Zufluchtsort

Jasmine war schrecklich dankbar für das Navigationsprogramm, das Jim ihr unbedingt auf dem Handy hatte installieren wollen, denn ihre Kenntnis der Glasgower Topografie war außerhalb ihrer Komfortzonen West End und South Side bestenfalls vage. Verständlicherweise kannte sie sich in Northumberland überhaupt nicht aus, und sie bezweifelte stark, dass sie das Haus nur mithilfe einer Karte gefunden hätte. Selbst mit dem Navi war sie zweimal daran vorbeigefahren, weil sie der Software nicht einfach blind vertrauen wollte.

Die Adresse lautete 14 Hexham Road, Tolheaton. Der Dorf- oder Ortskern sollte noch gut drei Kilometer entfernt sein. Sie hörte auf das Gerät, wendete, aber wollte dem blinkenden Punkt nicht glauben, der sich mitten auf einem Feld nördlich der Straße befand. Als sie zum dritten Mal vorbeifuhr, sah sie zwischen den wuchernden Hecken unter hohen Bäumen das schmale Tor, kaum breiter als ein einzelnes Auto. Am verwitterten rechten Torpfosten hing tatsächlich eine rostige Vierzehn. Nummer zwölf war wohl nicht unbedingt ein direkter Nachbar in Tasse-Zucker-leih-Entfernung.

Vor dem Aussteigen schaltete sie den Warnblinker an und schaute in den Spiegel. Sie stand auf einer schmalen, kleinen Landstraße und hatte lange kein anderes Auto mehr gesehen, aber das Tor war nah bei einer Kurve, und je ruhiger eine Straße war, desto eher konnte sie sich vorstellen, dass plötzlich ein Rallyewagen angerast kam.

Sie war in ihrem geliebten roten Civic heruntergefahren und hatte die ganze Zeit besorgt nach der stetig sinkenden Tankanzeige geschielt. Am Morgen hatte sie Geld abgehoben, zwar nicht alles fürs Benzin ausgegeben, aber wenn sie auf der Rückfahrt noch mal tanken musste, hätte das bedenkliche Auswirkungen auf ihren Speiseplan für den Rest der Woche.

Sie machte sich schon Gedanken, wie sie kurzfristig an Geld kommen konnte, und ging gnadenlos ihren gesamten Besitz durch, wie viel sie für dieses oder jenes bei eBay bekommen würde. Was der Honda bringen würde, hatte sie aber nicht überlegt. Bevor sie den verkaufte, würde sie lieber anschaffen gehen. Den würde sie fahren, bis die Räder abfielen. Länger als die meisten Menschen, länger als jede Schule oder das College oder jede Wohnung und jedes Haus, in dem sie gewohnt hatte, war er ein vertrauter, verlässlicher Teil ihres Lebens gewesen.

Er hatte ihrer Mutter gehört und kam einem Neuwagen näher als jedes andere Auto, das Beth Sharp je besessen hatte. Sie hatte ihn gekauft, als Jasmine sieben war. Dieses schnittige, flache Mittneunziger-Modell kam Jasmine damals so exotisch, so sportlich vor wie ein Ferrari. Der Wagen war gebraucht, aber damals kaum ein Jahr alt und selbst dafür sehr wenig gelaufen. Dem Händler in Abbeyhill nahe Easter Road nach hatte er einem Englischprofessor an der Edinburgh University gehört, der irgendein Standardwerk geschrieben hatte, was bedeutete, dass die Erstsemester ihm jedes Jahr einen soliden Tantiemen-Scheck bescherten, den er teilweise in ein neues Auto investierte. In diesem Jahr war außerdem ein neues Modell erschienen, was den Wert des alten stark gesenkt hatte.

Jasmine konnte nicht verstehen, warum sie das Design geändert hatten. Der Neue sah unauffällig und spießig aus, und sie und ihre Mum waren einer Meinung, dass ihrer der schönste Wagen der Welt war. Dazu war er noch solide gebaut, und gewissenhafte Pflege und Wartung hatte ihn all die Jahre fit gehalten, bis er schließlich seine Besitzerin überlebt hatte.

Mum hatte ihn Jasmine vermacht, und als sie sich zum ersten Mal hinters Steuer setzte, brach sie in Tränen aus. Alles roch nach ihrer Mutter, als wäre sie nur kurz herausgesprungen, um etwas zu besorgen, und käme gleich wieder. In Wirklichkeit roch es natürlich nicht nach ihr, sondern Jasmine verband den Geruch des Wagens einfach mit ihrer Mutter.

