Die Gnade des Gerichts

Catherine überquerte auf der Gorbals Street den Fluss, dann fuhr sie das Bridgegate entlang zum Parkplatz auf dem St. Margaret’s Place. Sie war früh genug dran und fand einen Platz, wofür sie an diesem Morgen besonders dankbar war. Über die nahe Brücke rumpelte eine Bahn, und sie fragte sich kurz, wo Drew wohl jetzt war. Vielleicht ging er gerade die Treppe aus der Buchanan Street Station hinauf, vielleicht war er schon auf der Queen Street und holte sich einen Kaffee für die Fahrt.

Sie lief den Bürgersteig entlang und unter den kleinen Rundbau vor dem Eingang des High-Court-Gebäudes. Der Zylinder aus sieben Säulen sah für sie immer wie eine Riesenversion eines Telefontischchens ihrer Großtanten aus. Wie bei jedem öffentlichen Gebäude heutzutage war der Eingang rauchverhüllt, aber die richtigen mystischen Portale lagen weiter im Inneren. Für viele bestimmte die Tür, durch die sie das Gebäude verließen, die Zukunft, manchmal auf zehn Jahre oder länger.

Catherine war der Gnade des Gerichts nie ausgeliefert gewesen, aber im Gebäude wurde ihr trotzdem immer etwas unwohl. Zwar hatte sie hier auch viele Erfolge eingefahren, aber genauso wie manche Leute sagten, dass sie sich schon schuldig fühlten, sobald sie einen Polizisten sahen, hatten Gerichtsgebäude oft eine ähnliche Wirkung auf Polizisten. Es war das gleiche Prinzip: das Bewusstsein, dass man einer höheren Macht ausgeliefert ist, die man kaum kontrollieren oder beeinflussen kann, und deren flüchtige Launen für einen unverhältnismäßige, unwiderrufliche und unerklärliche Auswirkungen haben können. In Catherines Fall ging dieser Effekt auf eine tiefere, persönliche Wut zurück, die immer noch köchelte, und auf eine Kränkung, die ihr insgeheim immer noch zu schaffen machte, obwohl der kaum nennenswerte Vorfall schon viele Jahre zurücklag.

Er hatte auch nicht in diesem Gericht stattgefunden, sondern am anderen Flussufer, am Carlton Place. Doch ob Sheriff Court oder High Court, die Erinnerung holte sie oft ein, sobald sie die Amtstrachten, die Richterbänke und die Aktenkoffer sah.

Sie war damals erst gut zwei Jahre Polizistin gewesen. Zwar keine blauäugige Anfängerin mehr, aber auf keinen Fall mit allen Wassern gewaschen. Einer Anfängerin hätten sie so etwas nicht zugemutet, und auch ihr hätten sie es nicht zumuten dürfen, verdammt. Die hatten sich selbst in die Scheiße geritten, sich die eigene Grube gegraben, und dann zerrten sie Catherine mit hinein, damit sie helfen konnte, weiterzuschaufeln.

Es geschah an einem ansonsten ruhigen Donnerstagabend in ihrer ersten Wache in der Barnes Street drüben in Braeside. Die Polizisten, um die es ging, waren Roddy Howard, ein autoritärer Roboter, der schon bei seiner Geburt fünfundvierzig gewesen sein musste, und wie der eifrige junge Padawan zu seinem Yoda, Mark McLean, dem selbst die unerfahrene Catherine ansah, dass er seine Unsicherheit kompensierte.

Howard war klassisches Constable-auf-Lebenszeit-Material. In jeder Wache gibt es einen: hochkorrekt, pflichtverliebt, jeden Humors unverdächtig und dumm wie Brot. McLean war weniger jemand, der in der Schule gemobbt worden war, als vielmehr einer, der gerne gemobbt hätte, aber nicht hart genug war. Als er dann den langen Arm des Gesetzes hinter sich spürte, hatte er einiges aufzuholen.

