21

»Er blieb nur einen Tag und eine Nacht. ›Ein Augenblick gelebt im Paradies, wird nicht zu teuer mit dem Tod gebüßt‹. Schiller, oder? – Jedenfalls musste er am nächsten Morgen schon wieder zurück.«

»Wohin?«, fragte ich.

»Na wohin, wahrscheinlich an die Front, so genau weiß ich das nicht mehr, ja? Er war inzwischen Arzt beim Roten Kreuz. Hat niemanden im Krieg getötet. Immerhinque. Er war dann jedenfalls weg. Ich dachte ja, ich würde ihn in ein paar Tagen wiedersehen. Tja, falsch gedacht.« Sie schwieg. »Und dann, na jaaa, dann gab es diesen Befehl, jaa? – Alle Juden oder auch Deutsche, die aus Deutschland geflohen waren, mussten sich beim Vélodrome d’Hiver einfinden. Le Vel d’hiv. – Ich kann dir sagen … mein lieber Freund und Kupferstecher …«

Auf dem Band folgte eine lange, schier endlose Pause.

»Was hast du gemacht?«, hörte ich meine eigene Stimme in einem fremden, um Sachlichkeit bemühten Ton die Stille zerschlagen. Meine Mutter ließ sich nicht beirren. Sie folgte ihrem eigenen Weg, in ihrem eigenen Rhythmus. Zehn Minuten Schweigen. Es stand mir frei, sie für meine eigenen Bilder zu nutzen.

Hannes Reinhard tauchte auf. Ein einziges Mal bin ich ihm begegnet. In Frohnau. Ich war vielleicht fünf Jahre alt. Ich holte ihn ab, mit meinem Fahrrad preschte ich zu dem kleinen Hotel, in dem er mit seiner Frau für eine Nacht Quartier bezogen hatte. Ich wusste nichts. Nur: »Übermorgen kommt Hannes mit seiner Frau. Eine Heldin.« Das war’s. Nicht mehr, nicht weniger. Er war mir vom ersten Augenblick an suspekt. Die Mikrosignale waren angekommen, auch wenn ich sie nicht deuten konnte. Sie kamen zur Tür herein. Hannes breitete die Arme aus. Er lachte laut den Namen meiner Mutter. Dann küsste er sie auf den Mund. Meine Augen flogen zu meinem Vater. Ich verstand sein Gesicht nicht. Meine Mutter hatte wohl auch noch »Hör auf!« gerufen, aber sie hatte dabei gelacht. Ihre Stimme holte mich jetzt wieder zurück.

»Lola hat mir abgeraten, dorthin zu gehen. Aber in Paris bleiben konnte ich auch nicht. Grand malheur de Caque. Aaaber, Lola hatte ihre Beziehungen und so bekam ich eine Adresse in Marseille. Dort würde man mir weiterhelfen.«

»Wie?«

»Na, du stellst Fragen. Ausreisepapiere oder so, was weiß ich denn? Ein Visum und ab nach Amerika. Freiheit und Abenteuer. Also habe ich meine Sachen in eine Tasche gepackt und bin zum Bahnhof. Ach ja, und mit mir kam Arlette. Die musste eigentlich gar nicht mit, sie war ja Französin, also nicht direkt ›Indésirable‹, aber eben Jüdin, auch nicht mehr ganz so wohlgelitten. Eigentlich haben die Franzosen die Juden ja nie gemocht, aber sie waren immerhin tolerant. Arlette kam also mit. Und was soll ich dir sagen? Irgendwann ging das mit den Zügen nicht mehr so … was weiß ich, jedenfalls haben wir uns dann … wir … also auf der Landstraße haben wir dann … hat uns dann so ein Lastwagenheini mitgenommen. Der war eigentlich ganz nett. Also ich hab Schlimmere gesehen, wenn du weißt, was ich meine.«

Ich wusste es nicht, beschloss aber, nun nicht mehr mit Fragen zu unterbrechen.

»Ja. Und irgendwann muss der dann aber doch Lunte gerochen haben und kam uns komisch. Nein, nein, nein, Bürschchen, habe ich mir gedacht, ich such mir meine Männer immer noch selber aus, und beim nächsten Bahnhof habe ich ihn höflich gebeten, uns wieder rauszulassen. Das war in … in … ach, ich weiß es nicht mehr. Und dort ist es dann passiert.«

»Was?«

»Was?«

Hatte ich zu unbedacht nachgefragt?

