11

Magiere lief zur Seitenwand. Galle stieg in ihr hoch und brannte in der Kehle. Sie sah kaum, wie die Elfin ins Wasser fiel – alle ihre Sinne waren auf die Präsenz der Untoten konzentriert. Hinter ihr erklang ein schmerzerfüllter Schrei, und Sgäile erschien an ihrer Seite.

Sie musste springen und schwimmen, um das andere Schiff zu erreichen. Nur die Jagd zählte.

Chaps Heulen übertönte das Stimmengewirr, und Feuer kam vom anderen Schiff.

Magieres Zorn loderte heißer, und sie hob ein Bein über die Seitenwand.

Etwas packte sie an der Hose und zog. Sie rutschte, verlor den Halt und knallte mit dem Rücken aufs Deck. Sofort rollte sie herum, und dort stand Chap mit angelegten Ohren und versperrte ihr den Weg zur Seitenwand. Sgäile blcikte auf sie herab, sein Gesicht maskenhaft starr. Jemand rief etwas auf Elfisch, und er hob den Blick und sah über sie hinweg.

Die Stimme klang vage vertraut. Osha?

Sgäile sprang über die Seitenwand und verschwand. Magiere kam auf die Beine und wollte ihm folgen, das andere Schiff erreichen …

Chap kam auf sie zu, schnappte nach ihr und knurrte. Er teilte ihr Verlangen nach einer Jagd, und doch wandte er sich gegen sie? Magiere knurrte ebenfalls.

Der Himmel schien in Flammen zu stehen.

Magiere zuckte zusammen, schirmte die Augen ab und sah nach oben. Ein langer Metallspeer mit brennender Spitze traf das Hauptsegel, glitt daran herab, hinterließ eine brennende Spur und bohrte sich schließlich ins Deck.

Es krachte, und das Deck unter Magieres Füßen erbebte so heftig, dass sie auf ein Knie sank. Gelbes Licht gleißte in ihren Augen, als sich das Feuer ausbreitete. Magiere warf sich nach hinten, rollte ab, kam wieder auf die Beine …

Plötzlich existierte ihr Zorn nicht mehr.

Chap lief in die andere Richtung, zum Vorschiff, wich dabei Öltropfen aus, die wie brennender Regen fielen.

Magiere versuchte, seinen Namen zu rufen, aber die noch immer langen Zähne hinderten sie daran.

Chap lief zu der dem Land zugewandten Seite des Schiffes, und in all dem Feuer konnte Magiere nicht feststellen, ob er Brandverletzungen erlitten hatte. Sie holte tief Luft und hustete, als ihr Rauch in die Lunge geriet.

Was geschah? Wo waren Leesil und Wynn?

Der Hkomas rief Befehle. Magiere drehte ruckartig den Kopf, als ein lautes, knackendes Geräusch von der vorderen Balliste kam. Bogensehnen surrten, und Pfeile flogen dem anderen Schiff entgegen.

Welstiel zog sich an der Reling des ylladonischen Schiffes hoch und fühlte sich erschöpft von dem Ring-Ritual. Er hatte den Schutz gerade so lange aufrechterhalten können, bis das Schiff nahe genug an die Elfen herangekommen war. Als die ersten brennenden Ballistenpfeile flogen, ließ seine Konzentration nach, und jetzt spielte es ohnehin keine Rolle mehr.

Magiere musste sich um mehr kümmern als um die Präsenz von Untoten.

Zwei brennende Lanzen trafen die schimmernden Elfensegel und ließen sie in Flammen aufgehen. Eine dritte flog zu weit und fiel ins Meer. Die vierte traf den Rumpf an der Wasserlinie und blieb darin stecken, aber ihr Feuer erlosch.

Unbehagen erfasste Welstiel.

War er zu weit gegangen? Hatte er Magiere in zu große Gefahr gebracht, oder fand sie Gelegenheit, das Schiff zu verlassen und ans Ufer zu schwimmen?

Ein lautes, doppeltes Pochen kam vom anderen Schiff.

Welstiel beobachtete, wie zwei große Speere mit langen Spitzen dem ylladonischen Schiff entgegenflogen. Er stürmte übers Deck, schaffte es aber nur bis mittschiffs, bevor einer der beiden Speere sein Ziel traf. Klâtäs schrie.

Das Geschoss schlug durchs Steuer, und der Steuermann verschwand in einem Durcheinander aus zerfetztem Holz. Welstiel blieb stehen und sah zum Bug zurück.

Die jüngere Elfin stand dort auf und sah sich benommen um. Die Matrosen an der Balliste verließen ihren Posten und versuchten, irgendwo in Deckung zu gehen. Zwei sprangen über die seewärtige Reling und verschwanden. Und dann rannte Chane an Welstiel vorbei zum Heck.

Was wollte der Narr?

Chane hatte das Heck fast erreicht, als ein weiterer Ballistenspeer die Reling zwei Schritte hinter ihm zerschmetterte. Er stolperte und fiel, rutschte inmitten von Holzsplittern übers Deck. Die neuen Untoten gerieten außer sich und liefen kreischend umher.