Den drei Angeklagten zufolge (und Catherine glaubte ihnen ihre Version mittlerweile hundertprozentig), waren sie gegen elf auf dem Heimweg vom Pub, als zwei von ihnen, Anthony McGuire und Allan Reilly, beschlossen, dass sie es nicht bis nach Hause aushalten würden. Wie gesagt, es war ein ruhiger Abend. Die Straßen waren so gut wie leer; die Barnes Street, auf der sie unterwegs waren, war sogar völlig ausgestorben, sonst hätten sie sich ja auch noch ein paar Hundert Meter zusammengerissen, wo die Wache doch gleich gegenüber war. Da aber niemand zu sehen war, gingen sie schnell in die schmale Gasse zwischen der Bank und dem Wohnblock, während ihr Kumpel mit der stärkeren Blase, Steve Gallacher, an der Straße wartete. Als sie gerade richtig losgelegt hatten, kamen Howard und McLean mit ihrem Einsatzwagen von der Main Street um die Ecke. Sie sahen Gallacher an der Straße herumlungern und wollten ihn überprüfen, als sie zwei weitere Gestalten hinten in der Gasse bemerkten. Einer der Polizisten rief »Hoi!«, was die beiden dazu veranlasste, Fersengeld zu geben und sich den Reißverschluss zuzumachen, während sie tiefer in die Gasse und auf den Parkplatz der Bank rannten.

Wie McGuire später vor Gericht aussagte, nahmen sie an, dass es sich bei dem Rufenden um einen wütenden Anwohner oder, in Braeside ebenso wahrscheinlich, um irgendeinen Schläger handelte, der an diesem Abend nichts anderes vorhatte. Auf jeden Fall warteten sie keine Aufklärung ab. Als sie dann sahen, wie zwei Polizisten den Parkplatz betraten, blieben sie stehen. Reilly sagte aus, er sei in dem Moment richtig erleichtert gewesen.

Und damit hätte die Sache erledigt sein sollen: mit einer kurzen Verwarnung. Jeder anständige Polizist hätte kapiert, was er vor sich hatte. Die jungen Männer waren weder sturzbesoffen noch aggressiv und vor allem keine bekannten Gesichter. Howard aber beschloss, die beiden festzunehmen, und vervollständigte das Trio, als Gallacher den Fehler beging, darüber seinen Unmut auszudrücken, da die beiden schließlich nur in eine Gasse gepisst hatten, die sowieso schon voller Hundescheiße und Glasscherben war.

Die drei verbrachten die Nacht in der Zelle, bevor sie wegen öffentlicher Ruhestörung und Widerstandes gegen die Staatsgewalt angeklagt wurden. Ersteres nennt man auch »Polizeistörung«, ein Anklagepunkt, der vermeintliche Täter mit zwei Polizisten als Zeugen vor vollendete Tatsachen stellt, und den viele zähneknirschend hinnehmen, egal, ob er den Tatsachen entspricht oder nicht. Den Widerstand gegen die Staatsgewalt bei der Festnahme gibt es auch immer gern als kostenlose, ebenfalls gegenseitig bezeugte Zugabe.

Die Angeklagten hätten es wohl darauf beruhen lassen, wären sie besoffen, aggressiv und vor allem mit dem Ablauf vertraut gewesen – sie hätten eben ihr Lehrgeld gezahlt. Aber so war es nicht: Sie waren drei anständige Burschen, die noch nie mit dem Gesetz in Konflikt geraten waren. Sie wussten, dass die Anklage wegen Ruhestörung einen Machtmissbrauch darstellte, aber wirklich sauer waren sie über die Sache mit dem Widerstand, weil die völlig frei erfunden war.

Sie stritten alle Vorwürfe ab, also ging der Fall vor den Sheriff Court. Und da kam Catherine ins Spiel. Howard und McLean sprachen sie allerdings nicht direkt an, sondern ihr Sergeant, Donald Morrison, an den sie sich bei schwierigen Fragen gern wandte. Er bat sie nicht um Hilfe; er erklärte ihr, dass sie helfen werde.

»Wir müssen das durchkriegen«, sagte er. »Ist auch ’ne wertvolle Erfahrung für dich, wenn du mal im Zeugenstand warst.«

Catherine war erschüttert. Es war zwar nicht ganz das Ende ihrer Unschuld, kein großer Moment der Ernüchterung, aber es war schon ein richtiger Schock, so direkt aufgefordert zu werden, vor Gericht zu lügen. Doch sie ließ sich von zwei Dingen überzeugen, die der Sergeant ihr eindeutig zu verstehen gab: Mitspielen war keine große Sache; ablehnen war undenkbar.

