38
Die Juan de Garay erreichte das 250 Kilometer breite La-Plata-Delta. Es war so seicht wie die Elbe. Sala war mit Ada an Deck gestiegen. Das Schiff rutschte über den schlammigen Boden. Die Schraube wirbelte den Grund auf, Schlamm vermischte sich mit Wasser zu zäh fließender Schokolade. Der Himmel spannte sich blau über das Land. Sie hatte ihr Stück Erde gefunden. Es war Sommer. In Deutschland würde man in ein paar Monaten Weihnachten feiern, die Menschen dort zitterten vor Angst. Sie fragten sich, ob der Friede vielleicht nur von kurzer Dauer war. Sie würde nicht mehr zittern.
Die Landungsbrücke wurde heruntergelassen, Schiffshupen ertönten, Motorengeräusche, ein babylonisches Stimmengewirr, unterbrochen von Pferdegewieher. Mit wackeligen Beinen und weit aufgerissenen Augen verließen die Menschen das Schiff und verloren sich in der Menge. Sala blieb stehen. Sie drehte sich suchend um. Ein Paar lief aufgeregt winkend auf sie zu. Vor ihnen standen Cesja und Max.
»Puh, hier stinkt’s ja ganz fürchterlich nach Brackwasser«, sagte Cesja, die viel jünger und gröber als ihre Schwester Iza war. Max trug einen hellgrauen Anzug, sein dichtes, dunkles Haar war mit Pomade zurückgekämmt. Wenn er lachte, sah er aus wie der berühmte französische Komiker Fernandel. Zähne wie ein Pferd, dachte Sala, als sie ausgerechnet in diesem Moment ein lautes Wiehern hörte.
»Da vorne ist das Hotel de Inmigrantes, da müssen wir jetzt erst einmal hin, um eure Einreiseformalitäten zu erledigen. Max …« Cesja bedeutete ihrem Mann mit einem kurzen Nicken, Sala die Koffer abzunehmen. In ihrer Resolutheit schien sie ihren Schwestern nicht nachzustehen.
»Dios mio, ist das Kind entzückend. Du bist ja eine echte Schönheit.« Sie drückte Ada einen Kuss auf die Lippen, die erschrocken zurückwich. Cesja runzelte die Stirn.
»Ganz die Großmutter. Wie heißt du denn?«
Ada sah sie mit geradem Blick an.
»Ada«, sprang Sala schnell ein.
»Das weiß ich doch, aber ich möchte es von ihr selber hören. Kannst du nicht sprechen, Ada?«
»Ich glaube, sie ist noch etwas müde von der Reise. Die ganzen Eindrücke, weißt du …«
»Na, das wird schon. Kommt. Du hast ja auch jahrelang nicht gesprochen, erinnerst du dich?«
Sala nickte schnell.
»Deine Mutter hat damals ein Theater gemacht, dios mio. Wäre Jean nicht gewesen, sie hätte wohl von früh bis spät irgendwelche vertrackten Übungen mit dir gemacht. Das war schlimm. Bueno, dein Vater war sowieso die bessere Mutter.«
Sie lachten. Sala nahm Ada auf ihren Arm.
Die Wohnung war nicht groß. Zwei Schlafzimmer mit eigenem Bad, ein Wohnzimmer, eine kleine Bibliothek und eine Küche, in der es nach allerlei fremden Kräutern roch. Ada wanderte an der Hand ihrer Mutter durch die engen, farbenprächtig eingerichteten Zimmer. Alles war in ein wärmendes Licht getaucht, wie sie es aus Deutschland auch im Sommer nicht kannten. Nicht einmal Madrid konnte da mithalten.
Am Abend nach ihrer Ankunft gaben Cesja und Max ein Fest zu Ehren ihrer Familie. Max war ein großartiger Asador. So nannten sie hier die Grillmeister. Jeder Argentinier verfügte über seine eigene Art, »al modo mio«, das Fleisch zuzubereiten. Ein erworbenes oder über Generationen weitergereichtes Wissen, einige Spezialrezepturen beim Marinieren. Cesja hatte verschiedene Vorspeisen, Salate und fein gewürzte Beilagen zubereitet. Während auf dem Grill ein großes Rumpsteak von der besten Rinderfarm des Landes vor sich hin brutzelte, kosteten sie von den saftigen, scharfen Chorizos, den Blutwürstchen, die hier Mocillas genannt wurden, dem Bries vom Kalb, das Cesja mit einem Salat zubereitet hatte, und den Riñones, den Nieren, in einer köstlich schmeckenden Senfsoße. Der Tisch bog sich unter den Schüsseln mit Mais, Reis, Nudeln und Kartoffeln. Noch nie hatte Sala solche Mengen auf einem Tisch gesehen. Den ganzen Abend fragte sie sich, was wohl mit den Resten geschehen würde, denn es war für sie ausgemacht, dass auch die Hälfte weit mehr war, als die kleine Gesellschaft an diesem Abend bewältigen konnte. Ada, die in Madrid kaum gegessen hatte, weil Iza sie immer nur mit trockenem Hähnchenfleisch füttern wollte und ihr dabei gleichzeitig vormachte, wie man jeden Bissen achtunddreißigmal kaute, probierte einfach alles, bis Sala ihr langsam Einhalt gebot, aus Sorge, das Kind würde sich aufgrund so ungewohnt großer Mengen vielleicht übergeben oder zumindest die ganze Nacht nicht schlafen können. Alle Gäste begegneten Sala mit Neugier und Respekt. Auch ihr Spanisch klang anders, weicher, melodiöser. Sie mochte die Spanier sehr, aber ihre Mutter war immer bemüht gewesen, sie von ihren Freunden oder Bekannten fernzuhalten. Diese künstliche