Zwei ylladonische Matrosen ließen sich nicht beirren und feuerten erneut die Balliste ab. Wieder jagte Feuer zum Elfenschiff. Dann bückten sich die beiden Männer und nahmen mit Öl gefüllte Glaskugeln, an denen Seile befestigt waren.

Die hatte Welstiel zuvor nicht bemerkt. Die Matrosen zündeten Lappen an, die halb in den gläsernen Behältern steckten, und schwangen die Kugeln an den Seilen, um sie nach den Elfen zu werfen.

Welstiel stürmte los, von plötzlicher Sorge um Magieres Sicherheit erfüllt.

Die Ereignisse entwickelten sich nicht so, wie er es sich vorgestellt hatte. Doch er war nicht schnell genug – die beiden Matrosen warfen ihre Glaskugeln.

Welstiel beobachtete, wie ihre kleinen Flammen durch die Nacht flogen. Die Planken unter ihm erzitterten, als ein weiterer Ballistenspeer vom Elfenschiff das Deck traf. Pfeile folgten ihm, und Welstiel duckte sich, wodurch er nicht sah, wie die Kugeln aufschlugen.

Männer schrien und liefen; überall herrschte Chaos.

Fast auf allen vieren lief Sabel an Welstiel vorbei zum Bug. Er hielt sie am Arm fest.

»Hol zusammen mit den anderen unsere Sachen aus dem Frachtraum, schnell!«, befahl er ihr.

Sie mussten das Schiff verlassen, und Welstiel hoffte, dass sich Magiere ebenso verhielt.

Sgäiles Kopf tauchte in das Salzwasser ein, und eisige Kälte kroch ihm in die Muskeln. Als er an die Oberfläche zurückkehrte, kamen ihm plötzlich Zweifel an der Richtigkeit seines Tuns.

Er hatte geschworen, Léshil und seine Gefährten zu schützen. Seine erste Pflicht lag bei ihnen, und das Schiff brannte. Aber als er gesehen hatte, wie die Elfin ins Meer fiel … er hatte geglaubt, sein Herz würde aussetzen.

Er war Anmaglâhk und hatte geschworen, immer für den Schutz seines Volkes einzutreten. Er durfte jene Frau nicht einfach sterben lassen.

Sgäile schnappte nach Luft und schwamm, doch vor dem inneren Auge sah er Magieres Gesicht, die Augen schwarz, halb verloren in ihrem Wahn – das gleiche Ungeheuer, das auf Cuirin’nên’as Lichtung seine Kaste angegriffen hatte. Trotz seines Schutzversprechens hatte sich Sgäile von seinem Instinkt dazu gedrängt gefühlt, sie zu töten. Doch dann waren Wynn und Léshil auf der anderen Seite des Schiffes zwischen den herabfallenden brennenden Segeln erschienen, und Osha hatte gerufen: »Ich kümmere mich um sie. Spring!«

Und Sgäile war gesprungen.

Die hohen Wellen machten es schwer, nach der Frau zu suchen. Alles entzog sich seiner Kontrolle, aber er durfte die Elfin nicht einfach dem Tod überlassen. Er konnte nur hoffen, dass sie Ruhe bewahrte und sich an der Wasseroberfläche treiben ließ, bis er sie fand.

Wynn keuchte und hustete im Rauch. Wohin sie auch sah: Überall loderten Flammen. Das Schiff brannte.

Das lebende Schiff.

Einige Besatzungsmitglieder füllten Eimer mit Seewasser und versuchten, die Feuer zu löschen, aber tropfendes Öl und herabfallende Segel gaben den Flammen neue Nahrung.

Und dann sprang Sgäile über Bord.

Wynn blickte sich verzweifelt um. Magiere kniete auf der anderen Seite des Decks hinter einer Kiste, aber Chap konnte sie nirgends sehen. Elfen liefen in dem Durcheinander aus Flammen umher, und ein knackendes Zischen kam aus der Takelage.

»Magiere!«, ertönte Leesils Ruf. »Weg da!«

Er lief zu Magiere, und Wynn sah, wie der brennende Hauptmast in der Mitte brach und kippte.

»Nein, Leesil!«, schrie sie.

Er sprang zu der Kiste. Seile und Segelfetzen fielen, und der Mast schmetterte in der Mitte des Schiffes aufs Deck. Leesil war plötzlich nicht mehr zu sehen.

»Leesil!«, rief Wynn.

Irgendwo klirrte Glas, und rings um den umgestürzten Mast loderte plötzlich eine Wand aus Flammen. Brennende Öltropfen spritzten in alle Richtungen.

Wynn wich zur Seite und klopfte auf die brennenden Stellen an ihrer Kleidung. Als sie sich umdrehte, sah sie Osha.

Er lief an der Seitenwand entlang auf sie zu, ein Stilett in der Hand. Bevor Wynn noch begriff, was geschah, duckte er sich und stieß mit der Schulter gegen ihre Brust. Der Aufprall presste ihr die Luft aus der Lunge.

