25

Sala saß vor Dr. Wolffhardt im Ärztezimmer. Bevor sie etwas sagen konnte, legte er den Zeigefinger auf die Lippen, deutete mit knappen Gesten auf die Wände und auf seine Ohren. Sala verstand. Dann sprach er zu ihr in geschäftsmäßigem Ton, als handelte es sich um ein Einstellungsgespräch.

»Warum möchten Sie eine Ausbildung zur Krankenschwester bei uns machen?«

Dabei kritzelte er schnell etwas auf einen Zettel, den er über den Schreibtisch schob.

WIE GEHT ES INGRID UND ERNST?

Sala zuckte mit den Schultern.

»Mein Verlobter ist Arzt und versorgt unsere Soldaten an der Front.«

Sala schrieb auf den Zettel.

SIE WURDEN BEIDE VON DER GESTAPO ABGEFÜHRT.

Dr. Wolffhardt sah sie erschrocken an.

»Wie alt sind Sie?«

»Vierundzwanzig.«

Er nickte nachdenklich.

»Hat es Sie nie gereizt, selbst Medizin zu studieren?«

»Nein, ich wollte so schnell wie möglich meinem Vaterland dienen.«

»Was haben Sie bisher gemacht?«

»Ich habe mich um meine Eltern gekümmert. Beide sind schwer krank.«

»Wie lautet die Diagnose?«

»Eine angeborene Immunschwäche gegenüber einem Bazillus, den zu bekämpfen bisher nicht gelungen ist.«

Dr. Wolffhardt holte tief Luft. Sala sah, dass ihm die Tränen kamen. Er atmete tief durch, hatte sich wieder im Griff.

»Meine Frau leitet die Schwesternschule. Wir können motivierten Nachwuchs gut gebrauchen. Bitte bringen Sie Ihre Ausweispapiere mit.« Sala zuckte zusammen. Er lächelte und winkte ab, als wollte er sagen: »Machen Sie sich keine Sorgen.«

Am Nachmittag saß Sala auf dem Bett in einem Schwesternzimmer. Mopp Heinecke, eine kräftige junge Frau mit lachendem Gesicht, erklärte ihr den Tagesablauf.

»Morgens ist Chefvisite. Vorher müssen wir die Patienten waschen, wenn nötig Verbandwechsel et cetera pp. Alles halb so wild. Wirst du sehen.«

Sie half Sala, ihre wenigen Habseligkeiten im Schrank zu verstauen.

»Da rauschen sie dann mit wehenden Kitteln durch die Zimmer. Der Chef redet, die andern nicken wichtig, und wir passen auf, was zu tun ist. Immer nur reden, wenn du gefragt wirst, aber dich fragt am Anfang sowieso keiner. Und du fragst auch niemanden. Gehe nie zu deinem Fürst, wenn du nicht gerufen wirst.«

Sie lachte, wobei ihr ganzer Körper im Takt mitwackelte.

»Lass dich nicht beeindrucken, aber guck immer schön beeindruckt. Das mögen sie. Die Wahrheit ist: Den Laden schmeißen wir – und das wissen die Doctores auch, wenigstens die, die schon ein paar Jahre auf dem Buckel haben. Einen Rat noch: Wenn dir einer schöne Augen macht, womit sie bei deiner Figur nicht lange warten werden, verkauf dich nicht. Wer schnell aufsteht, wird auch schnell wieder sitzen gelassen. Und Finger weg von den Verheirateten! Das gibt nur Ärger.«

Sala konnte sich ein Lachen nur mühsam verkneifen. Mopp war das, was Otto eine Marke genannt hätte. Sie strahlte neben ihrer Lebensfreude eine Gutmütigkeit aus, die Sala verblüffte.

»Hast du schon einen Schatz?«

Sala nickte.

»An der Front oder hier?«

»Ich weiß es nicht.«

»Na, wenigstens eine, die ehrlich ist. Was ich hier schon für Märchen gehört habe, da wären die Brüder Grimm vor Neid erblasst. Wann hast du ihn denn das letzte Mal gesehen?«

»Vor drei Jahren.«

»Also gestern.«

Sie lachten.

»Und was macht der Herr, wenn er nicht Kanonenfutter ist?«

»Er ist Arzt beim Roten Kreuz.«

»Herrjemine! Und ich mach hier Witze über die Doctores. Dann bist du ja schon versorgt. Aber ihr seid nicht von hier, oder?«

Sala schüttelte den Kopf.

»Du?«

»Na klar, aus Sachsen, wo die hübschen Mädels auf den Bäumen wachsen. Nur gibt’s hier bald keine Bäume mehr, und Mädels haben wir jetzt schon zu viele.«

Wieder schüttete sie sich aus vor Lachen.

»Du hast doch bestimmt an jedem Finger drei«, sagte Sala.

Wieder lachte Mopp.

»Sagen wir’s mal so: Wenn ich jeden Antrag angenommen hätte, wär das Tausendjährige Reich gesichert. – Aber ich kann mich beherrschen, wenn’s drauf ankommt. Nee, nee, das hebe ich mir für bessere Zeiten auf. Weiß zwar keiner, wann die kommen, aber kommen müssen sie. Das ist Naturgesetz.«

Sala lachte.

»Ach, der Führer setzt auch noch die Natur außer Kraft.«

Mopp hielt mitten im Lachen inne.

»Pass bloß auf, vor wem du so was sagst. Auch in der Klinik haben die Wände Ohren. Hier sind fast nur Hundertprozenter unterwegs. Sei nett zu allen und vertraue niemandem.«

Sala senkte erschrocken den Blick. Warum hatte sie sich von Mopps Leichtigkeit mitreißen lassen? Noch hatte sie keine Papiere.

»Du stehst zwar unter dem Schutz von der Wolffhardt, der heiligen Maria, wie wir sie hier nennen, aber gerade deswegen musst du vorsichtig sein.«

Sala sah sie fragend an.