Distanz hatte schon bei ihrem ersten Besuch, vor Kriegsausbruch, so befremdlich gewirkt, dass es Sala schwergefallen war, offen auf die Menschen zuzugehen. Bei Lola in Paris ging es besser, aber damals war sie noch sehr jung, gerade mal achtzehn, und die Franzosen waren von sich aus reservierter. Vielleicht waren es auch die großen Namen, die sie eingeschüchtert hatten, überlegte sie, als sie glücklich das Licht ausschaltete und Ada fest in den Arm nahm, aber nein, sie schüttelte den Kopf, drückte ihre Stirn gegen die ihrer Tochter, nein, in Berlin waren auch viele Persönlichkeiten bei ihrem Vater ein und aus gegangen. Sie erinnerte sich an Thomas Mann, Magnus Hirschfeld, Ernst Bloch, den ihr Vater schon vom Monte Verità kannte, ebenso wie Hermann Hesse. Wo war sie Else Lasker-Schüler begegnet? Am Monte Verità oder in Berlin? Sie konnte sich nur an ihre vielen Ketten erinnern und dass sie sie gerne auf den Schoß genommen hatte. Es war eine glückliche Kindheit gewesen, redete sie sich ein. Nur ihre Mutter hatte sie oft vermisst. Die ersten Jahre täglich, dann immer weniger. Ihr Bild verschwamm, als sie 1937 nach Madrid fuhr. Während sie langsam in den Schlaf fiel, fragte sich Sala, wann und womit die schwere Zeit, die nun zu Ende ging, begonnen hatte. Mit der Einsicht, dass es besser war, ihre Heimat zu verlassen, weil sie als Tochter einer Jüdin dort nicht mehr erwünscht war, oder mit der schmerzlichen Erkenntnis, dass ihre eigene Mutter sie verlassen hatte? Rückblickend, dachte sie, lag die Antwort in Madrid. Dort war aus einer schwachen Ahnung Gewissheit geworden. Nichts war so schlimm wie die Gleichgültigkeit einer Mutter, selbst die Judenverfolgung nicht. Insofern hatte Erich Blocher recht, dachte Sala, auch wenn er lange nicht so klug war, wie er zu sein glaubte. Erdrückender als das Schicksal, das man mit vielen teilte, war das Schicksal, das einen ganz allein betraf, der Moment, in dem sie für immer zu erkennen glaubte, wer sie war: ein Mensch, eine Tochter, die es nicht wert war, von ihrer Mutter geliebt zu werden. Und jetzt, hier in Buenos Aires, bei dieser so ganz anderen Schwester ihrer Mutter, verstand sie, nein, sie begriff es plötzlich, dass sie, Sala, nicht so sehr Halbjüdin, Jüdin oder Deutsche als das ungeliebte Kind ihrer Mutter Iza war. Ruhig lag sie da. Zum ersten Mal in ihrem Leben fühlte Sala sich traurig, und das war wunderlicher als alles, was sie bisher zu denken gewagt hatte.
Am nächsten Morgen sprang sie freudig in den Tag. Es gab viel zu erledigen. Nachdem sie Ada angezogen hatte, merkte sie, wie viel angenehmer es war, wenn man sein Kind nicht wie ein Weihnachtsgeschenk verpacken musste, wenn Luft und Licht ungehindert diesen kleinen Körper berühren konnten. Zuerst liefen sie hinunter zum Bäcker. Ada sprach zwar immer noch kein Wort, aber mit ihren Beinchen bemühte sie sich so eifrig, die Treppen hinunterzuhüpfen, dass es eine Freude war, ihr bei diesem konzentrierten Tapsen zuzuschauen. Als sie das Geschäft betraten, wuselte alles durcheinander. Alte, junge, mittelalte Frauen, alle redeten aufeinander ein, besprachen ihre alltäglichen Sorgen, nahmen jede neu hereintretende mit einem freundlich interessierten Seitenblick wahr, nickten oder lächelten, wandten sich wieder der Theke zu, deuteten auf dies oder jenes, kommentierten die Qualität der Ware. Ada stand mit weit offenem Mund da. So etwas kannte sie nicht. Was war das alles bloß. Ja, dachte Sala lächelnd, schau nur hin, und dann frag mich mal, ich werde dir alles erklären, jedes einzelne Teilchen beim Namen nennen, dir sagen, wie es schmeckt, was man alles braucht, um es zu backen, dann können wir die Bäckersfrau fragen, in welchen Ofen es geschoben wird, bei welcher Hitze und auch wie lange man warten muss, bis man es wieder herausholen darf. Wir leben jetzt in einem Land, in dem alle Fragen erlaubt sind. Sprich.
»Schau«, flüsterte sie Ada zu und hob sie auf den Arm, »sieht das nicht lecker aus?« Sie deutete auf ein Schokoladenbrötchen und bestellte gleich sechs davon. Dazu noch ein Brot, vier Stückchen Kuchen für den Nachmittag, zwei mit Obst, Apfel und Birne, einmal Käsekuchen und eine zartbitter dahinschmelzende Schokoladentarte.
Zurück in der Wohnung, deckte sie für alle den Tisch, immer noch außer Atem, nicht so sehr vom Treppensteigen als von den horrenden Preisen. Im Gegensatz zu Deutschland gab es hier zwar alles, aber auch um vieles teurer. Sie hatte sich für den Empfang, den ihnen Cesja und Max bereitet hatten, erkenntlich zeigen wollen, aber bei einem Blick in ihr Portemonnaie wurde ihr schnell klar, dass sie sich so etwas nicht oft würde leisten können.