Man macht sich immer für seine Kollegen stark. Das ist die goldene Regel.

Ihr wurde erklärt, was sie sagen sollte, und versichert, dass es ganz schnell gehen werde. Reine Formsache, meinten sie.

Nichts davon stimmte. Das Einzige was ganz schnell ging, war, dass der Verteidiger sie einerseits als schwächstes Glied erkannte und den taktischen Fehler der Polizei genau durchschaute, der auch von der Aussage seiner Klienten gestützt wurde, dass keiner von ihnen Catherine an dem Abend gesehen habe.

»Ich saß im Wagen«, erklärte sie wie vereinbart, denn den Einwand hatten sie vorhergesehen. »Vorne. Die haben so einen Lärm gemacht, dass ich nicht wusste, wie viele es waren, und ich hatte Angst. PC Howard sagte, ich solle im Wagen bleiben, weil er fürchtete, die Jugendlichen könnten gewaltbereit sein.«

Um den Anklagepunkt des Widerstands gegen die Staatsgewalt zu stützen, sagte sie aus: »Die Angeklagten ließen sich nicht einfach so von PC Howard und PC McLean in den Wagen setzen. Sie traten gegen die Türen und schlugen um sich. Ich bin noch nicht so lange bei der Polizei, und es hörte sich schrecklich an.«

Sergeant Morrison war als moralische Unterstützung mitgekommen und nickte ihr unauffällig zu. Braves Mädchen. Gut gemacht. Catherine freute sich. Doch dann stand der Verteidiger auf.

»Was für Lärm haben die Angeklagten denn gemacht?«, fragte er. »Könnten Sie da vielleicht etwas mehr ins Detail gehen?«

Das hörte sich nach einer ehrlichen Nachfrage an, aber später verstand sie, dass er damit zeigte, dass er wusste, dass sie nicht dabei gewesen war. Das wichtige Wort war »Detail«: Er wusste, dass ihre Aussage vorher abgesprochen war, und dass sie an den Details scheitern würde.

»Sie haben gebrüllt und gesungen«, erwiderte sie, worauf sie sich mit ihren Kollegen geeinigt hatte. »Aus voller Brust, was ja mal passiert, wenn man betrunken ist. Dann vergisst man schnell, wie sehr man damit andere stört – vor allem in einer ruhigen Nacht in einer Wohngegend.«

»Und was haben sie gebrüllt? Oder gesungen? Können Sie mir ein paar Beispiele nennen?«

»Ich, äh, kann mich nicht mehr erinnern. Ich weiß nur noch, wie laut es sich in der stillen Nacht anhörte.«

»Nur ein Beispiel meinetwegen. Vielleicht haben sie irgendeinen Namen gerufen oder irgendeinen Satz, der sich Ihnen eingeprägt hat? Haben sie vielleicht wegen irgendetwas gejubelt?«

Sie erwischte sich dabei, wie sie zu Howard und McLean hinüberschaute, dann zum Sergeant auf den Zuschauerbänken.

»Ich weiß nicht mehr«, sagte sie hilflos. Sie wollte sich die Jacke über den Kopf ziehen und wegrennen.

»Anscheinend war es für Sie so eine traumatische Erfahrung, dass Ihr Unterbewusstsein das Ganze lieber ausblendet, als Sie den Albtraum noch einmal durchleben zu lassen«, spottete der Anwalt. »Doch das hat sich nicht auf alle Ihre Sinneseindrücke gleich ausgewirkt. Ihr Blick wurde anscheinend von Ihrer Panik noch geschärft. Sie haben erklärt, wie Sie ängstlich vorne im Wagen kauerten und sich vor den lauten, potenziell gefährlichen jungen Männern versteckten. Können Sie mir dann bitte erklären, wie Sie sehen konnten, wie die Angeklagten mit Zähnen und Klauen dagegen angekämpft haben, in den Wagen gesteckt zu werden?«

Es war eine Katastrophe. Die Klage wurde nicht nur abgewiesen, der Sheriff machte sie alle auch noch zur Schnecke, weil sie das Gericht eine Menge Zeit gekostet hatten und knöpfte sich Catherine besonders vor, weil sie »nicht die geringste Glaubwürdigkeit« an den Tag gelegt hatte. Sie merkte, wie sie rot wurde, als er das sagte, und es grenzte an ein Wunder, dass sie es noch aus dem Saal schaffte, bevor sie in Tränen der Erniedrigung und Scham ausbrach.

