Phantome
Sie fingen Margaret Bain ab, als sie zu ihrem Schichtbeginn auf den Haupteingang des Krankenhauses zuging. Jasmine kam sich wie eine Journalistin vor, die eine ahnungslose Frau auf dem Weg zur Arbeit überfiel, und genau für so eine hatte sie sich ja bei den Bains zu Hause ausgegeben. Jasmine nahm nicht an, dass ihr Mann sie aufgeklärt hatte, wer sie und Fallan wirklich waren und was sie gewollt hatten.
Sie mussten noch ein bisschen warten. Margaret schaute misstrauisch, als die beiden sich näherten, und überlegte kurz, woher sie sie kannte.
»Ich darf nicht mit Journalisten sprechen«, sagte sie. »Wenden Sie sich bitte an die Krankenhausleitung.«
Jasmine wusste nicht, ob das stimmte, aber sie waren auch nicht da, um Mrs Bain in ihrer Eigenschaft als Krankenhausangestellte zu befragen, was sie wahrscheinlich selbst ahnte.
»Wir sind keine Journalisten«, erklärte Jasmine. »Wir sind Privatdetektive. Kollegen von Jim Sharp. Wir wissen, dass Sie mit ihm gesprochen haben.«
Margaret Bain sah plötzlich besorgt aus wie jemand, dessen Ängste sich gerade bestätigt hatten.
»Und in der Zwischenzeit ist er verschwunden«, fügte Fallan hinzu.
»Ich hab in zwei Minuten Schicht. Ich kann jetzt nicht.«
»Wir warten auf Ihre Pause«, sagte Fallan in einem Ton, der ihr zu verstehen gab, dass sie auch noch dort sein würden, wenn sie sich bis Mitternacht drinnen versteckte. »Es geht um das Baby der Ramsays.«
Ihr Mund öffnete sich ein bisschen, aber sie sagte nichts. Mit einer verzweifelten Geste beendete sie das Gespräch und stürmte hinein, Richtung Entbindungsstation.
»Dann sind wir wohl ’ne Zeit lang hier«, sagte Jasmine, als Margaret am Ende eines hell erleuchteten Flurs verschwunden war.
Fallan schüttelte den Kopf.
»In der ersten Pause ist sie hier. Die kann’s gar nicht abwarten, sich das alles von der Seele zu reden. Sie hat schreckliche Gewissensbisse, deshalb hat sie auch mit Jim gesprochen.«
Jasmine war ein bisschen Warten ganz recht, nachdem sie fast den ganzen letzten Tag mit augenstrapazierenden Such-den-Unterschied-Spielen in Infrarot zugebracht hatten. Dafür hatten sie jetzt eine Liste möglicher Stellen, von denen natürlich auch manche Schafe oder Kühe darstellen konnten.
Fallan hatte recht. Nach zwei Stunden kam Margaret Bain mit ernstem, besorgtem Gesicht zurück und wollte mit ihnen nach draußen, eine rauchen. Sie gingen ein paar Schritte weit an den Rand des Parkplatzes außer Hörweite der anderen Raucher in ihren Krankenhemden, die teilweise einen Tropf hinter sich herzogen.
»Ich wusste es nicht«, sagte sie als Erstes, nachdem sie ein paarmal an ihrer Entspannungs-Zigarette gezogen hatte, weil sie ahnte, dass es gleich unangenehm werden würde. »Das müssen Sie mir glauben, ich wusste wirklich nicht Bescheid.«
Jasmine wollte ihr versichern, dass sie sich kein Urteil erlauben wollten, erinnerte sich aber an das, was Fallan ihr beim Warten erklärt hatte.
»Lassen Sie sie reden. Füllen Sie keine peinlichen Pausen. Trösten Sie sie nicht. Das kann nur die Wahrheit.«
»Ich wusste ja gar nicht, dass es überhaupt etwas zu wissen gab, bevor Mr Sharp zu uns kam«, setzte sie fort. »Ich habe gehört, wie er sich mit Willie gestritten hat, ihm vorgeworfen hat, er hätte gelogen, dass er vor all den Jahren die Leute an der Raststätte Bothwell gesehen hatte. Ich weiß ja, dass Willie nicht unbedingt immer mit allem ganz ehrlich war, aber da hab ich zum ersten Mal gehört, dass er bei der Sache gelogen haben könnte. Ich hab die beiden Sachen damals auch nie miteinander in Verbindung gebracht und im Laufe der Jahre schon gar nicht.«
Wieder zog sie an der Zigarette und atmete mit einem langgezogenen Seufzen aus.
»Willie und ich waren damals noch nicht verheiratet. Wir waren verlobt, haben aber noch nicht zusammen gewohnt. Ich wusste nicht mal, dass Willie der Zeuge war, bevor Jahre später eine Zeitung etwas darüber gebracht hat. Mir hatte er nie was davon erzählt. Niemandem eigentlich – in Willies Kreisen war es einfach nicht schlau, es an die große Glocke zu hängen, wenn man mit der Polizei geredet hat, wissen Sie?«
Jasmine nickte stumm.