»Das wissen alle hier, dass die Maria ihren eigenen Kopf hat. Mehr sag ich nicht. Und mehr muss auch keiner wissen. Und besser ist, du behältst diese Freundschaft für dich. Keine schlafenden Hunde wecken.«

Als Sala zu später Stunde mit wachen Augen in die Nacht starrte, dankte sie dem Herrgott und ihrem Schicksal. Es war das erste Mal, dass sie betete, seit sie die Sankt-Ursula-Schule verlassen hatte. Ihren Glauben hatte sie damals verloren, aber schaden konnte es trotzdem nicht. Mopps rhythmisches Schnarchen wiegte sie sanft in den Schlaf. Mit halb offenen Augen schaute sie zu ihrer neu gewonnenen Freundin hinüber. Selbst im Schlaf schien sie noch zu lachen.

An ihrem zweiten Wochenende hatte sie Nachtschicht. Als sie am frühen Morgen erschöpft und zufrieden zum Schwesternheim schlurfte, sah sie ihre Chefin durch den Türspalt ihres Büros. Schwester Maria Wolffhardt. Sie schien Tag und Nacht zu arbeiten. Wann immer Sala dort vorbeilief, Maria war da. Sie war schlank, von großer Statur, durchscheinende Haut, ein slawisches Gesicht, eingefasst von hellrot leuchtenden Haaren. Während sie redete, schien sie gleichzeitig noch über etwas anderes, Wichtigeres nachzudenken.

»Sala?«

Maria hatte sie kommen sehen. Sala trat zu ihr.

»Ja?«

Maria hielt ihr einen Umschlag hin und bedeutete ihr, ihn zu öffnen.

»Ihren schönen Namen mussten wir leider gegen etwas Handfesteres austauschen.«

Sala klappte errötend ihren neuen Pass auf und las Christa Meyerlein. Meyer hätte es auch getan, dachte sie. Zum ersten Mal gefiel ihr ihr wahrer Name.

»Es gibt schlimmere«, sagte Maria mit einem Lächeln. Sala fiel ihr um den Hals.

Sala lernte schnell. Die einfachsten Tätigkeiten verschafften ihr Genugtuung. Beim Auswechseln der Bettpfannen und Urinenten, beim Verbandwechsel oder dem Aufziehen der Spritzen sah sie die Bedürftigkeit und freute sich über die Dankbarkeit ihrer Patienten.

Wenn der Krieg vorbei wäre – und irgendwann musste er ja enden –, dann könnte sie mit Otto zusammen in einem Krankenhaus arbeiten, ihn bei seinen Forschungen unterstützen. Denn das, so vermutete Sala, war sein Lebensziel, die Wissenschaft. Er wollte verändern, er wollte gestalten. Sie hatte ihm unter ihrem neuen Namen geschrieben. Sie war zwar keine Schauspielerin geworden, dafür spielte sie aber erfolgreich eine Doppelrolle. Tagsüber, auf den Fluren der Klinik, unter den Augen der Ärzteschaft, der Schwestern und Patienten, war sie Christa Meyerlein, unermüdlich, patent und zuverlässig; nachts, in ihrem Zimmer, wenn das Licht erloschen war und sich ihre Zimmergenossin Mopp nach Luft schnappend in ferne Paradiese schnaufte, verwandelte sie sich zurück in Sala, bereiste mit Otto die Welt, träumte von einem gemeinsamen Leben und manchmal, anfangs noch zaghaft, dann immer entschiedener, von einer Familie. Seit vielen Monaten fühlte sie zum ersten Mal etwas anderes als Angst. Vor ihr lagen unbekannte Räume, die darauf warteten, von ihr erobert zu werden. Dann wurde es dunkel, und die Tür fiel ins Schloss. Sie blieb zurück. Verstoßen. Allein.

26

Mopp hatte Nachtdienst, und obwohl Sala ihr nicht zugeteilt war, hatte sie, aus einer Laune heraus, beschlossen, ihr zu helfen. Sie tranken die letzten Tropfen aus der alten Kaffeekanne. Keine besonderen Vorkommnisse. Die Nacht verlief ruhig. Die alte Frieda aus Zimmer zwölf klagte über Kopfschmerzen und drohte, sich beim Chef zu beschweren, wenn sie ihr nicht auf der Stelle eine ordentliche Tablette geben würden. Aber Schmerzmittel waren knapp und Frieda sowieso nie zufriedenzustellen. Sie hatten sich nach ihrem letzten Rundgang ins Schwesternzimmer zurückgezogen. Der Stationsarzt schlief im Nebenzimmer den Schlaf der Gerechten, und Mopp gab Schwänke aus ihrem bunten Leben zum Besten. Sala biss sich in die Hand, um nicht vor Lachen laut zu schreien, während Mopp ihre sexuellen Erlebnisse mit den begabten und vor allem mit den weniger begabten Herren blumenreich ausschmückte.

»Das musst du aufschreiben, das musst du aufschreiben«, flüsterte sie aufgeregt und schüttelte den Kopf, die Hand auf Mopps Knie.

»Was soll ich dir sagen, mal zu lang und oft zu kurz, aber selten so, wie man’s braucht. Ein Trauerspiel, nur den Humor nicht verlieren. Aber weißt du, am schlimmsten, man soll’s ja nicht glauben, am schlimmsten sind dann doch die, die kein Ende finden. Himmelherrgott noch mal, ich bin ja geduldig, aber irgendwann hab ich denen dann den Finger popolär eingeführt und schwupp war’s erledigt.«

»Nein!« Sala starrte ihre Freundin an.