Als Cesja und Max in die kleine Küche kamen, dampfte bereits der Kaffee.
»Mein Gott«, rief Cesja, »du darfst doch nicht so viel Geld ausgeben, mein Kind. Oder hast du Angst, bei uns zu verhungern?«
Lag in dieser Frage ein Vorwurf? Sala schüttelte den Kopf.
»Das macht doch nichts. Bald werde ich mein eigenes Geld verdienen, dann muss ich euch nicht mehr auf der Tasche liegen.«
Max lächelte. Er gab Cesja einen Klaps auf den Hintern.
»Lass das, du Sittenstrolch!« Sie schubste ihn lachend weg.
Sala war voller Bewunderung. So würde ihr Leben mit Otto auch aussehen, wenn er nur bald aus Russland zurückkäme.
»Die Deutschen, also die Juden, wohnen im Norden, in Belgrano, zusammen mit den Briten, im Süden die Italiener, und im Westen haben sich die Spanier niedergelassen. Belgrano erinnerte mich anfangs an Berlin-Westend, inzwischen sieht es dort eher wie in Charlottenburg aus, kennst du die Sybelstraße?«
Sala nickte. Cesja hatte den Stadtplan auf dem Küchentisch ausgebreitet und lachte ihr aufmunternd zu.
»Dort habe ich mal gewohnt.« Sie sah einen Moment schweigend vor sich hin.
»Also, wenn du Kontakt zur deutsch-jüdischen Gemeinde suchst, musst du nach Belgrano oder nach El Once, da ist es eher wie im Scheunenviertel, auf der Straße wird Jiddisch gesprochen. Alle halten zusammen. Viele sind schon Anfang der Dreißiger eingewandert. Vierzigtausend aus ganz Europa noch vor dem Krieg. Wir können uns glücklich schätzen. Ob in Belgrano oder El Once, die Gemeinde hilft jedem, der Arbeit sucht. Die sind hervorragend organisiert.«
Sala starrte hilflos vor sich hin. Was sollte sie darauf antworten? Sie hatte keinen Bezug zum Judentum, ihre Mutter hatte es ihr nie beigebracht. In Gurs hatte sie es versucht, aber wie sehr sie es sich auch wünschte, wobei sie nicht einmal wusste, ob sie das auch wirklich tat, es wollte ihr nicht gelingen, sie konnte sich der Gemeinde nicht nähern. Nur Mimi. Und Mimi war eine Ausgestoßene, eine Hure, eine, die keiner wollte, außer den Männern, die sie für ihre Dienste bezahlten.
Cesja nahm ihre Hand, als hätte sie ihre Gedanken verstanden.
»Iza wirkt oft wie ein kalter Fisch, man weiß nie so ganz, woran man bei ihr ist. Kennst du den Spruch?«
»Welchen?«
»Man weiß nie, wie die Fische küssen, unter Wasser sieht man’s nicht, und über Wasser tun sie’s nicht.«
Sie lachten.
»Sie ist, wie sie ist.«
Sala nickte.
Abends saß sie bei Kerzenschein an ihrem kleinen Schreibtisch. Ein Brief von Jean war eingetroffen. Ihre Augen flogen über die Zeilen. Sie dachte an seine feinen, langgliedrigen Finger, während sie dem elegant nach rechts fallenden Schwung seiner Schrift folgte. Ada blätterte in einem Bilderbuch, das ihr Cesja mitgebracht hatte.
»Überleg dir, Ada taufen zu lassen. Ihr lebt in einem erzkatholischen Land. Es wäre auch für dich das Beste, du wirst sonst schwerlich Arbeit finden. Spricht sie schon ein wenig? Bring ihr unbedingt Spanisch bei«, schrieb Jean.
Das versuchte sie ja, aber ihr Kind wollte einfach nicht sprechen. Sie beschloss, diesen Punkt in ihrer Antwort unerwähnt zu lassen, aber die Taufe sei eine gute Idee, schrieb sie Jean, sie würde es sich durch den Kopf gehen lassen. Sie bat ihn inständig um Neuigkeiten von Otto. Es müsste doch eine Möglichkeit geben, irgendetwas herauszufinden. Hier in Buenos Aires könnten sie sich im Nu eine neue Existenz aufbauen. Bei seiner Auffassungsgabe und seiner Intelligenz würde es ihm im Handumdrehen gelingen, hier unter diesen wundervollen Menschen Fuß zu fassen.
»In dieser einzigartigen Landschaft, unter der wärmenden Sonne wird er schnell die Qualen der Gefangenschaft vergessen. Für mich ist Gurs auch nur noch der Schatten einer fernen Zeit, der sich in langen Nächten über mich legt, wenn ich an Otto, wenn ich an dich denke und die Einsamkeit für einen kurzen Augenblick über mich hereinbricht, um mir zu zeigen, was ich gewonnen habe. Ich bin ein Glückskind, ich habe es immer gewusst.«
Es folgten leidenschaftliche Beschreibungen ihrer neuen Heimat. Zuletzt bat sie noch einmal inständig, Otto nicht zu vergessen, und erkundigte sich nach Jeans Gesundheit. Ob er genug esse und im Winter etwas Warmes zum Anziehen habe. Sie würde sicher bald Arbeit finden, dann könnte sie ihm Geld schicken oder einen warmen Mantel. Sie wusste doch, dass er so leicht fror. Zum Schluss drückte sie einen Lippenstiftkuss neben ihren Namen. Dann legte sie sich zu Ada und las ihr vor. Wie jeden Abend. Das war wichtig, sagte ihr Vater immer, und niemand wusste mehr über die wichtigen Dinge als er. Als Ada die Augen zufielen, löschte Sala das Licht. Bald warf sie sich von einer Seite zur anderen, starrte an die Decke oder sprang auf, um das Fenster zu öffnen. Draußen war es immer noch warm. November, dachte sie und schüttelte den Kopf. Wie kalt es jetzt wohl in Russland sein mochte?