»Nein, nichts.«

»Nichts? Na, da bist du aber auf dem Holzweg. Ich sage dir, was passiert ist. Alles war gut, ja? Wir sind los, per pedes, versteht sich, der Zug war ja nur Ausrede und dann, nach einer geschlagenen Stunde, sagt Arlette plötzlich … na, was sagt sie? – Sagt, sie habe ihre Tasche am Bahnhof stehen gelassen. Ja gibt es denn so was? Lässt die einfach ihre Sachen stehen und liegen? Mitten im Krieg! Na ja, nun wollte sie unbedingt zurück, ihr Schmuck, ihr Geld, ein Bild ihrer Eltern, was weiß ich. Gehen wir eben zurück, habe ich gesagt. Du kennst mich. Ich lasse niemanden im Stich. Mitgefangen, mitgehangen. Ja. Und so kam’s dann auch. Kaum waren wir am Bahnhof, wurden wir festgenommen und getrennt verhört und … tja, ich habe sie nie wiedergesehen. Der Lastwagenheini muss uns verraten haben.«

Ich saß vergraben in die hinterste Ecke unseres Sofas. Neben mir das große Bogenfenster. Draußen fiel Schnee. Dicke, sechsarmige Kristalle legten sich auf den gefrorenen Rasen. Ich versuchte, sie mir hundertfach vergrößert vorzustellen, wie sie bei hohem Aufwind durch die Erdatmosphäre taumelten, aufschmolzen, um neue, weniger symmetrische, vielleicht auch komplexere Mischformen zu bilden. Auf meinem Schoß lag mein Mobiltelefon. Ich vergrub mich in die Aufnahmen und hörte die Stimme meiner Mutter über den Kopfhörer.

»Allez, vite, vite.«

Aus ihrer Erzählung wehte mir der wilde Duft von Olivenhainen entgegen, das tröstende Gefühl einer über jedes Leid erhabenen Natur.

Hinter ihr lag Paris, lagen zerstörte Hoffnungen, während sie mit anderen Frauen, eingepfercht wie bei einem Viehtransport, auf der offenen Fläche eines Lastwagens aus dem Rhônetal gebracht wurde. Vorbei an Äckern, Wiesen, und lachenden Häusern im Morgennebel, hinein in die dunkle Trostlosigkeit eines drei Kilometer langen Lagers, Baracke dicht an Baracke, Brett fest an Brett genagelt, keine einzige Pflanze, nur Regen, Schlamm und die fragenden Gesichter ausgehungerter Frauen hinter Stacheldraht, die ihnen zuriefen: »Woher kommt ihr?«

Hinter der Regenwand glitzerten die Pyrenäen.

Andere hatten über Sala entschieden, auch ihre neue Heimat hatte sich ergeben. Wieder hatte sie die Herrschaft über ihr Schicksal verloren. Während sich ein düsterer Schleier über sie und die anderen Frauen legte, fühlte sie sich, nicht von den Franzosen, nein, wohl aber von ihrem neuen Staat verraten. Indésirable. Unerwünscht, heißt es auf Deutsch, aber in dem französischen Wort désir klingt das Begehren an. Der Mensch mag es ertragen, nicht erwünscht zu sein, aber nicht begehrt zu werden, bedeutet verdammt zu sein. Wie konnte man ohne begangenes Unrecht in die Hölle geworfen werden?

Herausgerissen aus ihrer schützenden Gemeinschaft, wurden die Frauen von der Ladefläche des Lastwagens in eine ungewisse Zukunft abkommandiert. Die Sprache des Lichts und der Freiheit klang hier ebenso kalt wie auf einem deutschen Kasernenhof.

»Suivez-moi.«

Die Frauen packten ihre Taschen, Koffer und Säcke, um einer drahtigen kleinen Frau durch den aufgeweichten Matsch zu folgen. Mit ihren antreibenden Befehlen peitschte Madame Frévet sie zu Baracke 17.

Die Baracke befand sich inmitten eines mit Stacheldraht umzäunten Blocks, dem Ilot. In jeder Baracke lebten sechzig Frauen, tausend in jedem Ilot, neunzehn bis zwanzigtausend im gesamten Lager. Jede dieser Baracken war etwa fünfundzwanzig Meter lang und fünf Meter breit. Ein mit alter Dachpappe gedecktes Satteldach, alle vier Meter eine kleine Luke mit aufstellbaren Holzklappen, keine Fenster.