»Na, wenn ich’s dir sage.«

»Waren die schwul?«

Mopp schüttete sich aus vor Lachen. Dann stieß sie nach Luft ringend und in breitestem Sächsisch hervor: »Kindchen, bist du goldig.«

Die Alarmsirene heulte laut auf. Fünf Minuten später fielen die ersten Bomben. Alles geschah so schnell, dass die wenigsten Gelegenheit fanden, ihren Schrecken zu spüren.

Der junge Stationsarzt stolperte blond und mit seiner Hose kämpfend in den Flur, als Mopp und Sala bereits mit den ersten Patientinnen in den Keller flohen. Die Bomben sausten herunter. Kurz vor der Explosion hörte man sie dumpf aufschlagen. Manchen zerfetzte es das Trommelfell. In den Krankenzimmern, aber auch im Keller wurden Fenster und Türen vom Luftdruck aus den Angeln gerissen. Straße und Hof waren gelbgrün verstrahlt.

»Das ist noch schlimmer als im Oktober«, sagte Mopp, nachdem sie die letzte Patientin in Sicherheit gebracht hatten. »Pass auf die Neue aus Nummer fünf auf, das ist eine Hysterikerin, die kollabiert gleich. Stell dich davor, damit die andern sie nicht sehen. Ich hab keine Lust auf eine Massenpanik. Hier ist Wasser, flöß ihr was ein, aber nicht zu viel.«

In einer Ecke stand der blonde Arzt. Seine blauen Augen blickten verwirrt in ängstliche Gesichter.

»Herr Doktor, nehmen Sie ruhig Platz, wir kümmern uns schon«, sagte Mopp.

Sala bewunderte aus dem Augenwinkel, wie kühl und überlegt sie handelte. Jeder Handgriff saß. Keine Bewegung zu viel, keine zu wenig und alles in zügigem, aber wohl bemessenem Tempo.

Inzwischen hatte der Dachstuhl Feuer gefangen. Maria Wolffhardt stürzte in den Keller, vorbei an dem Raum, in den Sala gerade ein Krankenbett schob. Sala hielt kurz inne, dann deckte sie ihre ängstlich wimmernde Patientin zu und folgte Schwester Maria. Sie sah sie gerade noch weiter hinten in einem Labyrinth von dunklen Gängen verschwinden. Sala rannte los. Überall staubte es, die Detonationen folgten in immer kürzeren Abständen. Das ohnehin spärliche Licht fiel aus. Sala tastete sich an den Wänden entlang. Aus einem kleinen Raum fiel etwas Licht in den Korridor. Schemenhaft erkannte sie Schwester Maria. Sie machte sich an einer Wand zu schaffen. Auf dem Boden, dicht neben ihr, brannte eine Kerze, in deren Widerschein ihre roten Haare leuchteten. Sie schien etwas hinter einem Mauervorsprung zu verstecken, dann schob sie einen Aktenschrank davor. Als sie sich umdrehte, versteckte sich Sala hinter der nächsten Ecke. Sie sah Maria aus dem Raum heraustreten und bald in einer dichten Rauchwolke verschwinden, die von der Kellertreppe hinuntersackte und sich über den Gang ausbreitete. Sala sprang hinter Maria die Treppe hinauf. Sie kämpfte sich hustend durch den Rauch, verlor Maria aus den Augen, stolperte über die Trümmer, die bereits den Hausflur versperrten, und gelangte durch einen glühenden Funkenregen ins Freie. Maria lief über den Platz auf den gegenüberliegenden Eingang zu.

Der Angriff schien vorüber. Aus den Trümmern ragten flammende Häuserwände. Feuerwehr und Sanitätswagen heulten durch die Straßen. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite schlugen die Flammen meterhoch aus den Fenstern. Ein Kind wurde aus einer Wohnung im dritten Stockwerk in das Sprungnetz der Feuerwehr geworfen, ein Mann sprang, einen Säugling im Arm, hinterher. Aus der Klinik drangen mehrere Schüsse. Sala zuckte zusammen. Sie hörte Gebrüll und panische Schreie.

Dr. Wolffhardt kam aus dem linken Seitenflügel der Klinik gerannt. Sala erkannte sein angstverzerrtes Gesicht, er hielt einen Aktenordner unter die Achsel geklemmt, blieb vor seiner Frau stehen und fasste sie an den Schultern. Sie wechselten eilig ein paar Worte. Es wirkte, als wären sie sich nicht einig, was als Nächstes zu tun sei. Maria schüttelte gerade noch den Kopf, als die Fassade in ihrem Rücken von einer Bombe getroffen wurde und beide unter sich begrub.

Sala hielt schreiend im Lauf inne, dann sprang sie kreuz und quer fliehend über die Trümmer direkt der nächsten zusammenbrechenden Hauswand entgegen, die auf die auseinanderstiebenden Menschen herabstürzte. Ein Stahlträger rettete ihr das Leben. Er fiel über ihr auf ein vorschießendes Stück Mauerwerk und hielt einen weiteren Träger davon ab, sie zu zerquetschen. Ich bin nicht tot, hämmerte es durch ihren Kopf, ich bin nicht tot.

Im Schwesternhaus waren nur noch einzelne Räume bewohnbar. Die Gasheizung war zerstört, in vielen Zimmern fehlten die Fenster, der Dachstuhl war halb heruntergebrannt. Die Geräte sowie der Operationssaal in der Klinik waren erhalten geblieben. Bis zum Morgen waren die Löscharbeiten abgeschlossen. Trotz der eisigen Temperaturen wurde sofort mit den Arbeiten begonnen. Fenster wurden mit Pappe vernagelt, die Heizung notdürftig repariert. Bereits um acht Uhr gab es das erste Essen. Sala sah beeindruckt, mit welch ungebrochenem Eifer das vonstattenging. Beinahe gut gelaunt versuchte jeder zu helfen, wo er konnte. Der Schock war ihnen kaum anzumerken. Sie waren alle unschuldig, »Opfer des rücksichtslosen, mörderischen Terrors der Alliierten«, schimpften sie. Niemand schien einen Gedanken daran zu verschwenden, dass das Deutsche Reich der Welt den Krieg erklärt hatte. Die Ärzteschaft verabschiedete sich um zehn Uhr zu einer Lagebesprechung im Rathaus.