Wynn rang erschrocken nach Atem, als sie den Boden unter den Füßen verlor. Über Oshas Rücken hinweg sah sie eine Säule aus Feuer, die sich von der Mitte des Schiffes in Richtung Seitenwand neigte – genau auf sie zu.

Das ganze Schiff geriet in Bewegung, als sie unter Osha hart aufs Deck prallte. Er rollte zur Seite, und sie klammerte sich an ihm fest, bis sie beide liegen blieben.

Die Feuersäule war die zweite Masthälfte – sie fiel dort auf die Seitenwand, wo sie eben noch gestanden hatte.

Osha kam auf die Knie und stieß mit seinem Stilett zu. Wynn zuckte zusammen, als die Klinge den Kragen des Mantels durchtrennte. Osha riss ihn ab, wodurch die junge Weise fast auf den Bauch geworfen wurde. Dann ergriff er sie am Arm, zog sie hoch und sah sich um.

Die Besatzungsmitglieder versuchten inzwischen nicht mehr, die Feuer zu löschen. Ein gellender Schrei übertönte das Fauchen der Flammen: »Léshil!«

Wynn beobachtete, wie Leesil neben der Frachtluke hockte, von Flammen umgeben, und Magiere versuchte ihn zu erreichen. Ihre Augen waren ganz schwarz, und Tränen rannen über die Wangen ihres fratzenhaften Gesichts. Überall um Leesil herum loderte es – es brannte auf dem Vorschiff und auf dem Deck; selbst die Seitenwand stand in Flammen. Er duckte sich tief und hob den einen Arm vor die Augen.

Wynn lief zu Magiere und suchte nach einer Möglichkeit, Leesil zu erreichen. Dann verlor sie erneut den Boden unter den Füßen.

Osha hatte ihr den Arm um die Taille geschlungen und zog sie zurück.

»Lass mich runter!«, rief Wynn. »Leesil sieht nichts. Er braucht unsere Hilfe!«

»Bith-na!«, rief Osha und drückte sie zwischen Achterschiff und Seitenwand in eine Ecke.

Osha hatte Nein gesagt, aber was meinte er damit? Wynn zappelte.

Wieder erschien rotgelbes Licht über dem Schiff und wurde heller. Das brennende Hauptsegel löste sich aus der Takelage und fiel.

»Magiere, sieh nach oben! Zurück!«, rief Wynn und erstickte fast an den eigenen Worten.

Frachtraum. Jetzt sofort!

Chaps Worte erschienen in Wynns Gedanken.

Er lief vom Vorschiff zur anderen Seitenwand. Das rote und gelbe Licht der Flammen strich ihm übers silbergraue Fell.

Wynn zappelte erneut und versuchte, sich aus Oshas Griff zu befreien. »Komm mit! Nach unten. Chap will, dass wir den Frachtraum aufsuchen.«

Osha ließ sie los und schüttelte den Kopf. Wynn ergriff seine Hand, zog ihn mit sich und blieb an der Treppenluke stehen.

»Magiere, komm! Wir müssen in den Frachtraum!«

Aber entweder hörte Magiere sie nicht, oder sie wollte das Deck nicht verlassen. Das brennende Hauptsegel flatterte im Wind und wirkte wie ein lebendes Etwas, das sich anschickte, Magiere zu packen.

Magiere schrie wie ein Tier und streckte die Hand Leesil entgegen, mitten durchs Feuer. Rauch stieg vom Handschuh auf, und ihre Hand zuckte zurück. Sie öffnete sich ganz ihrer Dhampir-Natur und schloss die Augen, um vom flackernden Licht der Flammen nicht geblendet zu werden. Dann trat sie ins Feuer.

Hitze versengte sofort ihr Gesicht und ihre Hände, und Magiere sprang zurück.

Wynns Stimme übertönte kurz das Donnern des Feuers – sie rief etwas, und dabei schien es um den Frachtraum zu gehen –, aber Magieres Blick blieb auf Leesil gerichtet, dessen Gestalt sich undeutlich hinter den Flammen abzeichnete.

Eine zweite verschwommene Gestalt näherte sich ihm von der anderen Seite und lief über die Seitenwand.

Chap sprang durch die Flammen.

Seine Vorderpfoten stießen gegen Leesils Schulter. Beide fielen auf die brennende Frachtluke, die unter ihrem Gewicht nachgab.

Flammen umloderten Magiere, und sie schrie.

Leesil war verschwunden und Chap mit ihm.

Noch mehr Feuer senkte sich auf Magiere herab.

Aus dem Augenwinkel sah sie die Ecke des brennenden Hauptsegels herabkommen. Sie warf sich nach hinten, als mittschiffs plötzlich alles in Flammen stand.

Auf allen vieren kroch Magiere übers Deck, stieß einen Matrosen beiseite und näherte sich der Luke des Frachtraums. Ein graugrüner Mantel verschwand die Treppe hinunter, und sie folgte ihm, fiel dabei fast über die erste Stufe.