Die Reaktionen ihrer Kollegen waren ein bisschen gemäßigter, um es vorsichtig auszudrücken. Mal klappt’s, mal nicht, schien ihre Einstellung zu sein, und Catherine verstand, dass es sich um eine Standardprozedur handelte, die tief in der Kultur verankert war. Abends gingen sie in den Pub, und fast die ganze Wache kam vorbei. Jeder gab ihr einen Drink aus und klopfte ihr auf den Rücken. Selbst Polizisten, die Howard und McLean für Arschlöcher hielten. Alle fanden, dass Catherine sich tapfer geschlagen hatte. Sie hatte ihre Loyalität bewiesen, was wichtiger war als irgend so ein beschissener, kleiner Ruhestörung-und-Widerstand-Fall. Niemandem war die Sache peinlich, so etwas passierte in dem Job eben manchmal.

Alle taten, als hätte sie eine Abschlussprüfung bestanden und würde jetzt richtig dazugehören, aber Catherine merkte, dass sie bei so etwas gar nicht dazugehören wollte. Sie fühlte sich ausgenutzt und dreckig. Hier ging es nicht um Solidarität, sondern um Nötigung, um den Zwang, sich unterzuordnen. Und wenn man erst bewiesen hatte, wie schwach die eigene Integrität war, war man nicht mehr in der Lage, gegen diese Missstände aufzubegehren.

Der positive Effekt des Ganzen war, dass sie eine immunisierende Dosis bekommen hatte. Sie schwor sich, dass nie wieder jemand sie dazu bringen würde, für ihn zu lügen, ganz egal welche Konsequenzen das für ihren Stand bei ihren Kollegen hatte. Vielleicht war es wirklich ein Test gewesen, ein Initiationsritus, und vielleicht lag es an ihrer Ausstrahlung ab diesem Tag, aber auf jeden Fall wurde sie nie wieder um so etwas gebeten.

Sie würde auch niemals irgendwen für sich lügen lassen, was sich einfach anhörte, man musste ja einfach niemanden fragen, sich in der Praxis aber viel komplizierter darstellte. Es war allgemeiner Konsens, dass man manchmal ein bisschen ausschmücken musste, damit ein Schuldiger sich nicht von seinem schlauen Anwalt rausboxen lassen konnte. So etwas ließ Catherine in ihren Fällen aber nicht zu. Wenn man irgendeine übertriebene Klage verlor, weil jemand gelogen hatte, war das eine Sache, aber Catherine wollte auf gar keinen Fall eine legitime, solide Verurteilung gefährden, weil die Kreativität mit jemandem durchgegangen war und er die Integrität des ganzen Falls aufs Spiel gesetzt hatte.

Es gab auch Argumente dafür, so sein Glück zu versuchen, aber Catherine war keine Spielerin. Außerdem wollte sie ihr Verhalten nicht damit rechtfertigen, dass sie besser war als der Abschaum, den sie wegsperrte. Sie wollte an ihrem Verhalten selbst erkennen können, dass sie besser war.

Catherine ging durch die Lobby und versicherte sich auf den Bildschirmen, in welchem Saal heute Crown gegen Agnew verhandelt wurde. Von dem Fall erwartete sie keine große Spannung und fürchtete auch keine unberechenbare Laune des Gerichts.

Sammy Agnew war früh an einem Aprilmorgen aus dem kalten Wasser eines Kanals gerettet worden, nachdem zwei Jogger ihn gefunden hatten, festgeklammert an einem Abwasserrohr. Er zeigte starke Unterkühlungssymptome, die er wahrscheinlich nicht von denen eines vorangegangenen über zweiundsiebzigstündigen Saufgelages unterscheiden konnte.

Catherine staunte oft darüber, wie viele Mordfälle mit »dreitägigen Alkoholexzessen« zusammenhingen, wie es vor Gericht beschrieben wurde. Heutzutage hielt sie kaum noch drei Stunden durch. Zwei Gläser Wein, wenn die Kleinen im Bett waren, und schon dämmerte sie selig ein.