Am nächsten Tag kamen die Handwerker. Tischler, Glaser, Zimmerleute, Dachdecker. Das Militär stellte Baupioniere für die Aufräumarbeiten. Bald gab es wieder elektrisches Licht.

Die Mahlzeiten fanden für das gesamte Klinikpersonal im einzigen intakten Essraum im Kasino statt. Alle saßen zusammen, Ärzte und Schwestern bunt gemischt. Wenn Sala vorsichtig versuchte, über die Verluste zu sprechen oder gar direkt den Namen Wolffhardt erwähnte, spürte sie an den ausweichenden Blicken, dass manch einer Dinge zu wissen schien, über die er nicht zu reden wagte. Noch vor Ablauf der Mittagspause schlich sich Sala in den Keller. Hier hatte man noch nicht mit den Aufräumarbeiten begonnen. Schutt und Asche erschwerten das Durchkommen. Nachdem sie sich in den Gängen ein paarmal verlaufen hatte, gelangte sie zu dem Raum, in dem sie Schwester Maria kurz vor ihrem Tod beim Verstecken irgendwelcher Dinge beobachtet hatte. Sie wuchtete den eisernen Schrank zur Seite. Hinter dem Mauervorsprung entdeckte sie drei Aktenordner.

Als das Schwesternhaus wieder hergerichtet war, bezogen Sala und Mopp ihr altes Zimmer. Auf ihrem Bett schlug Sala zum ersten Mal die Aktenordner auf. Ihre Hände zitterten leicht. Zunächst konnte sie nichts Auffälliges entdecken. Die Patienten waren meist arische Kinder, kaum Juden, wie Sala anfangs vermutet hatte. Ganz gewöhnliche deutsche Namen und Vornamen. Der älteste Junge hieß Paul, er war vierzehn Jahre alt und wurde als schwachsinnig eingestuft. Wie in anderen Fällen lautete die Diagnose Idiotie. Sala las den Schriftverkehr der mittellosen Eltern mit der Klinik in Leipzig-Dösen. Nach verschiedenen Aufenthalten in anderen Kliniken waren die Kinder dorthin verlegt worden. Dort starben sie meist wenige Wochen oder Tage nach ihrer Ankunft. Überrascht bemerkte Sala, wie ähnlich Anamnesen und Krankheitsverläufe waren. Zuletzt wurden die Eltern über den überraschend eingetretenen Tod, mal bedingt durch eine Nasendiphtherie, ein anderes Mal durch einen Darmkatarrh, von der Klinikleitung informiert. Immer wieder wurde auf die angeborene Schwachsinnigkeit hingewiesen. Belegende Untersuchungen konnte sie in den Unterlagen nicht finden.

»Mopp?« Sala reichte ihrer Freundin einen Ordner. »Ich glaube, Maria war einem Verbrechen auf der Spur.«

Mopp beugte sich über die Unterlagen. Eine unheimliche Stille lag zwischen ihnen. In dem zweiten Ordner verdichteten sich die unglücklichen Zeichen. Mopp deutete mit dem Finger auf ein vorgefertigtes Schreiben. Oben links ein Stempel des Oberbürgermeisters der Reichsmessestadt Leipzig, Stadtgesundheitsamt Abt. IV.

Nach einem Runderlass des Reichsministers des Innern soll bei Kindern mit schweren angeborenen Leiden mit allen Mitteln der ärztlichen Wissenschaft eine Behandlung durchgeführt werden, damit die Kinder nach Möglichkeit vor einem dauernden Siechtum bewahrt bleiben.

Es ist beabsichtigt, Ihrem Kinde … … . . , welches seit Geburt schwere Schäden seiner Gesundheit trägt, eine Behandlung zukommen zu lassen, um bei ihm nach besten Kräften die vorhandenen Mängel ganz oder teilweise zu beheben. Auch in Fällen, die bisher als hoffnungslos gelten mussten, kann unter Umständen ein gewisser Heilerfolg erzielt werden.

Mit der Durchführung der Behandlung ist die Kinderfachabteilung der Heil- u. Pflegeanstalt Leipzig-Dösen betraut worden. Der Aufnahmetermin wird Ihnen von der Anstalt direkt mitgeteilt werden. Ich bitte Sie, sich auf die Aufnahme Ihres Kindes in die Krankenanstalt einzustellen und der unmittelbaren Ladung rechtzeitig nachzukommen.

Die Hilfe, die Ihrem Kinde gebracht werden soll, darf nicht an der Kostenfrage scheitern. Sofern Sie nicht selbst in der Lage sind, etwa mit Hilfe von Krankenkasse oder sonstiger Hilfskasse, die erforderlichen Kosten aufzubringen, bitte ich Sie, an einem der nächsten Tage hier vorzusprechen und sich beraten zu lassen. Wenn eine gesetzliche Krankenkasse im Rahmen der Familienhilfe zu Leistungen verpflichtet ist, ist mit dieser vor der Aufnahme in die Anstalt wegen der Kostenübernahme zu verhandeln und bei der Aufnahme des Kindes die Kostenzusicherung oder die Bescheinigung über die Ablehnung der Anstalt vorzulegen.

Im Auftrage

»Mopp.«

Sala kniete sich vor ihrer Freundin nieder. Sie schob ihr einen Ordner zu.

»Schau, was in den Krankenakten steht. Da: Aufnahme in die Heil- un. Pflegeanstalt Leipzig-Dösen am 3. März 1941, Diagnose Idiotie, verstorben am 17. März ebenda. Hier.«

Sie beugten sich gemeinsam über die Akten.