Osha drehte sich mit weit aufgerissenen Augen um, und unten stand Wynn auf der letzten Stufe.

»Chap sagte, dass wir den Frachtraum aufsuchen müssen!«, rief sie.

Magiere verstand.

»Nein!«, erwiderte sie. »Verlass das Schiff! Ich kümmere mich um Leesil und Chap.«

Wynn öffnete den Mund und wollte widersprechen.

»Bring sie weg!«, forderte Magiere Osha auf.

Sie stieß ihn an die Wand, packte Wynn an der Schulter und warf sie fast dem jungen Elfen in die Arme. Sie wartete nicht ab, um zu sehen, ob Osha ihrer Aufforderung nachkam, lief sofort durch den Gang weiter.

Vor der Tür am Ende wurde Magiere nicht einmal langsamer. Mit voller Geschwindigkeit prallte sie dagegen, und die Tür wurde aus den Angeln gerissen.

»Leesil!«

Sie watete durch kniehohes Wasser. Auf der anderen Seite wies der Rumpf ein Loch auf, durch das Meerwasser hereinströmte.

Plötzlich hörte Magiere ein Platschen, das nicht von ihr stammte.

Leesil durchbrach die Wasseroberfläche und richtete sich auf. Chap schwamm ihm entgegen.

Magiere setzte mühsam einen Fuß vor den anderen. Sie atmete zu schnell und brachte kein einziges Wort hervor, als sie Leesil besorgt nach Verletzungen absuchte.

Sein rußverschmiertes Gesicht war voller Erleichterung darüber, sie zu sehen. Er hielt noch immer eine seiner Klingen in der Hand und streckte ihr die andere Hand entgegen.

»Es ist alles in Ordnung mit mir«, sagte er und senkte den Blick. »Deine Hände!«

Magieres Handschuhe waren verbrannt. Sie hatte es überhaupt nicht bemerkt.

Das flackernde Licht des Feuers fiel von oben durch die offene Luke, und einige Flammen fraßen sich weiter über die Decke.

»Wir müssen hier raus«, sagte Magiere.

»Ohne unsere Ausrüstung können wir an Land nicht überleben«, erwiderte Leesil und hielt auf die aufgebrochene Tür zu.

Magiere hätte Leesil am liebsten gepackt und ihn sich über die Schulter geworfen, um mit ihm zu fliehen. Aber sie wusste, dass er recht hatte. Zusammen mit ihm und Chap watete Magiere durchs Wasser in den Gang.

Sie eilten zu ihrem Quartier und nahmen dort, was sie finden konnten – zuerst die Waffen. Leesil nahm ihre Mäntel, hielt kurz inne und schnappte nach Luft. Er griff nach seinen neuen Klingen, aber Magieres Dolch fehlte – Sgäile hatte ihn noch nicht zurückgebracht.

»Das muss genügen!« Magiere riss ihn zur Tür.

Sie kehrten zur Treppe zurück und begegneten dort einem Elfen, den sie nie zuvor gesehen hatten. Er trug einen schlichten Umhang und nichts an den Füßen. In den Händen hielt er eine lange, glatte und runde Wurzel, die recht schwer zu sein schien.

Magiere erstarrte. Das lange, zerfaserte Ende der Wurzel bewegte sich wie der Schweif des Schiffes, dessen Anblick Wynn zunächst so erschreckt hatte.

Der Elf blieb stehen, als er Magiere sah, bückte sich dann und setzte die schwere Wurzel ab. Er richtete einen strengen Blick auf Magiere und Leesil und sagte etwas auf Elfisch. Es klang nach einer Frage.

Magiere konnte nur noch mit dem Kopf schütteln und deutete hinüber zur Treppe.

»Wir müssen das Schiff verlassen«, sagte sie. »Du solltest ebenfalls von Bord gehen.«

Sie wusste nicht, ob er verstand.

Er senkte den Kopf, murmelte etwas auf Elfisch, griff nach hinten und warf Magiere etwas zu. Der lange Dolch aus dem silberweißen Metall fiel vor ihr ins seichte Wasser.

Sie griff danach. Das Heft war jetzt dick und in Leder gehüllt. Als Magiere aufsah, war der Elf verschwunden; oben an der Treppe sah sie kurz noch den Schweif der großen Wurzel.

»Steck den Dolch ein und komm!«, knurrte Leesil.

Magiere schob die Klinge in ihren Gürtel. Rasch brachten sie die Treppe hinter sich und traten aufs brennende Deck.

Das Hauptsegel war inzwischen ganz heruntergefallen, und Flammen verschlangen es. Magiere sah sich nach dem großen Elfen um, der ihr den Dolch zugeworfen hatte.

Er stand beim Achterschiff an der seewärtigen Seitenwand – nur dort versperrte kein Feuer den Weg über Bord. Das große Wurzelholz trug er inzwischen nicht mehr.

»Geh zu einem Ruderboot!«, rief Magiere ihm zu.