In einem Pub hatte sie vor Kurzem gehört, wie ein junger Mann seinen Kumpel daran hinderte, an der Bar einen Burger und Pommes Frites zu bestellen. Die Begründung: Essen gilt nicht. Selbst vor zwanzig Jahren hätte sie mit so einer Einstellung nichts anfangen können. Bei Typen wie Agnew war »Missbrauch« eigentlich ein viel zu alltäglicher Begriff für das, was sie mit Alkohol machten. Wahrscheinlich erforderte es weniger Zeit und Disziplin, seinen Körper auf olympisches Niveau zu bringen, als ihn auf so eine zeitliche wie quantitative Ausdauer beim Trinken hochzutrainieren. Bloß würde Sammy keine Medaille bekommen.

Denn während er sich gerade im Krankenhaus aufwärmte, wurde sein sogenannter bester Freund und Saufsportkumpan Peter Leckie aus demselben Kanal gefischt. Peter hatte allerdings nicht so viel Glück gehabt; seine Chancen, den trügerischen Tiefen zu entkommen, waren nämlich von der Tatsache geschmälert worden, dass er schon seit Stunden tot war, als er ins Wasser fiel.

Sammys Verteidigung lautete, er und Peter seien bei einem gemeinsamen Abendspaziergang von ein paar Schlägern aus der Gegend überfallen worden. Sie hätten Sammy in den Kanal geworfen, aber Peter habe sich gewehrt, was zur Folge hatte, dass er brutal zusammengetreten wurde, als die Gegenseite schließlich die Oberhand gewann. Das erklärte zwar die mehrfachen stumpfen Traumen an Peters Kopf, ein paar kleinere Fragen blieben aber offen. Zum Beispiel, warum Sammy von der Überwachungskamera eines nahe gelegenen Morrisons-Supermarkts beim Entwenden eines Einkaufswagens gefilmt wurde, mit dem er vor mehreren Zeugen einen reglosen Menschen Richtung Kanal schob, wobei er »huiiii« rief, um den Eindruck zu erwecken, dass er und sein Freund sich nur einen harmlosen Spaß erlaubten.

Auch die Blutspuren überall bei Sammy zu Hause gaben Rätsel auf; er hatte sicher putzen wollen, sobald er zurückkam. Sein gerissener Plan war wohl gewesen, die Leiche in den Kanal zu fahren, damit es wie ein Unfall aussah – betrunkener Schabernack unter Freunden, der ein tragisches Ende genommen hatte. Am traurigsten war eigentlich, dass Sammys alkoholgetränktes Gehirn den Plan zu dem Zeitpunkt wohl völlig logisch fand. Dummerweise kam zu seiner Unkenntnis jeglicher modernen Forensik und Ermittlungstechnik noch das Missgeschick, dass der sturzbesoffene Vollidiot gleich mit seinem verschiedenen Ex-besten-Freund in den Kanal gefallen war.

Wahrscheinlich sprach es für sein Geschick im Beschaffen von Alkohol während der Untersuchungshaft, dass er immer noch auf nicht schuldig plädierte. Wenn Catherine später anderen davon erzählte, lachten sie oft, aber sie selbst machte es stinksauer. Sie wusste, dass rechtsstaatliche Verfahren eingehalten werden mussten, aber gleichzeitig fragte sie sich, wie viel es den Staat wohl kostete, zu diesem vorbestimmten Schuldspruch zu kommen. Garantiert mehr als der Penner in seinem ganzen Leben verdient hatte. Der Scheißkerl wusste, dass er schuldig war, er wusste, dass er in den Knast kommen würde, aber er ließ sich von der Allgemeinheit das volle Programm bezahlen.

