marschieren zu müssen, hatte ihnen beiden sehr zugesetzt.

Hkuan’duv zog die Holzstangen aus seinem Rucksack und machte sich mit A’harhk’nis’ an den Aufbau des Zelts.

»Wir sind weit genug entfernt, um ein kleines Feuer anzünden zu können«, sagte er. »Übernimmst du die erste Wache?«

Es war unfair, eine solche Bitte an A’harhk’nis zu richten, nachdem er fast den ganzen Nachmittag auf Spurensuche gewesen war, doch die anderen brauchten Ruhe.

»Ich bin meistens noch wach, wenn Kurhkâge zu schnarchen beginnt«, erwiderte A’harhk’nis.

Ein schwacher, aber willkommener Scherz. Mit dem in den Vorbergen gesammelten Tierdung machte sich Hkuan’duv daran, ein bescheidenes Feuer zu entzünden. Es dauerte nicht lange, bis kleine Flammen vor dem Eingang des Zelts züngelten, in dem sich Dänvârfij und Kurhkâge bereits hingelegt hatten.

Hkuan’duv folgte ihnen und zog sein Tuch vom Gesicht. Das Zelt bot nicht viel Platz, was vielleicht auch ganz gut war, denn so konnten sie sich besser gegenseitig wärmen.

»Wie geht es euch?«, fragte er.

Dänvârfij sah zu ihm hoch und lächelte mit spröden Lippen. »Gut. Ich brauche kein Kindermädchen. Wir alle haben Nächte in der Kälte verbracht.«

»Aber nicht in solcher Kälte«, sagte Kurhkâge.

Hkuan’duv pflichtete ihm bei, doch wenn Kurhkâge oder Dänvârfij Probleme hatten, musste er davon erfahren.

»Nein«, sagte Dänvârfij, »nicht in solcher Kälte.«

Hkuan’duv rollte seinen Schlafsack aus.

»Glaubst du, wir sind dem Ziel nahe?«, fragte Dänvârfij.

Es war ein subtiler Hinweis darauf, dass sie nicht mehr lange durchhalten konnte.

»A’harhk’nis meinte, dass wir derzeit im höchsten Teil der Pockenhöhen unterwegs sind«, erwiderte Hkuan’duv. »Viel weiter kann die Reise also nicht gehen.«

Er fügte nicht hinzu, dass jeder Tag, den die Reise länger dauerte, einen Tag mehr für den Rückweg bedeutete.

»Ruht euch aus, ihr beide«, sagte er. »Ich sehe nach, wie weit A’harhk’nis mit dem Tee ist.«

»Könntest du mir bitte einige Butterkekse bringen?«, fragte Dänvârfij. »Ach, und wenn du einen Schneehasen siehst … Bitte erlege ihn für mich.«

Hkuan’duv musterte sie. Ihre Worte erinnerten ihn daran, dass dies weder der richtige Ort noch ein geeigneter Zeitpunkt war, ihre Mission von Gefühlen beeinträchtigen zu lassen.

»In diesen Höhen gibt es keine Schneehasen«, sagte er und trat nach draußen.

Doch als Hkuan’duv neben dem kleinen Feuer in kalter Dunkelheit stand, wusste er, dass er das Ende dieser Mission bedauern würde. In Dänvârfijs Gesellschaft fühlte er sich nicht allein.

Die Träumerin flog der Burg entgegen, und eine zischende Stimme flüsterte rings um sie.

Hier … es ist hier … nur einige Schritte entfernt. Das Ende der Reise ist nah.

Sechs eisverkrustete Türme ragten auf und wirkten ebenso vertraut wie die nahen Berggipfel.

Sie war so nahe.

Dann stand sie auf den steinernen Stufen vor dem eisernen Portal.

Nur einige Schritte entfernt … Und die Burg verschwand.

Magiere schlich durch die Höhle zur Plane, hinter der eine Welt aus Schnee und Eis auf sie wartete.