Die Tür wurde aufgestoßen. Erschöpft stolperten die Frauen hinein. Auf jeder Seite lagen dreißig Strohsäcke. Keine Decken, kein Tisch, keine Bank, kein Stuhl, kein Geschirr, nicht einmal ein Nagel, um seine Habseligkeiten aufzuhängen.

Eine rundliche, groß gewachsene Frau kam ihnen entgegen. Sie begrüßte Madame Frévet, die ihr eine Liste in die Hand drückte.

»Demain matin.«

Die Surveillante machte leicht schwankend auf dem Absatz kehrt und verließ die Baracke.

»Soyez les bienvenues, ich bin die Sabine.«

Sie war die Verantwortliche in der Baracke, wirkte aber recht umgänglich. Sie wies jeder ihren Strohsack zu, auf den sich die Frauen fallen ließen, froh, für einen Augenblick die müden Glieder auszustrecken.

»Le diner est à six heures.«

Sala kuschelte sich in den Cashmeremantel von Lola. Sie hörte die Stimme ihres Vaters. Ihre Augen fielen zu.

Fliegen krabbelten gierig über Salas Gesicht. Ihre verklebten Augen öffneten sich zuckend zu Schlitzen. Mit den ersten Sonnenstrahlen breitete sich eine stinkende Hitze in der Baracke aus. Zu den Fliegenschwärmen gesellten sich jetzt die Stechmücken auf der Suche nach ihrem Frühstück. Die Frauen hingen matt herum, streckten ihre blutarmen Glieder. Es wurde geflüstert, um den Neuankömmlingen noch etwas Ruhe zu gönnen. Sala blickte zum ersten Mal in das Gesicht ihrer Nachbarin. Ein hübsches Gesicht, ein bisschen verloren, dachte sie, aber nicht verkehrt.

»Comment tu t’appelles?«

»Sala. Et toi?«

»Solange. Mais tout le monde m’appelle Mimi.«

»Mimi?« Sala sah sie überrascht an.

»Nom de guerre, erklär ich dir später. Hast du Hunger?«

Und ob Sala Hunger hatte. Ihr Magen meldete sich krampfartig, während sie noch darüber nachdachte, was Mimi wohl mit »nom de guerre« gemeint haben könnte und wie beruhigend ihr südfranzösischer Akzent klang. Mimi kam aus Marseille. In Paris hatte sie sich anfänglich ihren Lebensunterhalt im corps de ballet der Folies Bergère verdient.

»Eine schöne Karriere«, sagte sie lachend, aber dann kam die Liebe und mit ihr das Verhängnis.

»Ich habe mich immer in Schufte verliebt. Je gemeiner sie zu mir waren, desto mehr habe ich sie geliebt.«

Ihr Lachen war von entwaffnender Offenheit. Dieses Mädchen wirkte trotz allem, was Sala in den nächsten Minuten staunend erfuhr, wie eine engelsgleiche Unschuld. Von den Folies Bergère war sie durch Antoine in einen Nachtklub geraten. Dort verdiente sie besser, musste aber auch lernen, den unterschiedlichsten Kunden, die Antoine ihr zunächst als gute alte Bekannte vorstellte, zu Diensten zu sein. Als sie merkte, dass er noch andere Pferdchen in seinem Stall hatte, gab sie ihm einen Tritt, schnürte ihren Rucksack, den ihr ein alter Seemann in Marseille nur für ihre schönen Augen geschenkt hatte, und suchte ihr Glück auf der Straße.

»Und dann wurde aus dem tanzenden Schwan eine Bordsteinschwalbe.«

Sie ging auf den Strich und war stolz darauf. Die anständigen Frauen, von deren Unzulänglichkeiten sie allzu regelmäßig hörte, ahnten ja nicht, wie viele Ehen durch ihren Berufsstand gerettet wurden. Sie unterteilte die Frauen in zwei Kategorien: Die einen wollten einen braven Mann, der sich bald als langweilig und glitschig entpuppte, die anderen warfen sich einem Filou an den Hals, beide in der stolzen Gewissheit, sie und nur sie würden diese missratenen Hurensöhne im Handumdrehen in tapfere, treue Ehemänner verwandeln. Und so küssten und küssten sie, aber Frösche blieben Frösche, Frauen wurden Kröten, und Prinzen und Prinzessinnen gab es nur im Märchenland.