Auch nach all den Monaten kam es ihr noch vor, als hätte noch vor Kurzem ihre Mutter darin gesessen. Manchmal musste Jasmine deswegen immer noch weinen, manchmal war es ihr auch ein kleiner Trost, aber auf jeden Fall würde dieses Gefühl immer bleiben.

Sie zog das Tor auf, hinter dem sich ein schmaler Feldweg befand. Er führte ein kurzes Stück durch einen alten Wald, der sich dann zu einer groben, aber gepflegten Wiese hin öffnete, hinter der ein großes Haus stand.

Es war ein düsteres, abweisendes Gebäude, zu groß für einen alleine oder auch für eine einzelne Familie, aber nicht protzig genug für ein Herrenhaus. Ihr fiel das Wort »Konvent« ein, aber nur, weil sie schnell etwas suchte, um ihre erste Assoziation zu vertreiben: »Irrenhaus«. Es sah wirklich so aus, als könnte hier eine Verrückte auf dem Dachboden wohnen, obwohl dieser Gedanke wohl hauptsächlich darauf zurückzuführen war, dass sie auf der Fahrt Schilder nach Rochester gesehen hatte. Außerdem waren ihre Eindrücke natürlich von der – lange unterdrückten, aber nun immer stärkeren – Ahnung beeinflusst, dass sie hergekommen war, um jemanden zu überraschen, der auf irgendeine Art und Weise mit einem berüchtigten, brutalen Gewaltverbrecher in Verbindung stand.

Was für ein Mensch wohnte in so einem Haus?, fragte sie sich, als sie den Honda parkte, wollte aber schnell wieder an etwas anderes denken, weil sich »ein kranker Massenmörder« ziemlich richtig anhörte. Es wurde auch nicht besser, als sie hinter dem Haus ein surrendes Dröhnen hörte, das von einem Heckentrimmer stammen konnte, in ihrer Einbildung aber zweifellos von einer Kettensäge ausging.

Als sie die Treppe zur Eingangstür hinaufstieg, fiel ihr ein, dass niemand von ihrer Fahrt hierher wusste. Bis zum Nachmittag konnte sie ermordet und verscharrt sein – vielleicht direkt neben Jim.

Sie klingelte und war zutiefst erleichtert, als schnelle Schritte und aufgeregt-energiegeladene Kinderstimmen auf die Tür zukamen. Sie hörten sich nach Liverpool an. Jasmine hatte ein feines, zuverlässiges Ohr für Dialekte und konnte manchmal schon nach einigen Worten Spuren verschiedener Akzente erkennen. Bei den Stimmen hinter der Tür war solches Feingefühl aber nicht nötig.

Dann hörte Jasmine, wie die Kinder von einer älteren Frau mit neutralerem, englischem Middle-Class-Akzent mit einem Unterton von Birmingham und ganz leichtem lokalen Tyneside-Einschlag von der Tür weggerufen und auf ihr Zimmer geschickt wurden.

Die Kinderstimmen wurden leiser. Die Kleinen sollten sich nicht nur im Hintergrund halten, sondern die Frau wartete, bis sie weg waren, bevor sie die Tür öffnete. Jasmine musste an eine Freundin denken, bei der zu Hause der Familienschäferhund immer erst ins Hinterzimmer gesperrt werden musste, bevor Besucher hereingelassen wurden. Sie verstand aber bald, wessen Schutz diese Vorsichtsmaßnahme hier galt.

Die Tür wurde von einer Frau Ende vierzig, Anfang fünfzig geöffnet. Sie war ungefähr so groß und so schlank wie sie selbst, doch Jasmine hatte den Eindruck, dass die Frau sie wie eine Ringerin hochheben und durch die Luft werfen könnte. Sie trug einen Haarreif, und ihr Gesicht war ungeschminkt, aber unbestreitbar attraktiv in seiner würdevollen Reife. So ein Gesicht meinten Leute wohl, wenn sie von einer »aparten« Frau sprachen. Außerdem kam es ihr wie das Gesicht einer Frau vor, mit der man sich lieber nicht anlegte.

»Kann ich Ihnen helfen«, fragte die Frau. »Wissen Sie, wo Sie sind, oder haben Sie sich verfahren?«

Selbst hier, im tiefsten Nirgendwo von Northumberland, wirkte die Frage seltsam, fast wie ein Code. Jasmine bemerkte an ihrem Ton und Gesichtsausdruck Anzeichen eines inneren Konflikts. Sie wirkte misstrauisch, wollte es sich aber wohl nicht anmerken lassen, wie eine Beschützerin, die nicht verraten wollte, dass es hier etwas zu beschützen gab.