Er drehte sich nicht einmal um. Der große Elf mit den nackten Füßen stand einfach nur da. Magiere hörte nicht nur das Knistern der Flammen und das Knacken von brechendem Holz, sondern auch ein dumpfes Brummen, wie ein Gesang ohne Worte. Der Elf drehte langsam den Kopf und schien etwas zu beobachten, das sich im offenen Wasser bewegte.

Das Deck unter Magiere knirschte.

Chap bellte und lief zur Seitenwand auf der Küstenseite.

Es blieb Magiere nichts anderes übrig, als ihm zu folgen.

Sgäiles Arme wurden im kalten Wasser schwer, und Verzweiflung erfasste ihn.

Wo war die Frau?

Er schwamm in die Richtung, aus der das ylladonische Schiff gekommen war, und hielt immer wieder Ausschau, fand jedoch nichts. Inzwischen waren beide Schiffe an ihm vorbeigeglitten.

Dann sah er etwas dicht unter der Oberfläche. Etwas Helles, das kein Seetang und auch kein Trümmerstück sein konnte. Es sank und verschwand.

Sgäile schwamm schneller und tauchte, als er die betreffende Stelle erreichte.

Unter der Oberfläche war das Wasser so dunkel, dass er nichts sah und um sich tasten musste. Seine Hand fand etwas Raues und Dünnes – ein Seil. Er griff danach, wickelte es sich um Hand und Handgelenk und kehrte an die Oberfläche zurück.

Er zog an dem Seil, noch bevor er Luft holte. Zweimal sank er unter die Wasseroberfläche und zog das Seil Hand über Hand, bis er weiche, kalte Finger berührte. Sgäile hielt sie fest, trat Wasser und kam wieder nach oben.

Neben ihm erschien die Frau und keuchte voller Panik.

»Schwimm«, brachte Sgäile hervor. »Beruhig dich.«

Er hielt die eine Hand unter ihrem Rücken, als eine weitere Welle sie beide anhob. Die Frau drehte sich und blinzelte Meerwasser aus ihren Augen, damit sie ihn sehen konnte.

»Schwester«, sagte sie undeutlich. »Meine Schwester … ist an Bord des Schiffes.«

Sgäile erstarrte innerlich.

Eine weitere Elfin befand sich an Bord des ylladonischen Schiffes? Er hielt die Frau mit der einen Hand an der Wasseroberfläche, als er den Kopf drehte und zurücksah. Das Elfenschiff, der Päirvänean, brannte lichterloh.

Inzwischen hatte der Hkomas sicher alle Besatzungsmitglieder in die Ruderboote geschickt. Auch das ylladonische Schiff war beschädigt und stark zur Seite geneigt. Und es war zu weit entfernt – wie sollte Sgäile versuchen, die Schwester der Frau zu retten?

Ein donnerndes Krachen hallte übers Meer.

Das ylladonische Schiff erbebte, und sein Heck drehte sich plötzlich zum offenen Meer.

»Nein …«, stöhnte Sgäile.

Wieder krachte es. Der Bug des ylladonischen Schiffes neigte sich abrupt nach unten und kam nicht wieder nach oben – das Schiff sank.

Der Hkæda hatte seine Shävâlean eingesetzt, die »Schwimmer«. Sie würden den Ylladoner so lange rammen, bis er sank oder bis sie zu erschöpft waren, um ihre Angriffe fortzusetzen.

Sgäile wandte den Blick ab, als die Frau den Hals reckte.

»Sieh nicht hin«, sagte er.

Mit einem Stilett durchtrennte er das Seil und schwamm mit der Frau in Richtung Ufer. Vom sinkenden ylladonischen Schiff kam ein weiteres donnerndes Pochen.

Sgäile konnte nur noch versuchen, an Land zu gelangen.

Chane beobachtete hilflos, wie mit Öl gefüllte Glaskugeln auf dem Elfenschiff zerbrachen und Flammen übers Deck loderten

»Wynn«, flüsterte er.

Er lief los, fest entschlossen, die Matrosen zu töten, die die Kugeln geworfen hatten.

»Halt!«, rief Welstiel.

Mit dem Schwert in der Hand drehte sich Chane um.

Sabel folgte Welstiel zusammen mit den anderen neuen Untoten, in ihren Armen Planen, Seile und Rucksäcke.

»Du hast gesagt, dass ihnen Zeit genug bleiben würde, das Schiff zu verlassen!«, krächzte Chane mit rauer Kehle.

Welstiel setzte zu einer zornigen Antwort an, aber Chane hörte nur das Krachen von berstendem Holz.

Das ylladonische Schiff erbebte, und Meerwasser spritzte über die Reling. Welstiel hielt sich am Mast fest und sah sich um, als eine heftige Erschütterung die meisten seiner Diener von den Beinen warf.

»Nimm ihr die Rucksäcke und den anderen Kram ab«, sagte Welstiel und deutete auf Sabel. »Binde dir die Planen auf den Rücken.«

Chane starrte ihn an und rührte sich nicht.