»Andere wurden nach Großschweidnitz verlegt und verstarben dort nach wenigen Tagen. Wozu eine Verlegung in letzter Minute? Das ergibt doch keinen Sinn. Außerdem ist Großschweidnitz keine Kinderklinik.«

Mopp blätterte weiter.

»Die meisten Patienten, die dorthin verlegt wurden, waren Erwachsene.« Flüsternd las sie die Diagnosen: »Reaktive Psychose, 10 Tage nach der Einlieferung im Alter von 22 Jahren verstorben. Und hier: aufgenommen am 3.10.43, Manisch Depressives Irresein, verstorben am 7.10.1943, das sind nur vier Tage. Kein Wort über den Krankheitsverlauf der angeblichen Lungenentzündung. Akute Psychose, aufgenommen am 17.11.1943, verstorben am 28.11., und so geht das weiter … seitenweise …«

»Was machen wir, Mopp?«

Sie starrten sich an.

»Wie meinst du das?«

»Wir müssen was tun.«

»Was hast du vor?«

»Ich werde um Verlegung nach Leipzig-Dösen bitten. Die brauchen bestimmt Schwestern dort.«

»Du bist Schwesternschülerin, Christa.«

»Na und, die brauchen auch Schülerinnen. Je weniger Ahnung jemand hat, desto besser für die, oder?«

»Sala …«

Sala blickte sie erschrocken an. Woher kannte Mopp ihren wahren Namen?

»Ich …«

»Was glaubst du, warum du in meinem Zimmer gelandet bist? Maria hat mir alles erzählt. Ich sollte dich unter meine Fittiche nehmen. Wer diesen Mist hier überleben will, ohne sich täglich die Finger schmutzig zu machen oder von früh bis spät wegzusehen, der braucht Verbündete. Maria und Rainer waren meine engsten Freunde.«

Sala fasste nach ihrer Hand. Für einen kurzen Moment ließ Mopp die Schultern hängen.

»Ich kannte nicht mal seinen Vornamen.« Sala presste die Lippen zusammen. »Anfangs dachte ich, der will was von mir. Weißt du, die denken doch alle nur an das eine, und mit dem Krieg wird das immer schlimmer.« Sie schaute zur Seite. Sie spürte, wie sich ihr Herz zusammenzog, Scham und ein Gefühl tiefer Zuneigung. »Ohne ihn wäre ich wahrscheinlich verhungert oder von der Gestapo aufgegriffen worden.«

Mopp schüttelte den Kopf.

»Rainer war anders«, sagte sie. »Maria auch. Sie waren das schönste Paar, das ich je gesehen habe. Dabei waren sie grundverschieden. Unter normalen Umständen hätte ich denen keine sechs Monate gegeben. Maria hat alles gemacht. Da blieb nie was liegen. Die meisten dachten, die hält sich für was Besseres oder so, aber die war mit dem Kopf immer schon weiter. Und Rainer … der war ein Idealist, voller Ideen, zu verträumt, um sie alleine umzusetzen. Aber mit seinen Augen konnte er dir direkt in die Seele gucken.«

Sala streichelte schweigend Mopps Hand. Sie, die noch im Schlaf zu lachen schien, starrte jetzt so dunkel auf die am Boden liegenden Aktenordner, dass Sala Angst bekam.

»Mein Vater war Polier, aufm Bau, der hat sich aus dem Staub gemacht, als ich unterwegs war. Ein Nazischwein, hat Mama immer gesagt. Und trotzdem hat sie ihm nachgeweint. Und irgendwann, da hat sie’s nicht mehr ausgehalten. Als ich nach Hause kam, hing sie am Fensterkreuz. Und mein Vater, der Dreckskerl, der hatte nichts Besseres zu tun, als sich flugs in meine Tante zu verlieben. Der kams auch zupass, war ja seit einem Jahr Kriegerwitwe. Da hatte ich dann nichts mehr zu lachen. Da ging’s dann los. Da hab ich nur noch Quatsch gemacht. Bin nachts um die Häuser gezogen, hab mich mit jedem eingelassen, der ein bisschen frecher war. Tja. Und dann kam in einer Nacht diese verfluchte Nazibande auf mich zu. Hatten sich Mut angesoffen. Zeigten mir stolz ihre Hakenkreuzbinden. Wollten was erleben. Zwölf Mann. Einer nach dem andern. Manche zwei- und dreimal. Die wurden immer wütender dabei. Und wütende Männer können öfter. Das habe ich in der Nacht gelernt. Ich hab einfach still gehalten und nicht hingeguckt. Vielleicht ein Fehler. Vielleicht hätte ich sie anspucken müssen. Schreien. Schlagen. Was weiß ich. Aber ich hatte Angst. Solche Angst. Schlimmer als bei den Bombenangriffen. Manchmal denke ich, das war das Gute daran. Ich habe längst keine Angst mehr. Ich hab mein Quantum gehabt. Mehr geht nicht. Und dann kannst du dich entscheiden, ob du als Trauerkloß durch die Gegend wackeln willst oder ob du lachst. Und wenn du lachst, tut’s da nicht mehr weh.«

Mopp deutete auf ihr Herz. Sala liefen die Tränen übers Gesicht. Sie streichelte immer weiter Mopps Hand.

»Weißt du, warum ich Mopp heiße?«

Sala schüttelte den Kopf. Mopp griff sich ins Haar. Langsam zog sie ihre Perücke vom Kopf. Nicht ein Flaum war zu sehen. Ihr Kopf war kahl.

»Als die mit mir fertig waren, habe ich alle Haare verloren. Überall. Und als ich das erste Mal mit meiner Perücke nach Hause kam, da hat meine Tante mich angestarrt, als wenn ich direkt aus der Hölle gekommen wär. Dann hat sie gelacht und gesagt, du siehst ja wie’n Mopp aus, mit dir könnt man direkt den Fußboden wischen.«

Es war still im Raum. Sala hörte nur noch Mopps regelmäßigen Atem. Zum ersten Mal lag in ihren Augen so etwas wie Wut. Und Hass. Dann strahlte sie plötzlich.