Vor ihr standen Leute in einem Pulk und sahen sich die Verhandlungsdaten an. Wie immer erinnerten Catherine die Hängemonitore stark an die auf dem Flughafen. Sammy konnte sich schon mal auf einen verdammt langen Urlaub einstellen. Als sie über die Köpfe hinweg die Augen von Monitor zu Monitor wandern ließ, sah sie eine vertraute Gestalt mit einem Aktenstapel unter dem Arm über den Flur laufen. Es war Dominic Wilson, der junge Star der Staatsanwaltschaft und Sohn des Erzfeindes genau dieser Institution, Ruaraidh Wilson, Queen’s Counsel. Er trug einen leicht silbrigen, anthrazitfarbenen Dreiteiler, der ihn gleichzeitig ein bisschen extravagant aber auch älter wirken ließ. An irgendetwas erinnerte er sie, und sie hätte sich in den Arsch beißen können, dass es ihr nicht sofort einfiel. Er ahmte den Stil seines alten Herrn nach. War es ein Witz, eine kalkulierte Beleidigung, oder deutete es vielleicht doch an, dass er seinem Vater näherstand, als viele Leute glauben wollten? Vielleicht ein bisschen von beidem. Hatte es eine Annäherung gegeben? Oder kann doch niemand jemals seinem Elternhaus entfliehen?

Er hielt den Blick gesenkt und hatte sie wohl nicht gesehen; oder vielleicht hatte er sie zuerst gesehen und absichtlich weggeschaut. Das hieße, dass er nicht mit ihr reden wollte, was sie wiederum in ihrem Verdacht bestärkte, dass es etwas Besonderes gab, worüber er nicht reden wollte.

»Guten Morgen, Dominic«, sagte sie und stellte sich ihm in den Weg.

Er tat überrascht.

»Ach, hi, Catherine. Wie geht’s Ihnen? Sind Sie wegen dem unglaublichen, schwimmenden Alki hier?«

»Genau, ich …«

»Hals- und Beinbruch«, unterbrach er sie. »Tut mir leid, keine Zeit. Hab selber gleich ’ne Verhandlung.«

»Okay, aber zu den Sälen geht’s da lang«, erinnerte sie ihn und warf einen kurzen Blick über die Schulter. »Wenn Sie noch Zeit für ’ne Kippe haben, haben Sie bestimmt auch Zeit für mich. Gehen wir!«

»Scheiße«, seufzte er und setzte beleidigt seinen Weg zum Haupteingang fort.

Sie wartete, bis er sich eine angezündet und daran gezogen hatte, denn sie wusste, dass sie vor seiner Nikotindosis nichts aus ihm herausbekommen würde.

»Wissen Sie, mit wem ich gestern geredet hab?«, fragte sie. »Mit Gary Fleeting.«

Er rollte die Augen, was bestätigte, dass er wusste, was kam.

»Und, wie geht’s ihm so?«, fragte er durch zusammengebissene Zähne.

»Na ja, für einen, der gerade mit so einer Menge Heroin erwischt wurde, sah er mir ehrlich gesagt ein bisschen zu frei aus. Was ist passiert, Dom?«

»Die Wege der schottischen Justiz sind unergründlich«, erwiderte er müde. Er ballte die Faust und öffnete sie wieder mit der Handfläche nach oben, als wäre etwas weggezaubert worden oder entflogen. Catherine kannte die Geste von Ruaraidh Wilson, der sie manchmal in Verhandlungen einsetzte, wenn er ein wichtiges Beweisstück plötzlich nebensächlich oder völlig irrelevant erscheinen ließ. Für einen, der angeblich das absolute Gegenteil seines Vaters sein wollte, ähnelte er ihm doch verdammt stark. Der Apfel war eindeutig nicht weit vom Stamm gefallen, was die Witze und Andeutungen Lügen strafte, seine hingebungsvolle Arbeit als Staatsanwalt sei ein Beweis für eine Affäre seiner Mutter. Solche Sachen erzählten sich die Polizisten, wenn sie sich über die okkulte Macht Ruaraidh Wilsons hinwegtrösten mussten, die immer wieder ihre stärksten Anstrengungen zunichtemachte.

Bezeichnenderweise hatten genau diese verbitterten Polizisten Dominic in schwierigeren Zeiten immer als Sohn seines Vaters akzeptiert. In seiner Jugend und Studienzeit hatte er, angeblich aufgrund seines schwierigen Verhältnisses zu Wilson père, gedroht, auf die schiefe Bahn zu geraten. Es gab ein paar Probleme mit Alkohol und harten Drogen, die auch zu einigen Festnahmen führten.