»Wir müssen so weit wie möglich nach Norden schwimmen, bevor wir an Land gehen«, schnauzte Welstiel. »Wir können nicht riskieren, von Magiere oder dem Hund bemerkt zu werden.«

»Schwimmen?«

»In einem Ruderboot wären wir zu leicht zu sehen«, sagte Welstiel. Er wandte sich an Sabel und die anderen. »Bringt alle Seeleute um und folgt uns dann.«

Wieder krachte es, und das Schiff kippte zur Seite. Der Bug neigte sich nach unten.

Chane griff nach der Reling, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Die neuen Untoten versuchten, sich irgendwo festzuhalten – diesmal zeigten sie kaum Interesse daran, über die noch lebenden Besatzungsmitglieder herzufallen. Auch Chane dachte nur noch ans eigene Überleben.

»Wir müssen das Schiff verlassen, wir alle!«, zischte er. »Eventuell überlebende Matrosen lassen sich bestimmt nicht von den Elfen erwischen. Du brauchst nicht zu befürchten, dass uns jemand verrät.«

Chane wankte übers schiefe Deck und nahm Sabels Bündel. Er wickelte die wertvollen Texte aus der Bibliothek des Klosters hinein, schlang sich dann die Trageriemen um die Schultern.

Welstiel antwortete nicht und nahm seinen Rucksack mit den arkanen Objekten. »Kommt!«, rief er den ehemaligen Mönchen zu und sprang, ohne zu zögern, über die Reling.

Noch einmal krachte es. Chane hielt sich an der Reling fest und wartete das Ende der Erschütterungen ab, bevor er ebenfalls von Bord sprang.

Er sah das brennende Elfenschiff, und vor seinem inneren Auge erschien ein Bild, das ihm Wynns ovales olivfarbenes Gesicht zeigte. Dann sank er unter die Oberfläche des kalten, dunklen Wassers.

»Sgäile!«, rief Leesil vorn im Ruderboot. Er hielt Ausschau, und Osha hockte neben ihm.

Magiere und Chap saßen hinten, zusammen mit Wynn, die nun in einen Mantel gehüllt war, während zwei Elfen ruderten. Mindestens zwei weitere Ruderboote waren zum Ufer unterwegs, aber dieses nicht. Sie waren nach Süden unterwegs, parallel zur Küste, in die Richtung, aus der die Ylladoner gekommen waren.

»Er muss irgendwo dort draußen sein«, sagte Leesil gepresst. »Eine Nervensäge wie er kann unmöglich tot sein.«

»Ja, wir finden ihn«, bekräftigte Osha.

Aber der junge Elf wirkte dabei nicht sehr überzeugt.

Chap bellte, und Leesils Hände schlossen sich fester um den Bug, als das Ruderboot einen weiteren Wellenkamm erklomm.

»Da!«, rief Wynn.

Sie deutete über Chap hinweg, der eine Vorderpfote auf den Rand des Bootes gelegt hatte. Etwas Helles erschien kurz im Wasser.

»Sgäile!«, rief Leesil erneut und sah zu Osha. »Die Elfen sollen in jene Richtung rudern!«

Bevor Osha diese Anweisungen ganz weitergegeben hatte, zeigte sich erneut etwas im Wasser.

Sgäile schwamm auf der Seite und zog die Elfenfrau hinter sich her. Er war erschöpft und blass. Das nasse Haar klebte ihm im Gesicht.

»Hier!«, rief Leesil. »Bring uns näher heran, Osha!«

Sgäile hob den Kopf. Als er das Ruderboot sah, verdoppelte er seine Anstrengungen.

Osha wandte sich auf Elfisch an die beiden Ruderer.

»Wir holen die Frau an Bord!«, rief Magiere von hinten. »Kümmert ihr euch um Sgäile.«

Die beiden Ruderer drehten das Boot, als es eine weitere Welle hinter sich brachte, hoben dann die Ruder. Mit zwei schnellen Schwimmzügen war Sgäile heran.

Magiere beugte sich über den Rand und griff nach der Frau, die sich kaum rührte und nicht aus eigener Kraft an Bord kommen konnte. Einer der beiden Ruderer half ihr, die Elfin ins Boot zu ziehen.

Leesil ergriff Sgäiles Arm und half ihm an Bord. Erschöpft sank er in die Mitte des Bootes und blieb dort liegen.

»Decken, Mäntel!«, rief Leesil. »Ich brauche etwas Warmes für ihn!«

Osha streifte seinen Mantel ab und legte ihn über Sgäile, während Magiere in den Rucksäcken suchte. Sie warf Leesil seinen Mantel zu und legte ihren eigenen auf die Frau.

»Nein«, sagte Magiere, als Wynn ihren Mantel ausziehen wollte. »Darunter trägst du nur dein Unterhemd.«

Die beiden Elfen machten sich daran, das Boot in Richtung Ufer zu rudern.

Leesil befreite Sgäile von seinem nassen Umhang und hüllte ihn in den Mantel. Sgäile kroch in den Bug, zitterte noch immer an ganzen Leib und stieß einige scharf klingende elfische Worte zwischen klappernden Zähnen hervor.