»Ihr kriegt mich nicht klein, hab ich gedacht. Ihr nicht. Und allen Freunden habe ich gesagt, dass ich von nun an Mopp heiße. So habe ich meiner Tante in die Suppe gespuckt. Und dann habe ich Rainer kennengelernt. Komisch. Bei dem wusste ich sofort, der ist anders. Und als ich Maria gesehen habe, da wusste ich, das ist meine Rettung.«

»Warum hat sie dir nicht von ihrem Verdacht mit den Kindern erzählt?«

Mopps Augen wanderten hinaus zum Fenster. Sala war, als würden sie eine Ewigkeit dort verweilen. Dann drehte sich Mopp zu ihr um.

»Maria wollte niemanden gefährden. Sie wusste, dass ich alles für sie tun würde, ohne zu fragen. Vielleicht dachte sie, mein Maß ist voll. Aber da könnte sie sich getäuscht haben.«

Das Lachen kehrte in ihr Gesicht zurück. Ein Leuchten legte sich über ihren kahlen Kopf. Dann fielen sie einander in die Arme. Sie hielten sich fest. Unendlich fest.

»Du darfst da nicht hin. Die sind stärker als wir«, sagte Mopp.

»Aber was können wir tun?«

»Ich weiß es nicht.«

Sala sah ihre Freundin an.

»Wenn wir nicht helfen, sind wir nicht besser als die.«

»Futsch bringen wir niemandem was.«

Die toten Kinder verfolgten Sala bis in den Schlaf. Nachts schreckte sie hoch, starrte oft bis zum Morgengrauen an die Decke, jeder Muskel ihres Körpers spannte sich. Danach schmerzte jede Bewegung. Die Tage schleppten sich an ihr vorüber. Fremd schaute sie auf ihr Leben, das schmutzig an ihr vorbeizufließen schien, bis sie, wie von einem Blitz getroffen, innehielt.

Sie rannte zu Mopp.

»Ich weiß jemanden, der uns helfen kann, ein Journalist, ich kenne ihn aus Paris.«

»Was hast du vor?«

»Ich gebe ihm die Aktenordner, er kennt die richtigen Leute. Er wird wissen, was damit zu tun ist.«

»Bist du sicher? Dieser Krieg hat schon Menschen umgedreht, von denen es keiner gedacht hätte.«

»Ich bin sicher. Ich schreibe ihm.«

»Weißt du, wo er wohnt?«

Sala sah sie überrascht an. Natürlich wusste sie es nicht.

Mitten in der Nacht warf Sala ein paar Zeilen aufs Papier, las das Geschriebene, zerriss es und begann von Neuem. Die Worte wollten nicht kommen. Der Ton war steif. Während sie es immer wieder versuchte, wurde ihr bewusst, dass sie Hannes in den letzten Monaten innerlich verbannt hatte.

In Gedanken suchte sie sein Bild. Der Bleistift führte ihre Hand. Wenige Striche später blickte sie in die Skizze seines Gesichts, erinnerte sich an die eine gemeinsame Nacht, an seine dunkel umrandeten Augen, verzweifelt und einsam, während sie einander fremd wurden. Auf der Zeichnung kippte sein Kopf nach links, ein spöttisches Lächeln um die Lippen, so wie sie es kannte, kurz bevor er sich streckte, um seine Gedanken scharf und pfeilschnell abzuschießen. Sie schob das Bild beiseite, strich mit der Hand über ein leeres Blatt, als wollte sie ein neues Kapitel aufschlagen, und schrieb.

Drei Tage später lag ein Telegramm auf ihrem Bett. Mopp hatte den Brief über das Büro an die Deutsche Presseagentur in die Reichshauptstadt geschickt.

ANKOMME MORGEN STOP HANNES

Stopp, dachte Sala, als wollte sie das Leben anhalten, stopp, rief sie ihrem Herzen zu, als er aus dem Zug stieg, eleganter und schöner als je zuvor.

»Stopp, Herr Reinhard«, sagte sie in seinem Rücken und warf sich in seine Arme, als er sich gespielt überrascht nach ihr umdrehte.

»Sie hier, Fräulein Nohl, was für eine anmutige Überraschung.«

Er warf seinen Hut in die Luft, um ihn mit dem Kopf wieder aufzufangen. Seine Hände fuhren durch ihr nachgewachsenes Haar, seine Lippen lachten spöttisch. Dann, ohne dass sie es hätte verhindern können, war alles um sie herum vergessen, als sie mitten auf dem Bahnsteig für einen Moment zusammenwuchsen, von Ewigkeit zu Ewigkeit.

Am nächsten Morgen war er verschwunden. Ein geplatzter Traum. Immer wieder schloss Sala die Augen, versuchte, diesen Schatten zu fassen. Wieder hatte er sich entzogen. Sie lag nackt auf dem Bett. Die Hände auf dem Bauch, blickte sie zurück in die kurze Nacht. Mopp kam herein.

»Sala, komm, alle warten unten, gleich ist Chefvisite.«

Sie setzte sich zu ihr.

»Was ist?«

»Ich bin eine blöde Kuh.«

»Schlechtes Gewissen wegen deinem Arzt?«

Sala schloss die Augen.

»Hm. Und die Akten? Kann der Spaßvogel damit was anfangen?«

»Er hat’s versprochen«, sagte Sala. Der Schmerz kam kalt und heftig. Sie sah Mopp lange an. Ihre Freundin lächelte wieder. Zwölf Männer, dachte Sala, alle Haare weg, worüber jammere ich hier?

»Ich zieh mich schnell an«, sagte sie.