»Nein, ich hab mich nicht verfahren. Ich heiße Jasmine Sharp. Ich bin Privatdetektivin.«

Es kam ihr vor, als würde sie eine Textzeile vortragen, bloß war sie sich auf der Bühne nie so unsicher, weil sie dort nichts als echt verkaufen musste – schon gar nicht sich selbst.

Alle Anzeichen eines Konflikts schwanden aus dem Gesicht – nach dem letzten Wort war die Frau auf volle Verteidigung gegangen und hatte die Zugbrücke hochgezogen.

»Was wollen Sie hier?«, fragte sie.

»Ich muss mit jemandem sprechen, und ich habe diese Adresse bekommen.«

Die Frau schwieg. Sie war nicht feindselig, aber Jasmine konnte ihr Misstrauen spüren wie Pfeile hinter Schießscharten.

»Er heißt Tron Ingrams«, erklärte sie.

Nun entspannte sich die Frau anscheinend wieder ein bisschen. Das Misstrauen blieb, aber nicht die Verteidigungshaltung. Tron Ingrams war schon mal nicht der, den die Frau beschützte.

»Worüber wollen Sie mit ihm sprechen?«

»Ich ermittle in einem Vermisstenfall, und ich glaube, Mr Ingrams hatte im Oktober schon mal meinem Kollegen weitergeholfen. Ich hatte gehofft, er könnte mir vielleicht noch ein paar Fragen beantworten.«

Jasmine setzte darauf, dass sie grünes Licht bekommen würde, wenn sie von einem vorherigen Kontakt mit Ingrams sprach, aber die Frau blieb hartnäckig.

»Wer wird denn vermisst?«, fragte sie. »Wen suchen Sie?«

»Glen Fallan«, erwiderte Jasmine.

Die Frau schüttelte den Kopf, aber nicht aus Ablehnung, sondern weil sie den Namen nicht kannte. Auf jeden Fall wurde sie jetzt etwas zugänglicher.

»Kommen Sie doch rein und setzen Sie sich kurz. Tron arbeitet gerade noch hinten, macht aber gleich Pause. Ist ja fast schon Mittag.«

Sie öffnete die Tür ein Stück weiter und trat zur Seite.

»Ich bin übrigens Rita«, sagte sie. »Rita Cranleigh. Mussten Sie weit fahren?«

»Aus Glasgow.«

Rita führte sie in den Flur, der nach der Sonne draußen dunkel wirkte. Die Eichenvertäfelung an den Wänden schluckte eine Menge Licht und ließ ihre Schritte auf dem lackierten Dielenboden widerhallen. Jasmine sah eine Treppe zu einer Galerie, von der drei Türen abgingen. Alle waren geschlossen. Hinter einer davon hörte sie immer noch die Kinderstimmen.

Rita merkte, wie sie hinaufschaute, und wie neugierig sie war. Sie führte Jasmine an der Treppe und weiteren geschlossenen Türen vorbei in eine riesige Küche nach hinten raus. Jasmine hörte die Kettensäge jetzt lauter und näher, konnte ihren Benutzer aber immer noch nicht sehen; obwohl sich ihr Unbehagen langsam legte, war sie sich nun doch ziemlich sicher, dass es tatsächlich eine Kettensäge war.

»Sie wollen wohl wissen, was das hier für ein Haus ist«, sagte Rita, die sich Jasmines Neugier seltsam sicher schien.

»Ich will hier nicht rumschnüffeln«, erwiderte sie höflich. »Wenigstens nicht, was das angeht«, fügte sie mit verlegenem Kichern hinzu. (Ich bin nämlich eine echte Privatdetektivin. Wirklich.)

»Es ist ein Zufluchtsort«, sagte Rita ruhig. »Die Frauen hier wollen meist nicht, dass ihr Aufenthaltsort bekannt wird, also müssen Sie entschuldigen, dass ich eben etwas abweisend war.«

»Kein Problem. Unter diesen Umständen hätte ich wohl nichts Schlimmeres sagen können als ›ich bin Privatdetektivin‹.«

»Das stimmt«, erwiderte Rita und grinste, als sie den Wasserkocher füllte. »Andererseits würde ein Privatdetektiv, der eine unserer Frauen sucht, sich wohl nicht unbedingt sofort als solcher ausweisen.«

Jasmine fürchtete einen Augenblick lang, dass Rita damit andeuten wolle, sie habe sie sofort als ungeschickte Amateurin erkannt, und ließ sich dazu verleiten, ihr einen neuen Misstrauensgrund zu geben.

