Maschinerie
Sergeant Collins hörte sich so höflich und leicht distanziert an wie jemand, der eine gut einstudierte Rede hielt. Jasmine kam es vor, als würde sie mit einem hochmodernen, aber völlig unpersönlichen Computersystem sprechen. Für Vermisstenmeldungen drücken Sie bitte die Eins.
»Wissen Sie, Miss Sharp, wir haben nur begrenzte Ressourcen«, erklärte er, »also sind wir gezwungen, Prioritäten zu setzen. Deshalb brauchen wir konkrete Hinweise, dass es sich um ein Verbrechen handelt, bevor wir in einem Vermisstenfall ermitteln.«
Jasmine kam sich blöd vor, aber nur, weil sie eigentlich schon gewusst hatte, dass es so laufen würde. Es war erst kurz nach acht, also hatte sie zugeben müssen, dass sie Jim erst seit zwölf Stunden suchte, und nicht mal eine Nacht dazwischenlag.
Sie wollte der Polizei wirklich sagen können, dass sie schon alles versucht hatte, was ihr als Zivilistin möglich war. Also hatte sie die Gelben Seiten aufgeschlagen und wollte alle Krankenhäuser der Gegend abklappern. Als sie an der Länge der Liste sah, wie lange das dauern würde, fiel ihr ein, dass es normalerweise andersherum ging. Wenn Jim irgendwo eingeliefert worden war, würde das Krankenhaus sich bei seinen Verwandten melden. Außer ihr ahnte niemand, dass etwas nicht stimmte, also konnte nur sie Alarm schlagen.
Sie hatte eigentlich darüber schlafen und am Morgen zur Polizei gehen wollen, wenn sich in der Zwischenzeit nichts ergeben hatte, aber sie wusste, dass sie nie im Leben darüber schlafen, sondern eher darüber wach liegen und sich Sorgen machen würde. Da sie damit schon den ganzen Tag verbracht hatte, brauchte sie die Gewissheit, dass die zuständigen Stellen Bescheid wussten. Besonders ungeduldig war sie auch, weil sie von der Polizeistatistik gehört hatte, dass die Chancen in einem Vermisstenfall nach den ersten vierundzwanzig Stunden rapide sinken. Oder ging es da doch um Morde? Sie hatte es vergessen, wollte aber unbedingt schnell handeln.
Überhaupt waren es eigentlich viel mehr als zwölf Stunden – vor zwölf Stunden hatte sie es nur bemerkt. Die letzte Seite der aktuellen Evening Times stimmte mit keiner der Ausgaben auf Jims Flurteppich überein. Er war seit Donnerstag nicht zu Hause gewesen.
»Ich weiß ja, was Sie meinen«, bettelte sie. »Seine Wohnungstür ist nicht eingetreten oder so, aber ich weiß ganz sicher, dass irgendwas nicht stimmt. Er ist heute nicht zu einem sehr wichtigen Treffen gekommen. Er ist bei so was sonst sehr gewissenhaft, fast schon pingelig. Er würde nie im Leben einfach so abtauchen, das müssen Sie mir glauben.«
Der Polizist am Wachtisch hatte ihr freundlich zugesprochen und sie in ein kleines Seitenzimmer des Eingangsbereichs geführt, wo er ihr eine Tasse Tee anbot. Sie lehnte ab, bereute es aber gleich wieder, weil sie so die kurze, aber unerträgliche Wartezeit hätte überbrücken können, bis Sergeant Collins kam. Vor lauter Optimismus hatte sie einen Zivilpolizisten erwartet. Als sie die Uniform sah, war sie ein bisschen enttäuscht, aber nicht allzu überrascht. Sie hatte sofort das Gefühl, eine von hundert anderen verschiedenen Kleinigkeiten zu sein, die Sergeant Collins im Laufe seiner Nachtschicht abarbeitete.
»Miss Sharp, ich verstehe ja, dass Sie sich Sorgen um Ihren Onkel machen, und ich weiß, wie sehr einen so etwas belasten kann. Sie sind nicht die Erste, die hier vor mir sitzt und mir diese Geschichte erzählt. Aber genau aus diesem Grund können wir nichts unternehmen. Sicher ist es für Ihren Onkel ein untypisches Verhalten, aber das stellt noch keinen hinreichenden Verdacht auf ein Verbrechen dar.«
»Mir geht es nicht darum, ob ein Verbrechen geschehen ist. Ich brauche einfach nur Hilfe, weil ihm etwas zugestoßen sein muss. Warum sollte er nicht zur Arbeit kommen? Er hatte einen extrem wichtigen Termin. Er war seit Tagen nicht zu Hause, und sein Telefon leitet sofort weiter …«
Sergeant Collins nickte geduldig und wartete ab, dass sie alles herausließ. Er hatte so etwas schon hundertmal gehört.
»Es ist schwer hinzunehmen, aber Leute machen eben manchmal untypische Sachen. Vermisste sind sehr häufig Leute, die einfach nicht gefunden werden wollen.«
»Aber er hat doch keinen Grund …«
»Und die, die ihm am nächsten stehen«, unterbrach er sie diesmal, »haben nie die leiseste Ahnung, was sie dazu geführt hat abzutauchen. Es kann um Geld gehen, um eine Beziehung, aber wenn dabei kein Gesetz gebrochen wurde, haben diese Leute aus unserer Sicht jedes Recht dazu.«
Jasmine merkte, wie ihr die Tränen in die Augen traten, weil ihr keine Gründe mehr einfielen, die sie Sergeant Collins’ Unnachgiebigkeit entgegensetzen konnte.
»Es ist noch sehr früh, Miss Sharp«, tröstete er sie. »Sie haben sich sicher selbst schon gedacht, dass es eine ganz einfache Erklärung geben muss und dass in ein paar Tagen oder auch nur Stunden alles geklärt ist.«
»Und wenn nicht?«, fragte sie mit bebender Stimme.
»Na ja, wenn man jemanden sucht, und die Polizei nicht zuständig ist, hat man natürlich die Möglichkeit, einen Privatdetektiv anzuheuern, was allerdings teuer werden kann.«
Das war zu viel. Jasmine stützte das Gesicht in die Hände und fing an zu schluchzen. Sergeant Collins legte ihr den Arm um die Schultern und bot ihr ein Taschentuch an.
»Beruhigen Sie sich«, sagte er ruhig. »Wie gesagt ist es noch sehr früh. Das mit dem Privatdetektiv ist nur so eine Idee für später.«
Jasmine hob den Kopf und starrte ihn verheult, aber entschlossen an.
»Sie verstehen mich nicht. Mein Onkel ist selbst Privatdetektiv. Vorher Polizist: Detective Sergeant, nach fünfunddreißig Jahren im Ruhestand. Wenn Sie ihm nicht helfen können, wer denn dann?«
Sergeant Collins war sichtlich überrascht. Er richtete sich zackig auf. Sein Ton blieb professionell, aber jetzt schwang echte Anteilnahme mit. Für Jasmine klang er aber eher bedauernd als tatkräftig.
»In Vermisstenfällen sind uns leider rechtlich wie politisch die Hände gebunden. Aber Sie haben recht: Hier sieht es etwas anders aus. Ich markiere es im System, dass er ein Polizist im Ruhestand ist, und wir gucken mal, was sich machen lässt.«