Drei Tage darauf kam wieder Post von Jean. Er mochte ein eifriger Briefeschreiber sein, aber so bald hatte Sala keine neue Nachricht von ihm erwartet. Es musste etwas vorgefallen sein. Unruhig öffnete sie den Umschlag. Eine Karte fiel zu Boden. Sie nahm sie auf. Kein Absender. Ihr Herz stand still, als sie die Schrift erkannte. Sie richtete sich kerzengerade auf. Die Augen verloren in der Ferne, starrte sie auf die Karte. Es war seine erste Nachricht. Otto lebte. Sie wusste nicht wo, sie wusste nicht wie. Der Vater ihrer Tochter lebte. Der Mann, den sie liebte, lag jetzt irgendwo in Russland in eisiger Kälte. Fror er? Hungerte ihn? War er verwundet? Nichts dergleichen konnte sie den wenigen Zeilen entnehmen. Wahrscheinlich wurde die Post zensiert. Sala ließ sich auf das Bett sinken, sie spürte, wie ihr Bauch zitterte, Tränen liefen aus ihren Augen, tropften auf das Kopfkissen. Sie wandte ihren Kopf zu Ada, die neben ihr schlief.
39
1947. Weihnachten. Post. Gleich zwei Karten. Eine kam aus Berlin, von Jean, die andere von Sala, aus Argentinien. Seit zweieinhalb Jahren war er Kriegsgefangener. Der Krieg war vorbei. Nicht für ihn. Käme jetzt einer zur Tür hereinspaziert und sagte: »Noch zehn Jahre, Kamerad, dann geht’s zurück zu Frau und Kind«, er würde überlegen, was er tun, wie er diese zehn Jahre verbringen könnte. Aber es kam niemand. Seit zweieinhalb Jahren nicht. Vielleicht würde nie jemand kommen. Nach zweieinhalb Jahren die erste Postkarte von Sala. Warum hatte sie ihm bis dahin nicht geschrieben? Er hatte unzählige Karten nach Deutschland geschickt. War keine einzige angekommen? Sollte er das glauben? Oder war sie mit diesem Hannes zusammen? Oder waren ihre Briefe von der Lagerleitung einbehalten worden? Sie lebte in Argentinien. Sie schrieb, dass er nun Vater einer Tochter sei. Sie heiße Ada und sehe ihm ähnlich. Ada. Viel passte nicht auf so eine Postkarte. Ein Foto wäre hilfreich gewesen. So konnte er sich nichts vorstellen oder alles. Das Merkwürdige war nur, er stellte sich gar nichts vor. Es gelang ihm nicht. Kein Gefühl. Er konnte sich auch nicht in diese Welt hineindenken, in der sie jetzt alle lebten. Familie? Eine gemeinsame Zukunft? Was sollte das sein? Genauso gut könnte man ihn fragen, ob er an Gott glaube, nein, er glaubte nicht an Gott, auch nicht an das ewige Leben. Der Ewigkeitsgedanke bot nichts Verlockendes. Hier, in diesen Jahren, hatte er gelernt, der Endlichkeit etwas abzugewinnen. Das war seine Vorstellung von Erlösung, wenn es denn überhaupt eine gab. Der Tod bedeutete Erlösung. Darüber, dass es Menschen gab, die sich in ihrer Hilflosigkeit ein Leben nach dem Tod zurechtfantasierten, konnte er nur lachen. Hier, in diesen dreieinhalb Jahren, hatte er es endlich begriffen, hatte sich befreit von diesen absurden Wunschvorstellungen, die der Mensch mit sich herumschleppte. Und nun sollte er Hurra schreien, weil ein Kind geboren war? Täglich wurden Kinder geboren. Täglich starben Menschen. Ein Kreislauf. Was war an der Vorstellung, dass die ganze Welt im Kreis lief, so erbaulich? Wäre er schon früher mit dem Wissen ausgestattet gewesen, das er hier in der Gefangenschaft erworben hatte, ihm wären viele Fehler erspart geblieben. Er lachte. Dann lachte er gleich noch einmal, um sich zu vergewissern, dass diese fremde Stimme zu ihm gehörte. Man kam schon auf eigentümliche Gedanken hier. Es fehlte der Zuckerguss der Freiheit. Er konnte es den Leutchen da draußen nicht verdenken. Freiheit war immer noch der angenehmste Selbstbetrug. Von außen betrachtet zum Schreien komisch, von innen ein schleichendes Gift. Es war wie mit dem Kältetod oder dem Tod durch Ertrinken: Irgendwann gab man nach und fühlte sich wohl dabei. Wie oft hatte er das im Schnee gesehen? Der Kampf, die Verzweiflung, all das lag davor. Der Tod, den alle so kindlich verstockt fürchteten, der Tod war immer eine Befreiung. Das Leben war die eigentliche Qual. Natürlich brauchte es eine gehörige Dosis Selbstbetrug, um das auszuhalten, den ganzen Mist zu adeln, zu vergolden, mit Sinn zu beträufeln. Erbärmlich. Neulich hatte sich einer in der Baracke erhängt. Was für ein Idiot. Dachte er an die betroffenen Fratzen, mit denen alle an der Leiche vorbeigeschlichen waren, kam ihm jetzt noch die Galle hoch. Einer weniger. Na und? Im Krieg war das alltäglich gewesen. Viel mehr waren da gestorben. Viel mehr. Was sollte diese verdruckste Sentimentalität? Weil der Kamerad sich selber erledigt hatte? Tot war tot. Waren die letzten Kriegsmonate nicht