»Könnte natürlich auch eine falsche Fährte sein. Lieber nach einem Mann fragen, um Sie abzulenken.«

»Nein«, erwiderte Rita fast amüsiert. Sie öffnete eine große, zweitürige Kühlgefrierkombination und stellte eine Milchtüte auf den Tisch neben eine Zuckerschale. »So jemand würde den Namen Tron Ingrams nicht kennen. Er behandelt unsere Zusammenarbeit diskret. Und überhaupt würde keiner versuchen, über ihn an die Frauen zu kommen. Der durchschaut sofort jeden.«

»Was macht er denn bei Ihnen?«

»Er arbeitet hier auf freiwilliger Basis, wenn er Zeit hat. Als Gärtner, Handwerker, Bote, alles, was so anfällt, um den Laden am Laufen zu halten. Er war früher Soldat. Er könnte einem morgens den Schuppen abreißen und nachmittags aus dem Material eine Brücke bauen. Ich weiß ehrlich gesagt nicht, wie wir je ohne ihn klargekommen sind, auch wenn wir es immer noch ab und an müssen. Er ist oft außer Landes.«

»Was macht er da?«

»Arbeiten.«

Jasmine fragte sich, ob sie nachhaken sollte, weil sie sich nicht sicher war, ob Rita absichtlich so vage geantwortet hatte oder es einfach nicht wusste.

Sie hörte, wie sich irgendwo im Haus eine Tür öffnete und ein paar Sekunden später wieder schloss.

»Die kommen erst wieder raus, wenn Sie weg sind«, erklärte Rita und holte drei Tassen aus einem Regal. Die Zahl stimmte Jasmine gleichzeitig erwartungsvoll und besorgt. »Sie wollen von niemandem gesehen werden, damit nichts zu den Leuten durchdringen kann, vor denen sie geflohen sind. Wir ergreifen alle möglichen Vorsichtsmaßnahmen, aber nichts ist todsicher. Manchmal verplappert sich jemand oder vertraut dem Falschen. Im Laufe der Jahre sind eine Menge Ehemänner und Partner hier aufgetaucht, und das ist nicht nur für unsere Frauen eine große Belastung. So etwas zerstört bei allen das Sicherheitsgefühl.«

»Was machen Sie dann?«

»Dann müssen wir die Polizei rufen.«

Sie hörte sich so an, als wäre das meistens den Ärger nicht wert.

»Die verwarnen die Männer und erteilen ihnen einen Platzverweis, aber die kommen doch wieder. Wenn sie wissen, dass ihre Frau oder Freundin hier ist, lassen sie nicht locker. Außer natürlich, wenn Mr Ingrams da ist«, fügte sie hinzu und zog die Augenbrauen hoch. »Wenn der jemanden verwarnt, kommt er nie wieder.«

Der Lärm draußen hörte auf, während Rita warmes Wasser in einen großen alten Teekessel goss. Sie hatte ihn gerade auf niedriger Flamme auf den Gasherd gestellt, als die Hintertür aufging und Ingrams hereinkam. Er trug eine Hose mit dunkelgrünem Tarnmuster, ein ärmelloses, schwarzes T-Shirt und eine Schutzbrille mit einem Gummiriemen. Man sah ihm seine militärische Vergangenheit sofort an: Er war groß, fit und durchtrainiert, seine Haut gebräunt und wettergegerbt wie bei jemandem, der in einem wärmeren Klima viel draußen gewesen war.

Als er die Tür zugezogen und sich die Brille abgenommen hatte, sah er, dass Rita Besuch hatte. Von der Tür aus fixierte er Jasmine mit einem Blick, der den von McDade im Vergleich wie ein Stimmungslicht im Hintergrund wirken ließ. Der Blick war so durchdringend, dass sie sich wie an den Stuhl genagelt fühlte, bis Ingrams sich von ihr abwandte und Rita fragend ansah. Er schien wenig begeistert von dem Besuch, aber Jasmine nahm an, dass das seine Standardeinstellung gegenüber Fremden war, die Rita noch nicht abgesegnet hatte.

Jasmine schätzte ihn auf Anfang vierzig, es konnten aber auch fünf Jahre mehr oder weniger sein; er hielt sich auf jeden Fall in Form, aber etwas an seinem Gesicht deutete auf eine schwere Vergangenheit hin. Als hätten seine Augen mehr gesehen, als ihm lieb war. Sie wirkten still und ließen eine eisige Kälte und gefährliche Tiefe vermuten, in der Schreckliches lauerte.