27

Am Nachmittag kam ein Brief von Otto. Sein Stiefvater war gestorben, dem Antrag auf Fronturlaub wurde stattgegeben. Eine Woche. Sie dachte daran, wie sie vor vier Jahren in der Wohnung von Lola und Robert zur Tür gerannt war, als Célestine ihn angekündigt hatte. Wenige Wochen zuvor die erste Nacht mit Hannes. Und jetzt wieder. Keiner wusste von dem anderen. Was wollte das Schicksal von ihr? Diese Männer waren so verschieden und doch wie zwei Seiten derselben Münze. Kopf oder Zahl? Vier Jahre hatte sie nichts von ihm gehört. Wie er wohl aussehen mochte?

In seinem Brief stand nichts über den Krieg. Auch sie hatte über Gurs geschwiegen. Was sollte sie auch darüber schreiben? Am liebsten hätte sie ihm eines der kleinen Mickey-Mouse-Heftchen von Horst Rosenthal gezeigt. Da stand alles drin. Man konnte darüber nur lachen oder es machen wie Mopps Mutter. Sala schaute zum Fensterkreuz.

Sie war eine Stunde zu früh. Mopp hatte ihre Schicht übernommen. Ein Leben ohne sie konnte sich Sala gar nicht mehr vorstellen. Lola, Mimi, Mopp. Solche Frauen waren ihr in Berlin nicht begegnet. Eigenwillig, stark. Sie dachte an ihre Mutter. Sie stolperte, fast wäre sie gestürzt.

»Pass doch auf, du Huhn«, sagte ein Mann im Vorbeigehen und lachte.

Was bildete sich dieser Trottel ein?

Sie konnte sich nicht erinnern, je Mama zu ihr gesagt zu haben, nur einmal, in Gurs, im Schlamm, aber das war etwas anderes, da war sie allein gewesen. Was würde sie mit Otto unternehmen? Sie kannte die Stadt ja gar nicht. Seit vier Jahren war sie in keinem Museum gewesen, in keinem Theater, in keinem Konzert. Sie hatte keine Ausstellung besucht, war nie nachts und auch nicht tagsüber durch irgendwelche Straßen flaniert, hatte sich die Nase an keinem Schaufenster platt gedrückt. Nicht einmal ein Buch hatte sie gelesen. Sie hatte das Leben gegen den Krieg getauscht, ihr Fühlen, Denken und Handeln seinen Gesetzen unterworfen. Sie hatte nicht geahnt, wie viele Schattierungen die Farbe Schwarz unter dem Hakenkreuz bereithielt.

Endlich war es so weit. Ihre Füße bewegten sich mechanisch über den Bahnsteig. Sie hörte die Lok, eine Dampfwolke schoss in die Luft. Menschen stiegen aus den Waggons. Sie begann zu laufen, vorbei an den Fenstern, sah hoch zu den Körpern, die sich müde aus den Abteilen schälten. Er war nicht dabei. Wie konnte das sein? Er hatte es doch geschrieben. Der Zug kam aus Berlin. Ihr Blick flog hoch zur Bahnhofsuhr. Es war die richtige Zeit, der richtige Zug, der richtige Tag. Ihr Herz schlug schneller und schneller. Was war geschehen? Die letzten Passagiere drängten zum Ausgang. Weiter hinten standen noch ein paar trübe Gestalten. Ein älterer Mann bewegte sich auf sie zu. Sala ging ein paar Schritte weiter, hielt an, kniff die Augen zusammen, nein, er war nicht unter ihnen. Sie wollte sich umdrehen, spürte die Enttäuschung. Das war nur gerecht, sie hatte ihn belogen und betrogen, vielleicht hatte er es gespürt. Konnte sie jemand mit Hannes gesehen haben, damals in Paris oder vor ein paar Tagen hier in Leipzig? Irgendein Soldat, dem er mal ein Bild von ihr gezeigt hatte, der ihn dann warnte, das Ding geht fremd, lass die Finger davon. Hatte sie deswegen all die Jahre vergeblich auf eine Nachricht von ihm gewartet? Wenn er jetzt nur käme. Sie würde sich ändern. Nie wieder würde sie einen anderen auch nur anschauen. Es gab nur ihn, nur Otto, das wusste sie jetzt. Sie würde es ihm gestehen, alles, und er müsste ihr verzeihen. Sie würde ihn auch nicht nach seinem Leben in den vergangenen Jahren fragen. Sie waren doch noch jung, und es war Krieg, und da war die Angst.

In ihrem Rücken hörte sie einen schlurfenden Schritt. Sie wandte sich halb um, nein, der Alte, widerlich, nicht jetzt, wehe, er sprach sie an, sie würde sich nicht von irgendeinem Schwein anfassen lassen, mit seinem ausgehungerten Frontblick. Wären sie nicht ihrem Führer wie die Lämmer gefolgt, dann bräuchten sie jetzt nicht um Liebe zu winseln.

»Sala.«

Voller Wut und Verachtung drehte sie sich um.

»Sala?«

Woher kannte er ihren Namen? Was wollte dieser Glatzkopf von ihr?

»Sala.«

Nein. Das konnte nicht sein. Das war er nicht. Nicht Otto. Was hatten sie mit ihm gemacht?

Sie wankten durch die zerfetzten Straßen. Blieben stehen. Sahen sich wortlos an. Gingen weiter. Starr und leer. Brandruinen stachen aus dem Boden. Sehr langsam wich der Schreck. Die Glieder wurden weich. Er fasste nach ihrer Hand. Schloss sie in seine Arme. Sie sank schluchzend an seine schmale Brust. Ihr war elend. Sie fühlte sich frei. Otto, sie wusste es jetzt, Otto war ihr Schicksal. Sie hatte es sich nicht ausgesucht, aber jetzt, sie schwor es sich, jetzt wollte sie es annehmen.