»Es war wohl Sonntag, der Tag nachdem Willie die Leute angeblich gesehen hatte; aber da hatte er sich noch nicht bei der Polizei gemeldet und mir natürlich auch nichts gesagt. Zur Polizei ist er ein paar Tage später gegangen und hat behauptet, ein Zeitungsartikel hätte seinem Gedächtnis auf die Sprünge geholfen. An dem Sonntag hat er mich aber um einen Gefallen gebeten.«
Sie schaute in die Ferne nach Westen in die hügelige Landschaft, als sähe sie dort den Pfad, den sie gewählt hatte, und wünschte sich, ihn ändern zu können.
»Okay, ich war damals auch nicht der ehrlichste Mensch, den’s gab«, gab sie zu. »Es war ja nur Urkundenfälschung, mehr nicht. Ich hatte das schon ein paarmal gemacht und mir jedes Mal geschworen, dass es das letzte Mal war. Ich hatte schreckliche Angst, erwischt zu werden, aber das Geld kann man ja immer gebrauchen, oder? Und überhaupt, ich hab mir gedacht – es tut doch keinem weh. Ein Verbrechen ohne Opfer. Hab ich mir zumindest eingeredet.
Willie hat mich gebeten, eine Geburt einzutragen. Heute läuft das alles über Computer, aber damals brauchte man nur die Krankenhauskarte der Eltern, die die Entbindungsstation ausstellte, und einen Eintrag in der offiziellen Liste des Krankenhauses, die an das Standesamt weitergeleitet wurde.
An dem Sonntag hat Willie gesagt, ich soll eine Elternkarte besorgen und einen Eintrag in die Geburtenliste schreiben. Ich wollte erst nicht, aber das Geld war zu gut. Zweitausend Pfund, ein Vermögen. Wir wollten heiraten, uns die Hochzeit und Flitterwochen zusammensparen und dann zusammenziehen.
Ich dachte, es wäre wie immer – jemand brauchte eine falsche Identität. Vorher hatte Willie so eine immer als Komplettpaket verkauft. Mir hat er gesagt, es wäre wieder das Gleiche. Wenn man eine falsche Geburt registriert hat, kann man mit so einer Phantomidentität nämlich alles Mögliche anstellen: Kindergeld beantragen, sich einen Pass ausstellen lassen, was weiß ich alles. Ich hab nie gefragt.«
Wieder zog sie an der Zigarette und wieder schaute sie nach Renfrewshire, als wäre es das Land vergangener Sünden.
»Ich hab gerade gesagt, ich dachte, es wäre das Gleiche wie immer, aber ich wollt’s mir nur einreden. Dafür gab’s keine zweitausend. Das war mehr als sonst, aber ich hab nicht nachgefragt. Hab mich nur darum gekümmert, dass es klappt, ohne dass ich erwischt werde. Ich bin nie drauf gekommen, dass es irgendwie um ein echtes Baby gehen könnte. Nicht bevor Ihr Kollege Mr Sharp zu uns kam.«
»Sie haben ihn angerufen, oder?«, fragte Jasmine. »Das stand in der Anrufliste. Haben Sie ihm das Gleiche erzählt wie uns?«
Sie nickte.
»Mittwoch vor einer Woche. Er hat mich auf der Arbeit besucht, wie Sie auch. Wollte wohl ohne Willie mit mir reden.«
»Was haben Sie ihm noch erzählt?«, fragte Fallan. »Konnten Sie ihm einen Namen sagen?«
»Nein. Ich kann mich nicht mehr erinnern. Ein Junge, das weiß ich noch. Kein Vorname. Den braucht man für die Krankenhauskarte nicht – nur die Namen der Eltern. Falls die sich noch nicht sicher waren.«
»Sie wissen den Namen nicht mehr?«, fragte Fallan skeptisch. »Sie haben doch selber gesagt, es war nicht wie immer. Sie haben zweitausend Pfund gekriegt.«
Sie schämte sich sichtlich und schien den Tränen nah.
»Das ist schon fast dreißig Jahre her. Und ich hatte es vorher nicht nur ein, zwei Mal getan.« Sie verzog das Gesicht, verstört und bedrückt von der Erinnerung. »Es gab viele Namen – ich hab’s im Laufe der Jahre sechs, vielleicht sieben Mal gemacht. Ich weiß nicht mehr. Tut mir leid. Ich kann Ihnen aber dasselbe sagen wie Mr Sharp. Sie können sich auf dem Standesamt die männlichen Geburten dieses Datums ansehen. Aber nicht von diesem Krankenhaus«, fügte sie hinzu. »Damals war ich am Victoria.«