auch der reine Selbstmord gewesen? Ein Lied, zwo drei vier. Er lachte. Langsam wurde ihm wohler. Vielleicht würde er hier weiter die Menschen verarzten. Er hatte sich einen guten Ruf erworben. Bisher war keiner unter seinem Messer gestorben. Wofür war es gut? Ja, da war sie wieder, die Frage aller Fragen, diktiert von Schwäche und Feigheit. Vielleicht für die Bauern der umliegenden Dörfer. Gesund konnten sie wieder ihrer Arbeit nachgehen, hoffen, dass ihre Familien nicht verhungerten, während sie von der sowjetischen Regierung ausgewrungen wurden wie trockene Handtücher. Das war, er musste es zugeben, eine großartige Perspektive. Dafür lohnte sich die Mühe. Er lachte. Ein Kind. Wenn er damals in der Kinderlandverschickung verhungert wäre oder erstickt, bei den täglichen Eisbädern, die ihm diese Drecksau verpasst hatte, dann wäre es eben so gewesen. Dass es nicht so gekommen war, lag am Überlebenstrieb. Das war kein Wille. Keine freie Entscheidung. Es war ein Trieb, der den Fortbestand sicherte, so wie der Sexualtrieb auch nichts anderes als Bestandssicherung war. Neulich war er wieder mal bei der Antifa gewesen. Die hatten sich in den letzten Jahren richtig gemausert, das musste man ihnen lassen. Was die alles an Fortbildungsmaßnahmen organisierten, Respekt. Da hatte er sich von einem Pfarrer einiges über Marx angehört. Seine Gesellschaftsanalyse war zwingend. Zugegeben. Die meisten interpretierten es zwar falsch, erklärte der Pfarrer, so wie Marx selber reihenweise falsche Schlüsse gezogen hatte, aber der Ansatz war nicht anders als genial zu nennen. Das ganze Problem lag nur in der Behauptung, dass seine Schriften wissenschaftlich seien, meinte der Pfarrer. Nichts war daran wissenschaftlich. So einen Käse konnte nur behaupten, wer nie wissenschaftlich gearbeitet hatte. Andererseits glaubte Otto nicht an Gott, das war auch so ein Käse. Alles, was Marx sagte, waren aus der Beobachtung gewonnene Erkenntnisse. Ein System, keine Wissenschaft. Das war der Betrug, dem sie alle brav auf den Leim gingen. Das leuchtete ein. Wie die Lemminge rotteten sie sich zusammen, um geschlossen, in Scharen in die nächste Katastrophe zu marschieren. »Wenn man lange genug am Braunen kratzt, kommt das Rote hervor«, hatte der Pfarrer gesagt. Der neue Staat war nichts anderes als eine Kopfgeburt. Warum Menschen, die Krieg, Gefangenschaft oder beides erlebt hatten, da mitliefen, war ihm schleierhaft. Ein Kind. Es galt, klare Verhältnisse zu schaffen. Er musste einen Schnitt machen. Wie ein Arzt, der sich entscheiden muss, ob er das Geschwür entfernt und dabei das Leben des Patienten gefährdet oder ob er aus Unsicherheit, Unwissenheit oder Angst nicht handelt und den armen Teufel seinem Schicksal überlässt. In welchem Fall trägt man die größere Schuld? Hier im Lager hatte er zweieinhalb Jahre Zeit gehabt. Hier war seine eigentliche Universitätszeit gekommen. Die Dissertation stand ihm noch bevor, aber er würde sich nicht abschütteln lassen, bis zum Ende nicht. Was sollte ihm da ein Kind? Eine Frau. Dieses Aufeinandergerutsche. Und dann, das große Glück? Liebe? Was war das? Eine Anhäufung von Erwartungshaltungen. Und Mascha? Ja. Mascha wahrscheinlich auch. Nur hatten sie es anders angefangen. Sie wussten, dass es keine Zukunft gab. Zwischen ihnen war alles endlich. Von Augenblick zu Augenblick. Die gemeinsame Arbeit mit Mascha hatte Nähe erzeugt. Ihre ruhigen Bewegungen, ihr klarer Blick, ihre Hingabe an die Patienten, sogar an Menschen, die Juden erniedrigt, gequält und vernichtet hatten. Das war das andere Russland. Keine Siegermacht, eine Kultur voller Lebensfreude und Traurigkeit. Menschen, die bereit waren, noch im Hunger zu teilen. Er hatte sich in Mascha verliebt. Sie redeten nicht über eine gemeinsame Zukunft, sie verglichen nicht ihre Vergangenheit. Sie lebten unter keinem Dach, wurden weder durch Mauern geschützt noch durch sie beschränkt. Sie waren einander über alle trennenden Gräben vertraut, oder klammerten sie sich nur aneinander, um das alles zu überstehen? Der Mensch versucht zu überleben. Sonst nichts. Im Hintergrund sang eine Gruppe zotige Lieder. Immer wieder grölten und lachten sie. Otto hielt sich die Ohren zu. Lügen und Lachen, um sich zu zerstreuen. Sonst nichts. – Ein Kind.
40
»Wisst ihr, was ich heute als Erstes unternehmen werde? Ich gehe zum Deutschen Konsul und werde einen Antrag stellen, dass man Otto gegen einen SS-Offizier austauscht.«
Die beiden sahen sie ungläubig an.
»Wie soll das denn gehen?«, fragte Max.