»Ah, Mr Ingrams«, sagte Rita freundlich. »Das hier ist Jasmine. Sie ist uns aus Glasgow besuchen gekommen. Sie ist Privatdetektivin und sagt, Sie haben vor einiger Zeit mit ihrem Kollegen über einen Vermisstenfall gesprochen. Sie würde Ihnen gerne ein paar Fragen stellen.«

Ingrams starrte wieder Jasmine an. Eine Spur von Verwirrung huschte ihm übers Gesicht, bevor es wieder den vorherigen Ausdruck unterdrückter Feindseligkeit annahm. Diesmal hatte sie keine Zweifel, dass seine Verwirrung daher rührte, dass er das Wort »Privatdetektivin« nicht mit dem vereinen konnte, was er vor sich hatte.

»Ich kann Ihnen nichts sagen, was ich nicht auch schon Ihrem Kollegen gesagt habe«, erklärte er. »Und auch Ihrem Kollegen hatte ich nichts zu sagen.«

Er ging zum Wasserhahn, schenkte sich ein Glas ein und trank es mit dem Rücken zu Jasmine aus. Aus der Nähe sah sie, dass er geschwitzt hatte, was das schwarze T-Shirt etwas kaschierte, und dass seine Haut mit einer feinen Schicht Sägemehl bedeckt war. Das Haar trug er kurz geschnitten und hinten und an den Seiten noch kürzer rasiert. Unter den graumelierten Stoppeln waren blasse Narben zu sehen wie die Kanäle auf dem Mars oder wie Überreste von Kornkreisen.

Sie schaute besorgt zu Rita hinüber, um zu sehen, wie sie seine Reaktion aufnahm, vor allem die Offenbarung, dass er Jasmines »Kollegen« doch nicht so sehr geholfen hatte, wie angedeutet.

»Ich glaube nicht, dass Jasmine ganz hier heruntergefahren wäre, wenn es keine neuen Fragen gäbe«, sagte Rita und schaute sie mitleidig, aber nicht überrascht an. Er hatte zwar eine Menge Sonnenschein genossen, war dabei aber sicher keiner geworden.

»Hab keine Zeit«, erwiderte er. »Ich muss nach Heddon ins Gartencenter, außerdem hat der Häcksler endlich den Geist aufgegeben und ich muss ’nen neuen besorgen.«

»Dann nehmen Sie Jasmine doch einfach mit. Sie kann Sie während der Fahrt befragen. Da könnten Sie doch zwei Sachen auf einmal erledigen.«

Es war schwer zu sagen, wem von beiden die Vorstellung weniger gefiel. Der Unterschied bestand vor allem darin, dass Jasmine ihre Bedenken gegen eine Fahrt ins Ungewisse mit Ingrams hinter einer Maske der Dankbarkeit für Ritas hilfreichen Vorschlag verstecken musste. Ingrams hatte dieses Problem nicht und warf Rita einen Blick zu, bei dem andere um Gnade winseln würden.

Die Tatsache, dass Rita sich davon irgendwie belustigt zeigte, gab Jasmine zu verstehen, dass die beiden ein tiefes Vertrauen verband. Rita hätte ihm den Vorschlag nie gegen seinen offensichtlichen Widerwillen aufgedrängt, und Ingrams hätte nicht mit so einem Blick reagiert, wenn sie nicht beide wüssten, dass Rita dagegen immun war.

Ingrams seufzte, murmelte etwas von Abfahrt in zwei Minuten und stapfte ohne weitere Förmlichkeiten wieder zur Hintertür hinaus.

Jasmine hatte keinen Grund zu glauben, dass sie Ritas Immunität teilte, aber sie wusste, dass sie keinen Rückzieher machen konnte, ohne zuzugeben, dass sie Angst vor ihm hatte.

Rita bemerkte ihr Zögern anscheinend und tätschelte Jasmine die Hand.

»Lassen Sie sich von ihm im Gartencenter einen Tee ausgeben, wenn er Sie schon von diesem hier wegreißt. Und keine Angst: Er ist eigentlich ein ganz Lieber.«

Jasmine musste an Hundebesitzer denken, die Dinge sagten wie, »der tut nichts«, während eine zähnefletschende Bestie im Park auf sie zuraste, und Herrchen absolut gar nichts dagegen tun konnte, wenn das geifernde Biest beschloss, ihr ein Bein abzureißen. Diese Frau, die den Zufluchtsort leitete, hielt sehr viel von Ingrams, was an sich schon ein gutes Zeugnis darstellte, aber, wie sie selbst gesagt hatte, gab es auch viel, was sie über ihn nicht wusste. Zum Beispiel, ob er Jasmines Onkel ermordet hatte und für sie das Gleiche plante. Auf jeden Fall hätte Jasmine es lieber gehabt, wenn Rita bei ihrem Vorschlag nicht von »erledigen« gesprochen hätte.