Sie kroch hinaus, richtete sich auf und stapfte in die Nacht.

Wynn lag halb wach neben Osha, mit ihm zusammen an die Rücksäcke gelehnt. Sie fühlte Chap an ihrem Rücken.

Die junge Weise war so erschöpft, dass sie nicht richtig schlafen konnte. Der Gedanke, die Augen in einer Welt aus Schnee und Eis zu öffnen, erfüllte sie mit Abscheu. Außerhalb ihres engen Lagers pfiff der Wind über die hohen Grate.

Die kleine Höhle und Oshas Körper boten Wärme, und ein Feuer knisterte in der Nähe. Sgäile hatte es am Leben erhalten, und was noch besser war: Diesmal konnten sie bis weit in den Morgen rasten.

Oshas Brust hob und senkte sich unter Wynns Kopf, und Chap schnarchte wieder. Selbst wenn sie nicht einschlafen konnte, die leisen Geräusche um sie herum schenkten ihr Ruhe, auch wenn die Anstrengungen des vergangenen Monds noch immer schwer auf ihr lasteten.

Ein Schmerz in ihrem rechten Fuß breitete sich mit jedem verstreichenden Tag mehr aus und wuchs durch die Wade. Heute hatte er auch den linken Fuß erfasst – es schien eine Warnung des Körpers zu sein. Hinzu kam ein Brennen in den Augen, vielleicht ein Hinweis auf drohende Schneeblindheit.

Wynn rollte sich von Oshas Brust herunter und schlang die Arme um Chap. Der Hund hörte auf zu schnarchen, als sie versuchte, ihn näher heranzuziehen, aber er war zu schwer.

»Komm ganz zu mir«, flüsterte sie. »Na los, beweg dich.«

Chap knurrte und schob sich näher, und Wynn drückte ihr Gesicht ins Fell zwischen den Schultern.

»Nur einige Schritte entfernt …«, murmelte jemand. »Das Ende der Reise ist nah.«

Wynn versuchte, den Kopf zu drehen und die schweren Lider wenigstens ansatzweise zu heben.

Sgäile schlief auf der anderen Seite neben Osha, und hinter Chap schlummerte Leesil an der Wand. Wynn schloss die Augen wieder.

Eine Plane knarrte, und kalter Wind wehte in die kleine Höhle. Chap bewegte sich, und Wynns Kopf rollte von seiner Schulter.

»Nein«, stöhnte sie. »Es kann noch nicht Morgen sein. Bleib still liegen. Sgäile gibt uns Bescheid, wenn wir aufstehen müssen.«

Aber Chap beruhigte sich nicht. Vielleicht musste er nach draußen und sich erleichtern. Wynns Arm rutschte von seinem Rücken, als er aufstand, und sie versuchte, Oshas Mantel über sich zu ziehen.

Wieder wehte kalter Wind herein, als Chap nach draußen trat.

Sie ist ohne uns losgegangen!

Chaps Worte zogen durch Wynns Benommenheit. Sie zuckte zusammen und hob den Kopf.

Wer war allein losgegangen?

Die junge Weise sah sich um. Alle schliefen tief und fest, und dieser Anblick ließ sie noch müder werden. Leesils Brust bewegte sich kaum, und neben ihm …

Magiere war nicht mehr da.

Wynn blinzelte, um klarer zu sehen. Über Leesils Beine hinweg kroch sie zur Plane, und er bewegte sich kaum. Als sie nach draußen sah, wehte ihr der kalte Wind Schneeflocken ins Gesicht. Wynn schirmte die Augen mit der Hand ab.

Die Dunkelheit der Nacht lag über dem Schnee. Ein silbergrauer Schemen näherte sich.

Weck die anderen – Magiere ist fort!

Chaps Worte formten sich in Wynns Kopf, bevor er im Schneetreiben richtig Gestalt annahm.

»Magiere?«, rief Wynn. »Wo bist du?«

Weck die anderen!

Wynn riss die Plane beiseite. »Leesil, komm schnell!«