»Ganz einfach. Wirst du sehen. Otto hat mir versprochen, mich zu heiraten. Seinen ersten Antrag hat er mir 1938 gemacht.«
Sie saß mit Ada auf dem Schoß im Vorzimmer des Konsuls. Der Konsul selber war leider verhindert, aber sein Stellvertreter, also eigentlich dessen Assistent, Herr Dr. Grobeck, guckte sie ungläubig an.
»Und was möchten Sie da genau für einen Antrag stellen?«
»Ganz einfach«, sagte Sala und lächelte ihn strahlend an, »als Arier konnte er damals keine Halbjüdin heiraten. Wir wurden also beide um das Recht betrogen, unser Leben frei zu führen und den Menschen zu heiraten, den wir lieben. Da wir uns nicht daran gehalten haben, wurde ich eines Tages schwanger.« Sie deutete auf die kleine Ada, »Und nun stehe ich da, als unverheiratete Frau mit einem unehelichen Kind und noch dazu in einem sehr katholischen Land, wo so etwas nicht gerne gesehen wird.«
»Nein.«
»Nein?«
»Ich meine, ja, vollkommen richtig.«
»Das sehen Sie auch so?«
»Ja, aber …«
»Gut, dann setzen Sie das bitte so auf, ich unterschreibe, Sie auch, dann machen Sie noch ein paar schöne Stempel darunter und schicken es möglichst schnell an die Stelle in Deutschland, die so etwas bearbeitet.«
»Ja, aber …«
»Ach ja, und schreiben Sie bitte noch dazu, dass mein Mann, also mein zukünftiger Mann, nicht Mitglied der NSDAP war und auch in keinster Weise mit diesen Leuten oder irgendwelchen nahestehenden Organisationen sympathisiert hat.«
»Das klingt schon besser.«
»Sag ich doch. Mein Mann war schon als Jugendlicher Kommunist.«
»Das schreibe ich lieber nicht.«
»Aber schreiben Sie, dass er ein erklärter Gegner des Nationalsozialismus war. Er war auch nicht Berufssoldat.«
Doktor Grobeck nickte.
»Und, dass ich als alleinerziehende Mutter ohne abgeschlossene Berufsausbildung, die mir ja vom Deutschen Reich verwehrt wurde, eine Entschädigung von Deutschland verlangen würde, es sei denn, sie würden eben meinen Mann, also meinen Zukünftigen, gegen so einen SS-Heini eintauschen. Den Heini können sie natürlich streichen. SS-Leute gibt es ja in Deutschland immer noch genug, hoffentlich auch in den Gefängnissen. Bei diesem Tausch würde sich der Staat gleichzeitig die Prozesskosten für die Entnazifizierung sparen. Das wär doch was, oder?«
Der junge Assistent sah sie entgeistert an. Schließlich zog er schweigend ein Blatt Papier aus seiner Schublade, drehte es in seine Schreibmaschine und klapperte drauflos.
Als er fertig war, unterzeichneten sie beide, und er brachte Sala in ein anderes Büro, in dem sie alle notwendigen Unterlagen für eine längere Aufenthaltsgenehmigung ausfüllte.
Nach diesem erfolgreichen Vormittag spazierte sie mit Ada durch Buenos Aires.
Ein kurzes Hupen, quietschende Reifen. Beinahe wären sie in ein Auto gelaufen. Sala riss ihre Tochter erschrocken hoch. Verwirrt starrte sie den Fahrer an. Der zwinkerte ihr kurz zu, lachte und fuhr weiter.
»Dios mio, Ada, siehst du? Tante Cesja hat uns gewarnt, und ich Schussel hab’s mal wieder vergessen: Hier ist Linksverkehr. Bei uns in Deutschland fahren die Autos rechts. Nein.« Sie korrigierte sich lachend. »Hier bei uns in Argentinien fahren die Autos links, und im hässlichen Deutschland, wo es so kalt ist und die Menschen nie lachen, da fährt man rechts, und deswegen müssen sie alle auch fortwährend recht haben, weißt du?«
Ada lächelte verträumt.
»Guck mal, die vielen Schaufenster, die vielen eleganten Damen. Ich dachte immer, die hübschesten und am elegantesten gekleideten Frauen leben in Paris, aber schau mal, Ada, wie schön die Frauen hier sind und wie sie sich bewegen. Die Französinnen sind strenger. Deine Tante Lola, die Schwester von Großmutter Iza und Tante Cesja, die zieht die schönsten und reichsten Frauen in Frankreich an und nicht nur in Frankreich, sogar die Gräfin von Windsor kauft ihre Kleider nur bei ihr.« Einen Moment dachte sie wehmütig an Lola und Robert. Sie hatte nie wieder von ihnen gehört. Was wohl aus ihnen geworden war? Hoffentlich war ihnen nichts zugestoßen. Ihre Mutter wusste nichts. Sie musste noch heute Cesja fragen.
Links und rechts von ihnen ragten die Häuser hoch über die mit Zitronen und Orangen behängten Bäume in den Himmel. Die Prachtboulevards mit ihren klassizistischen Häuserfassaden verliefen von Querstraße zu Querstraße in exakt gleichen Abständen bis in die Innenstadt. Von einem zentralen Platz schossen die Straßen diagonal weg. Wie in Paris, Place de l’Étoile, dachte Sala, während sie die Menschen eine Treppe hinuntereilen sah, in die Subte, die Untergrundbahn von Buenos Aires.
41
Nach Wochen des Wartens hatte Sala drei Anfragen auf ihre Stellenanzeige bekommen. Das war für den Anfang nicht schlecht. Cesja kümmerte sich um Ada, und Sala zog voller Zuversicht los.
»Und sag nicht, dass du nicht verheiratet bist«, rief ihr Cesja hinterher.