Osha starrte ihn sprachlos an. Die Worte verstand Leesil nicht, aber der Ton vermittelte eine unmissverständliche Botschaft.

»Es ist nicht Oshas Schuld!«, rief Wynn. »Und er hat uns beschützt!«

»Ja«, sagte Osha mit Nachdruck. »Wir haben dich gefunden … Jeóin.«

»Mach ihm keine Vorwürfe!«, schnauzte Leesil und richtete einen finsteren Blick auf Sgäile. »Du bist der Idiot gewesen, der während eines Angriffs über Bord gesprungen ist. Und er war nicht der Einzige, der beschlossen hat, nach deiner nassen Leiche zu suchen.«

Sgäile versuchte sich aufzusetzen. Er sah Magiere an und musterte sie, schien in ihrem Gesicht nach etwas zu suchen. Dann sank er erschöpft zurück.

Leesil setzte sich neben Osha und schüttelte den Kopf. Für einen Moment hatte er mit dem Gedanken gespielt, Sgäile wieder über Bord zu werfen.

Nur für einen Moment.

Wynn drängte sich mit Magiere und Chap im Heck des Bootes zusammen. Das Donnern und Krachen hinter ihnen hatte aufgehört, und das ylladonische Schiff war gesunken. Das der Elfen stand in Flammen.

Die junge Weise hob die Hände vors Gesicht und versuchte, nicht zu weinen.

Als sie sie wieder sinken ließ, blickten die anderen angespannt an ihr vorbei. Wynn hörte das laute Zischen von Wasser, das auf Feuer traf, aber sie drehte sich nicht um.

Die Elfin lag zu ihren Füßen. Sie keuchte und hustete immer wieder, sah aber so aus, als würde sie überleben. Die Frau rollte sich auf der Seite zusammen, schloss die Augen und schluchzte leise. Die Tränen vermischten sich mit dem Salzwasser in ihrem langen, dreieckigen Gesicht.

Während des restlichen Wegs zum Ufer sprach niemand.

Als die beiden Elfen die Ruder ins Boot zogen und an Land sprangen, bemerkte Wynn drei andere Ruderboote am Strand. Fackeln waren entzündet worden und steckten im Boden. Leesil und Osha sprangen ebenfalls an Land und ließen sich von herbeieilenden Elfen dabei helfen, das Ruderboot ganz auf den Strand zu ziehen.

Einer der anderen Elfen verneigte sich andeutungsweise, als Sgäile aus dem Boot kletterte, und Osha half ihm, eine trockene Stelle an Land zu finden.

Wynn begann damit, die Überlebenden zu zählen. Hinter dem Hkomas stand die junge Frau mit dem dicken Zopf und den zu großen Stiefeln, die offenbar die persönliche Bedienstete des Elfenkapitäns war.

»Sgäilsheilleache …«, sagte der Hkomas und sprach nicht weiter.

Er dankte Sgäile nicht und verzichtete auch darauf, seinen Mut zu loben. Anmaglâhk erwarteten keinen Dank, wie Wynn inzwischen wusste.

In der Ferne spiegelte sich der Feuerschein des brennenden Elfenschiffes auf dem Wasser wider. Die Flammen wurden kleiner, und es dauerte nicht lange, bis sie ganz verschwanden – das Schiff war gesunken. Wynn spürte, wie sich die Stimmung am Ufer veränderte. Aus Erleichterung wurde Trauer.

»Mögen deine Ahnen dich in Empfang nehmen und über dich wachen«, flüsterte der Hkomas und blickte über das wieder dunkel gewordene Meer.

Wynn fühlte sich hilflos und wiederholte den Nachruf für des lebende Schiff.

Das Gesicht des Hkomas verfinsterte sich, als er den Blick auf Magiere richtete.

»Wer sind die Fremden?«, fragte er. »Selbst Ylladoner greifen nicht so tollkühn an und setzen ihr eigenes Leben aufs Spiel, um das eines Päirvänean auszulöschen.«

Magiere verstand sein Elfisch nicht, aber sie hielt seinem Blick stand. Sgäile kam auf die Beine und schwankte, als er zwischen sie trat.

»Sie weiß nicht mehr als wir«, sagte er.

»Ich habe sie an Deck gesehen!«, knurrte der Hkomas. »Sie hat etwas gespürt, bevor es losging. Ebenso der Majay-hì.«

»Eine Debatte darüber nützt uns jetzt nichts mehr«, erwiderte Sgäile. »Hast du einen Notruf senden können?«

Der misstrauische Blick des Hkomas blieb auf Magiere gerichtet. »Ja. Ich habe ein Schwesterschiff meines Clans erreicht. Es ist knapp zwei Tage von Ghoivne Ajhâjhe entfernt – weit im Norden.«

Sgäile nickte mit ein wenig Erleichterung. »Es wird die Nachricht im nächsten Hafen weitergeben und ein näheres Schiff verständigen. Unser Volk wird kommen.«

Bei diesen Worten trat die junge Bedienstete hinter dem Hkomas vom einen Bein aufs andere und sah nach Norden.