Wahrscheinlich wären auch die eine oder andere Verurteilung und eine ganze Reihe anzüglicher Schlagzeilen dabei herausgekommen, wenn gewisse ranghohe Polizisten sich nicht überraschend mitfühlend und diskret gezeigt hätten. Catherine war damals ziemlich empört gewesen, dass der arme, kleine, reiche Junge eine Extrawurst bekam, die jemandem aus weniger illustren Kreisen wohl nicht angeboten worden wäre. Andererseits brachte es wohl auch seine Schwierigkeiten mit sich, der Sohn eines so übermenschlich erfolgreichen, leicht verschrobenen und krankhaft arbeitsbesessenen Menschen wie Ruaraidh Wilson zu sein.

Mit der Zeit bekam sie Respekt vor der Zurückhaltung ihrer dienstälteren Kollegen. Sie hätten Wilson mit den Schwierigkeiten seines Sohnes ohne Weiteres blamieren und diskreditieren, ihm alles heimzahlen können, was sie aber nicht taten. Als Catherine über das Warum nachdachte, verstand sie, dass sie doch alle derselben größeren Idee verpflichtet waren, ob sie wollten oder nicht.

Oft fragte man sich, wie Ruaraidh Wilson manche Leute überhaupt verteidigen konnte, und seine Methoden konnten einen so zur Weißglut bringen, dass man fast über Selbstjustiz nachdachte. Andererseits kitzelte er aus einem Polizisten alles heraus. Und wenn man doch mal gegen ihn und seinen Voodoozauber eine Verurteilung durchbekam, verbrachte man sicher keine schlaflosen Nächte mit der Frage, ob man wirklich den Richtigen eingebuchtet hatte. Also brauchte die Gerechtigkeit einen Anwalt wie Wilson. Zumindest redete Catherine sich das ein – manchmal war es nämlich das Einzige, was sie davon abhielt, mitten in der Nacht aufzustehen, quer durch die Stadt zu fahren und sein Haus anzuzünden.

Ihre Kollegen hatten garantiert auch in irgendeiner Form eine Gegenleistung für ihre Diskretion in Doms wilden Jahren bekommen. Wilson hatte Zugriff auf geheimste Informationsschätze und ein legendäres Geschick im Verhandeln geheimer Deals. Mal stürzte ein Fall gegen einen Bösewicht ab, dann bekam die Anklage ein paar Monate später einen anderen geschenkt. Es fand aber nie jemand heraus, was Wilson getan hatte. Wie bei einem großen Zauberer war man immer dann am weitesten von der Wahrheit entfernt, wenn man glaubte, man habe das Rätsel gelöst. Genau wie er es wollte.

»Wenn Sie ›unergründlich‹ sagen, hört sich das für mich eher nach ›verdächtig‹ an. Klären Sie mich auf.«

»Regen Sie sich nicht darüber auf, Catherine«, empfahl er zwischen zwei Zigarettenzügen, die derzeit sein einziges Laster darstellten. »Das bringt doch nichts. War doch nicht mal Ihr Fall. Sparen Sie sich Ihre Energie lieber für Ihre eigenen Ermittlungen.«

»Tu ich ja. Ich hab ’nen toten Dealer in Gallowhaugh, und Gary Fleeting passt genau. Und selbst, wenn er es nicht war, steckt sein Chef Frankie Callahan knietief in irgendeiner Sache, das weiß ich.«

»Ich glaube, wir würden Fleeting beide lieber für Mord als Drogenbesitz wegschließen. Dieser Kelch wird nicht an ihm vorübergehen.«

»Tja, an mir geht auf jeden Fall gerade etwas vorüber, und zwar hinter meinem Rücken. Ich will im Bilde sein, bevor ich mir meinen Mordfall aufbaue.«

»Wenn Sie den Fall hier aufgebaut hätten, wär’s auch bestimmt was geworden«, sagte Dominic. Er wollte ihr eigentlich keinen Honig ums Maul schmieren, aber überzeugend hörte er sich auch nicht an. Er wollte sie ablenken.

»Blödsinn. Mit dem Fall war alles in Ordnung. Da gab’s an keinem Detail irgendwas zu mäkeln. Den haben Sie nicht wegen der Chance auf eine Verurteilung aufgegeben. Da gab’s politische Gründe. Ich wüsste natürlich gerne, welche.«

Er zog lang an seiner Zigarette, starrte dabei in den Regen und tat so, als würde ihn die Sache langweilen, doch Catherine wusste, dass er ihr nur nicht in die Augen schauen wollte.