Im Collectivo malte sie sich aus, wie wunderbar es wäre, vielleicht bald ihr eigenes Geld zu verdienen und unabhängig zu sein. In den ersten Wochen hatte sie es sich nicht eingestehen wollen, aber sie mochte Cesja nicht. Obwohl sie einander kaum ähnlich waren, fühlte Sala sich immerfort an ihre Mutter erinnert. War es der herrische Ton ihrer Stimme, die Art, wie sie alle Sätze knapp und harsch beendete, als würden die letzten Worte in einen dunklen Abgrund fallen? Nein, sie waren nicht wirklich willkommen, das fühlte sie, auch wenn sie nicht recht wusste, warum. Und dann dieser Max mit seinem Pferdegebiss. Bei Fernandel mochte das ja noch komisch aussehen, aber Max wirkte unheimlich, wenn sein breites Grinsen diese elfenbeinernen Hauer freigab. Eigentlich erinnerte er mehr an einen wilden Eber, der plötzlich aus irgendeinem Gebüsch hervorschoss. Immer tauchte er hinter einer Ecke der Wohnung auf, wenn sie es sich gerade gemütlich machen wollte. In seinem Blick lag etwas Gieriges. Jedenfalls war sie auf der Hut. Diese Ehe war bestimmt nicht besser als die ihrer Mutter. Irgendwie hatten sich diese Schwestern eigenartige Männer ausgesucht, mit Ausnahme ihres Vaters natürlich. Nur Lola hatte es besser getroffen, wenn auch ihre Ehe mit Robert etwas, nun ja, ungewöhnlich war. Ein verträumtes Lächeln huschte über Salas Gesicht. Beide hatten überlebt, wie sie von Cesja erfahren hatte, und Lolas Geschäft florierte mehr denn je. Nach dem Krieg hatte es nicht lange gedauert, bis die vornehmste internationale Kundschaft sich in ihren spartanisch eingerichteten Räumen im Haus 93 in der rue du Faubourg Saint-Honoré wieder auf eine Tasse Tee oder ein Glas Champagner traf. Vielleicht hätte sie doch lieber nach Paris zurückkehren sollen. Dort war das Leben am schönsten gewesen. Am Anfang zumindest. Mit Gurs waren alle ihre Träume zerbrochen. Vorbei mit den hochfliegenden Plänen. Vorbei das Studium an der Sorbonne, die Theaterbesuche, der Valse Musette, vorbei die Zeit mit Hannes. Das Schöne und das Schreckliche lebten bei ihr in enger Nachbarschaft.
Als sie am Tor stand, wurde sie unruhig. Vom Eingang aus war das Haus gar nicht zu sehen. Es musste weiter hinten auf dem parkartigen Grundstück stehen. Die meisten Villen in dieser Gegend lagen versteckt. Ob sie Angst vor Überfällen hatten? Die Familie suchte eine Erzieherin für den Nachwuchs. Das war besser als eine Stellung als Zugehfrau. Viel besser. Auch wenn Sala nicht recht wusste, was diese Leute von ihr erwarteten. Cesja hatte ihr geraten, alles möglichst offen auf sich zukommen zu lassen. Vor allem aber solle sie ja nicht zu bescheiden auftreten.
»Zeig ihnen, dass du aus gutem Hause kommst und dass du gebildet bist.« Tu dies, tu das und tu jenes nicht. Ihre Tante behandelte sie, wie ein dummes kleines Kind.
Ein livrierter Bediensteter kam ihr den langen Weg entgegen.
Das Wohnzimmer erinnerte sie an die Hallen der Grand Hotels in Paris. Alles wirkte ausgesucht europäisch. Große Ölgemälde, schwere rote Samtvorhänge, der Boden aus feinstem Marmor, darauf persische Teppiche, Möbel mit feinster Intarsienarbeit und skulpturalem Schwung. Alles atmete eine Opulenz, wie Sala sie in privaten Räumen noch nie gesehen hatte. Eine Tür öffnete sich. Die Dame des Hauses mochte in etwa in ihrem Alter sein. Sala stand auf.
»Nein, bitte nehmen Sie Platz. Möchten Sie eine Tasse Tee?«
»Nein, danke, Señora.«
Die Señora drehte sich zu einer Angestellten, die ihr in gebührendem Abstand lautlos und wie ein Schatten gefolgt war. Sala bemerkte sie erst jetzt.
»Bring uns bitte etwas Tee und Gebäck, Maria.«
»Sehr wohl, Señora.«
»Und hör auf mit diesem albernen ›sehr wohl‹. Du weißt, ich mag keine Unterwürfigkeit.«
»Ja, Señora.«
Sie lächelte, als das Mädchen verschwand.
»Maria ist erst seit wenigen Tagen bei uns. Sie muss sich noch daran gewöhnen, dass hier alles ein wenig anders ist. Wir brauchen gute Geister, aber keine Leibeigenen. Die Señora treib ich ihr auch noch aus.«
Sie lachte. Es war ein tiefes Lachen. Wie ihre raue Stimme kontrastierte es mit ihrer zarten, hochschießenden Erscheinung. Anders als die meisten Argentinierinnen war sie blond. Ihre Sonnenbrille trug sie wie ein Diadem. Eine Königin, das Gesicht voller Sommersprossen, auch auf den feinen, beringten Händen. Senffarbener Hosenanzug, grüne Lederpumps, keine Strümpfe. Eigenwillig, dachte Sala. Ein dezenter Moschusduft verwies auf ein Parfum aus dem Hause Guerlain. Wahrscheinlich Vol de Nuit. Lola trug es auch immer tagsüber.