Sie sprachen nicht von Gurs, nicht von Russland. Es regnete und regnete. Am Tag und in der Nacht. Vier Jahre ausgelöscht, verbannt und verloren in einem dunklen Kellergelass. Mitten auf der Kehrseite ihres Lebens. Hannes? Sein Name fiel. Mehr nicht. Das war genug. Ihnen blieben nur wenige Tage.

Sie saßen in Salas Stube. Mopp hatte den Tisch fein hergerichtet, bevor sie sich in die Nachtschicht verabschiedete. Es gab echten Kaffee und für jeden ein Stück Kuchen. Sala dachte an Dr. Wolffhardt, an Marias Aktenordner. Vielleicht wären sie bei Otto besser aufgehoben gewesen.

»Wie geht es zu Hause?« fragte sie, als sie Kaffee nachschenkte.

»Viel steht nicht mehr. Die Deutschlandhalle, die St.-Hedwigs-Kathedrale, die Deutsche Oper, das Theater am Ku’damm, halb Tempelhof, Haus Vaterland …«

Sala unterbrach ihn.

»Ich meine nicht die Stadt, Otto.«

Otto schwieg.

»Hast du meinen Vater gesehen?«

Er holte tief Luft.

»Es geht ihm einigermaßen.«

»Was heißt das?« Sie unterdrückte das Zittern in ihrer Stimme.

»Sie haben ihn in eine Falle gelockt.«

»Mit Jungs?«

Otto nickte.

»Er hat zehn Jahre Zwangsarbeit bekommen. In Berlin. In Spandau, bei Siemens. Er darf abends nach Hause. Immer noch besser als in irgendeinem Lager.«

»Was für Lager?«

»Die 175er stecken sie jetzt genauso ins Lager wie die Juden und die Zigeuner.«

»Wer sagt das?«

»Dr. Meyer, mein Chef beim Roten Kreuz.«

»Wie sieht er aus? Hat er genug zu essen? Warme Kleidung für den Winter? Wie spricht er? Hat er nach mir gefragt?«

Wieder nickte Otto.

»Neulich am Telefon, da wusste ich, dass etwas schiefgelaufen ist. Er sprach ganz distanziert und fremd mit mir, als würden sie ihn abhören.«

»Das tun sie bestimmt«, sagte Otto stumpf. »Ich habe ihm etwas Geld dagelassen. Er macht sich große Sorgen um dich, sagt, du sollst Deutschland so schnell wie möglich verlassen.« Er nahm ihre Hand. »Er hat recht, Sala, du lebst hier zu gefährlich.«

Stolz zeigte sie ihm ihren Pass.

»Christa?« Er sah sie an, schwieg, dann prustete es aus ihm heraus.

»Christa, du bist doch keine Christa, wer ist denn auf den Namen gekommen?«

Sie gab ihm einen Klaps, strich über die wenigen Haare auf seinem Kopf.

»Und deine Familie?« Sie hielt kurz inne. »Du bist viel schöner als früher.«

Otto lachte trocken.

»Vielleicht wachsen sie ja noch mal. In Russland sind ein paar Kameraden über Nacht weiß geworden, einer war gerade mal zweiundzwanzig. Schmutzig weiß, wie der Schnee. Über Nacht.«

Er biss in den Kuchen.

»Günter hat an der Ostfront seinen linken Arm und sein rechtes Bein verloren. Für Symmetrie ist gesorgt. Jetzt hockt er zu Hause am warmen Ofen und macht einen auf Kriegsheld, schwafelt von Eiswind und Pisse, die am Sack gefriert. Erbärmlich. Erna hat gesagt, er hat Vater immer wieder gedemütigt, weil der im Ersten Weltkrieg wegen einer Schusswunde am Fuß für untauglich erklärt wurde. Er hingegen habe Bein und Arm fürs Vaterland geopfert.« Otto schüttelte den Kopf. »Darüber, dass er schon beim ersten Einsatz verletzt wurde und seine Erfahrungen aus dem Schützengraben aus Landserheftchen stammen, schweigen alle solidarisch, der Günter ist eben ein Held. Ich könnte kotzen. Arme Inge. Hat sich von ihrem geliebten Führer auch was anderes erträumt. Jetzt ist ihr Schatz verkrüppelt, spielt Grand mit Vieren mit seinen Kumpels, weiß, was der Führer vorhat, schwadroniert über Politik, während sich das gesamte Pack mit Bier und Korn in den Heldenhimmel säuft. Arschgeigen.« Seine Augen füllten sich mit Tränen.

»An einem dieser Abende ist mein Vater wahrscheinlich hinten am Kachelofen in sich zusammengesackt. Keiner hat’s gemerkt. Erst als Mutter nach Hause gekommen ist. Da war er schon kalt und steif.«

Er wischte sich die Tränen aus dem Gesicht.

»Er hat uns alle verdroschen. Wir wären verhungert, wenn meine Mutter und ich die Familie nicht über Wasser gehalten hätten. Aber er war kein schlechter Mensch, er war nur einsam und schwach. In den Schützengräben des Ersten Weltkriegs vor Angst verreckt.«

Schweigend dachte Otto daran, wie sich sein Stiefvater ans Fließband geschleppt hatte, ein Toter zwischen den Kriegen, die eigentlich nie aufgehört hatten, ein Verstümmelter, der saufend den Weg nach Hause suchte, zu einer Familie, die ihn nicht verstand, einer Frau, die ihn nicht mehr achten konnte, zu Kindern, die, bis auf Inge, nicht seine eigenen waren und vor ihm zitterten. Ein Vergessener, der an den warmen Wänden eines Ofens Schutz suchte, auch wenn er die Kohlen nicht bezahlen konnte.

»Komisch, ich hätte es nie gedacht – ich glaube, ich habe ihn geliebt.«

In dieser Nacht liebten sie sich. Nach vier Jahren das erste Mal. Am nächsten Morgen musste Otto packen. Er fuhr zurück an die Front.