»Darüber darf ich nichts sagen«, erklärte er schließlich.

Sie schwieg und zuckte mit den Schultern, als wollte sie es dabei belassen. Das war aber nur eine Finte. Er würde reden, weil sie genau wusste, wie sie ihn kriegen konnte.

»Das mag ja sein«, sagte sie mit einem Seufzen, »aber wenn Sie es mir nicht anders erklären, muss ich daraus schließen, dass es etwas damit zu tun haben könnte, dass Gary Fleeting und Frankie Callahan beide Klienten Ihres Vaters sind.«

»Ach, leck mich am Arsch«, zischte er. »Mein Vater hat so ziemlich jeden Gangster in Glasgow schon mal vertreten. Das ist jetzt wirklich kein allzu großer Zufall.«

»Sicher, nur sollte hier zum ersten Mal einer seiner Klienten von seinem Sohn angeklagt werden. Plötzlich werden alle Vorwürfe fallengelassen. Ich sag ja gar nicht, dass da irgendwas Krummes gelaufen ist. Ihre Seite hat sicher auch was bei dem Deal herausbekommen. Mich wundert nur, dass Sie …«

»Sie haben doch keine Ahnung, wovon Sie reden«, unterbrach er sie abrupt. »Was nehmen Sie sich eigentlich raus? Der Druck kam doch von Ihren Leuten!«

Catherines Freude darüber, dass sie ihm eine Antwort entlockt hatte, wurde vom Inhalt dieser Antwort zunichtegemacht.

»Meinen Leuten? Einer von der Polizei hat Druck gemacht, den Fall abzuweisen? Wer?«

Er schüttelte ganz schwach den Kopf, eine winzige Geste mit riesiger Bedeutung.

»Es war nicht meine Entscheidung.«

»Nicht Ihre Entscheidung? Es war doch Ihr Verfahren.«

»Dachte ich auch. Aber Sie haben recht. Plötzlich wurde das Ganze politisch und lag nicht mehr in meiner Hand.«

»Wer hat Druck gemacht, Dominic?«, hakte sie wieder nach.

»Das soll ich nicht mal wissen und weiß Gott nicht weitererzählen.«

Er wusste es aber, und wollte es ganz offensichtlich weitererzählen. Er sah so stinksauer aus wie sie. Dummerweise war seine Zigarette fast nur noch ein Stummel, und ihre beiden Verhandlungen fingen in ein paar Minuten an.

»Nun sagen Sie schon«, bat sie und legte ihm die Hand auf den Unterarm. »Wir sind doch auf derselben Seite. Wenn ich hinter Frankie Callahan her bin, haben wir doch beide was davon, wenn ich vorher weiß, wer mir die Schnürsenkel zusammenbinden will, wenn ich nicht aufpasse.«

Seine Augen blitzten wütend auf.

»Sie können sich die Stimmungsmache sparen. Diese Schweine haben mir als Kind den Kopf getätschelt.«

Er zog ein letztes Mal und schnippte die Kippe in den Wandeimer.

Scheiße, dachte Catherine. Das war’s. Aus, vorbei.

Sie gingen zusammen hinein, Dominic schritt zielstrebig durch die Eingangshalle, als wollte er sie abhängen. Catherine ging davon aus, nicht mal mehr einen höflichen Abschied zu bekommen, doch er blieb plötzlich vor seinem Saal stehen, und sah sich um, ob jemand in Hörweite war.

»Die Sache ist streng geheim, sehr heikel«, erklärte er. »Ich würde Ihnen zu gern alles sagen, und nichts lieber tun als Frankie Callahan anklagen, aber ich kann Ihnen den Namen nicht geben. Ich kann Sie aber darauf hinweisen, dass der Druck eine richtige Plage war.«

Damit drehte er sich um und schritt eilig durch die Tür, als wäre er im Gerichtssaal vor ihr sicher.

Weit oberhalb ihrer Gehaltsklasse, genau. Weit über seiner anscheinend auch, weshalb er ihr nichts sagen konnte oder wollte.

Dann merkte sie, dass er es gerade getan hatte.

Dass der Druck eine richtige Plage war.

Danke, Dominic.

Eine Heuschreckenplage. Locust.