»Ich heiße Mercedes.«
»Sala.«
»Wo kommen Sie her? Ihr Spanisch ist nahezu akzentfrei. Haben Sie in Madrid gelebt?«
»Meine Mutter wohnt dort, ich komme aus Berlin.«
»Berlin. Ich liebe diese Stadt. German auch. Mein Mann. Sein Name schreibt sich wie Deutsch auf Englisch.«
Sala verstand nicht gleich.
»German, aber gesprochen wird es Hermann. Ein schöner Name. Gab es nicht eine berühmte Schlacht, die nach ihm benannt wurde?«
»Ja, die Hermannsschlacht im Teutoburger Wald. Heinrich von Kleist hat ein Theaterstück darüber geschrieben.«
»Meine Kinder werden viel von Ihnen lernen. Wann können Sie die Stelle bei uns antreten?«
»Wann immer Sie es wünschen.«
»Sie können normal mit mir reden. Schließlich werden Sie meine Kinder erziehen. Wenn die merken, dass Sie vor mir kuschen, werden Sie sich schwerlich durchsetzen können.«
»Wie alt sind Ihre Kinder?«
»Fünf.«
Sala zuckte zusammen.
»Zwillinge. Ein Junge und ein Mädchen. Diego und Juanita. Damit habe ich alles erledigt, den Rest würde ich als Kür betrachten, wobei sich mein Ehrgeiz auf diesem Gebiet in Grenzen hält. Und der meines Mannes zum Glück auch. Mein Vater sieht das etwas anders. Sie werden die Familie noch früh genug kennenlernen. Haben Sie Kinder?«
Sala fühlte einen heftigen Stich.
»Ja, eine Tochter, sie heißt Ada.«
»Spricht sie auch Spanisch?«
»Sie spricht noch nicht.«
»Oh, ein Baby.«
»Nein. Sie ist drei. Ich glaube, die Nachkriegszeit und …«
»Sie wird es von Diego und Juanita schnell lernen. Was macht Ihr Mann beruflich?«
»Mein Mann ist in russischer Kriegsgefangenschaft.«
»Und dann fahren Sie so weit weg?«
»Ich … das ist alles etwas kompliziert …«
»Sie müssen mir nichts erklären. Sind Sie verheiratet?«
Sala schluckte. Sie wusste, dass diese Frage unvermeidlich gewesen war. Sie sah Cesja vor sich in der Küche stehen, als sie ihr eindringlich zu verstehen gab, dass man als Frau mit einem unehelichen Kind in Argentinien keine Arbeit finden würde. Jedenfalls nicht in einer anständigen Familie. Sie fühlte, wie sich ihr Herz zusammenzog. Ihr wurde schwindelig. Dann hörte sie ihre Stimme. Sie klang ruhig und entschlossen.
»Nein, es war …«
»Auch das müssen Sie nicht erklären. Sala, solange mit den Kindern alles läuft, müssen Sie gar nichts erklären. Haben Sie Erfahrung im Umgang mit Personal?«
»Wie meinen Sie das?«
»Sie kommen doch aus einem guten Haus, das habe ich gleich gesehen. Hatten Ihre Eltern Personal?«
Sala nahm ihren ganzen Mut zusammen.
»Meine Eltern sind Anarchisten, und sie leben seit Langem getrennt.«
Mercedes musterte sie interessiert.
»Dann werden Sie ja viel zu erzählen haben – an langen Winterabenden. Ich freue mich.« Sie stand auf. »Unser Peso verliert zwar täglich an Wert, aber Sie werden genug bekommen, um sich auch etwas leisten zu können. Das Finanzielle macht German. Er ist heute auf einer seiner Baustellen. Er ist, zum Leidwesen meines Vaters, Architekt.«
»Das ist doch ein wunderschöner Beruf, was hätte sich denn Ihr Vater gewünscht?«
Ein Sonnenstrahl blendete Mercedes. Sie schob ihre Sonnenbrille herunter.
»Sehen Sie, so mag ich das. Fragen Sie. Fragen Sie alles. Mein Vater ist Rinderzüchter, und ich bin seine ungezogene Tochter.« Sie lachte rau, dann streckte sie Sala die Hand entgegen. »Wir wollen Freundinnen sein.«
Sala nickte vorsichtig.
»Nicht so scheu.«
»Ich brauche am Anfang immer etwas länger.«
»Du gefällst mir.« Mercedes machte eine Pause. Dann sprach sie langsam und ruhig ihren Namen aus. »Sala.«
Sala lief der Sonne entgegen, geblendet von so viel Glück. Sie sah ihre Zukunft. Zum ersten Mal. Sie würde arbeiten, sie wusste zwar noch nicht wie, aber es würde ihr gelingen, zum ersten Mal in ihrem Leben niemanden mehr um Hilfe bitten zu müssen, niemandem mehr zur Last zu fallen, niemandem mehr dafür zu danken, dass sie hatte überleben dürfen, dass sie da sein durfte. Sie würde sich nicht mehr dafür entschuldigen müssen, dass sie etwas tat oder dass sie es nicht tat, sie würde ihre eigenen Gedanken denken. Alles war gekommen, wie ihr Vater es gesagt hatte: »Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch«. Der Satz flog durch die Luft. Sie war gerettet, tausendfach gerettet. Nie wieder, nie wieder würde sie einem Menschen diese Macht über sich einräumen. Ihre Mutter hatte sie in Madrid zum letzten Mal gedemütigt. Und die spitzen Bemerkungen von Cesja, damit war es nun auch vorbei. Mercedes hatte ihr die Freundschaft angeboten, ihr, einer unverheirateten, mittellosen Frau. Wie schön sie war. Vielleicht könnte sie ihr ihren Kummer anvertrauen. Sie hatte Zwillinge geboren. Sie würde sie verstehen.