Osha näherte sich und wandte sich an den Hkomas. »Wir müssen die Ruderboote verstecken, diesen Strand verlassen und uns um die Verletzten kümmern. Alles andere kann bis morgen früh warten.«

Alle schwiegen, als sie diesen ruhigen, vernünftigen Rat hörten, und schließlich nickte der Hkomas. Magiere und Leesil hatten schweigend zugehört, und Wynn bedauerte plötzlich, nicht für sie übersetzt zu haben.

»Ich erkläre es euch später«, sagte sie. »Osha möchte die Boote vom Strand bringen und das Lager weiter landeinwärts aufschlagen.«

Leesil sah übers Wasser. »Er hat recht. Wir sollten besser von hier verschwinden – falls einige der Angreifer überlebt und es an Land geschafft haben.«

Chane erinnerte sich wieder daran, wie man schwamm. Als Junge hatte ihm sein Vater das Schwimmen beigebracht, wenn man es so nennen konnte. Er hatte ihn in einen kalten See geworfen, mit einem Seil an der Hüfte, damit er nicht ertrank.

Hinter Welstiel schwamm er nach Norden, hoffentlich weit genug, damit man sie nicht sah, wenn sie das Ufer erreichten, und damit Magiere und Chap sie nicht wahrnahmen. Mit dem Mantel und all dem Gepäck kam er nur schwer voran, doch weder die Kälte noch der Mangel an Luft machten ihm Sorgen. Zuerst hielt er den Atem an wie zu seinen Lebzeiten. Als er schließlich aus einem Reflex heraus nach Luft schnappte, drang ihm Wasser in die Lunge, wodurch er in Panik geriet. Aber es war nur ein unangenehmes Gefühl, ungefährlich für einen Toten.

Schließlich geriet der Meeresgrund in Sicht.

Chane ließ sich von Welstiel den Weg weisen, als sie sich über den Meeresgrund zogen, und schließlich kehrten sie inmitten der Brandung an die Wasseroberfläche zurück. Chanes nasser Mantel wurde zu einem schweren Gewicht. Auf halbem Wege den kiesigen Strand hinauf blieb er stehen, beugte sich vor und spie Salzwasser aus seiner toten Lunge. Als er damit fertig war, das Gepäck beiseitelegte und den Mantel auszog, kamen die neuen Untoten aus dem Meer.

Ein bleiches Gesicht nach dem anderen hob sich aus dem dunklen Wasser, und die ehemaligen Mönche stapften an Land. Sabel war noch vor Chane über Bord gegangen, aber sie kam als Letzte, direkt hinter Jakeb.

Chane schüttelte Meerwasser vom Kopf und den Händen, richtete den Blick dann nach Süden.

»Sind wir weit genug entfernt?«, fragte er. »Kann sie uns hier spüren?«

Welstiel sah am Ufer entlang. »Wir sind hier vor Entdeckung geschützt. Wenn Magiere überlebt hat.«

Er klang alles andere als sicher, was Chane zunächst eine gewisse Zufriedenheit bescherte. Wenn Magiere tot war, würde Welstiel leiden und vielleicht nie seinen verborgenen Schatz finden. Diese Vorstellung bereitete Chane Genugtuung, aber diesmal löste sich die Zufriedenheit schnell auf.

Wenn Magiere nicht überlebt hatte … Welche Überlebenschancen konnte Wynn dann haben?

»Überprüf es!«, zischte Chane. »Hol den verdammten Teller hervor!«

Welstiel warf ihm einen kurzen Blick zu. »Genau das hatte ich vor.«

Er ging in die Hocke, öffnete den nassen Rucksack und zog den Messingteller daraus hervor. Er schüttelte ihn einige Male, damit sich daran haftende Wassertropfen lösten, zog dann seinen Dolch. Chane konnte nicht sehen, was er machte, denn Welstiel wandte ihm den Rücken zu und begann mit einem leisen Singsang.

Kurze Zeit später hob Welstiel den Kopf und sah nach Süden.

»Magiere lebt. Und sie ist nicht weit entfernt.«

Bei diesen Worten spürte Chane ein Brennen tief in seinem Innern.

»Aber das sagt nichts über deine kleine Weise aus«, fügte Welstiel hinzu.

Chane konnte nicht losgehen und nachsehen – damit hätte er riskiert, entdeckt und gejagt zu werden. Ohne Welstiels Schutz beziehungsweise den des Rings wäre das sehr töricht gewesen. Und es hätte noch schlimmer kommen können, wenn die neuen Untoten ihm gefolgt oder entdeckt worden wären. Diese Geschöpfe wollte er auf keinen Fall in Wynns Nähe wissen – wenn sie überlebt hatte.

Die Morgendämmerung war noch eine halbe Nacht entfernt, aber sie beschlossen, die Reise nicht fortzusetzen. Die Sterblichen schliefen sicher, und am Abend des kommenden Tages würde Welstiel feststellen, welche Richtung Magiere eingeschlagen hatte.

»Ich suche uns einen Lagerplatz«, krächzte Chane und stapfte in den Wald jenseits des Strands.