»Männer sind eine Katastrophe«, sagte sie ernst und schickte noch ein schelmisches »immer« hinterher. Aber sie könne beim besten Willen nicht verstehen, warum Frauen, die ja bekanntlich ein Faible für Katastrophen und Tragödien hätten, immer wieder ihrer eigenen Doppelmoral zum Opfer fielen. Nähme man die Männer in ihrer ganzen Unzulänglichkeit an, dann lebe es sich bedeutend besser.

»Was muss, das muss.«

Und bloß keine Illusionen, damit teere man nur den Weg zur Hölle. Das Thema war für sie beendet. Mit einem knappen »viens« nahm sie die verdutzte Sala bei der Hand. Ja, sie sei zu allem Unglück auch noch Jüdin, versicherte sie ihrer neuen Freundin, als sie über den von der Sonne getrockneten Schlamm kraxelten, unter dem die Feuchtigkeit immer wieder hochsuppte.

Erst kein Glück, und dann kommt auch noch Pech dazu, dachte Sala, als sie vor den Latrinen standen. Mimi hielt die Reihenfolge »erst scheißen, dann waschen« für lebenswichtig. Sala würde spätestens beim ersten Regenguss begreifen, warum.

»Im Schlamm!«, sagte sie in indigniertem Ton und geriet über den leider Gottes schwulen Schauspieler Louis Jouvet ins Schwärmen, der diesen Satz in seiner Rolle als Pfarrer zum geflügelten Wort gemacht hatte. »Dans la boue!« Mit großer Geschicklichkeit ahmte sie den Tonfall Jouvets und das Waten im Schlamm nach. Bei Regen galt es, alle unnötigen Gänge zu vermeiden. Eine ältere Dame, die, aus Scham, sich vor den anderen zu entblößen, immer als Erste am Waschtrog stand, sei durch das ständige Hin und Her zwischen Waschtrog und Latrine eines Tages im Schlamm stecken geblieben und unbemerkt verreckt. Der morastige Boden im Lager sei einer der Kreise der Hölle, die der gute Dante vergessen habe zu erwähnen. Nein, sie habe Dante nicht gelesen, aber ein Kunde aus besseren Zeiten, ein ganz entzückender, vornehmer Herr, der immer nach Rosenblättern roch, konnte so schön davon erzählen. Dass sie dabei seinen Hintern mit einem Rohrstock traktieren musste, habe den Geschichten keinen Abbruch getan. Je mehr es schmerzte, desto leidenschaftlicher erzählte er. Wer den Schmerz nicht kenne, würde die Schönheit nie verstehen. Diese und viele andere Weisheiten verdanke sie ihm.

»Er war ein richtiger Papa.«

Er entstammte einer alten, sehr ehrwürdigen Familie, deren Stammbaum bis vor die Französische Revolution zurückreichte, manche seien sogar geköpft worden. Sie lächelte stolz. Sala strahlte sie an. So müsste man die Seeräuber-Jenny aus der Dreigroschenoper spielen, dachte sie. »Bärchen«, wie Mimi ihn nannte, war nicht nur vornehm und wohlhabend, er verkehrte auch in den höchsten Regierungskreisen, er kannte sie alle, sogar den Maréchal Pétain, nickte sie ehrfürchtig, deswegen habe er sie ja auch gewarnt, aber sie sei leider zu dumm gewesen oder zu selbstsicher, was ja wohl keinen großen Unterschied mache, jedenfalls nicht in diesen Zeiten.

»Wer hat Papier?«, schrie plötzlich eine Stimme neben Sala.

»Mein Arsch«, schallte es rau zurück.

»Schlampe«, lachte die erste mit deutschem Akzent.

»Selber«, lachte Mimi zurück.

Die Geschichten ihrer neuen Freundin halfen Sala, die Peinlichkeit der öffentlichen Latrine zu ertragen. Die baufällige Holzkonstruktion verdeckte vorne nur bis zur Hälfte die acht Aborte. Meter für Meter ein kreisförmiges Loch in den Holzplanken, darunter eine Tonne. Den Hintern frei in der Luft, stand oder hockte man, ohne Rückwand, die vor neugierigen Blicken schützte. Sechs Stufen führten auf den Laufsteg des Palastes, wie Mimi den Pfahlbau nannte, zwei Gespenster auf dünnen Stelzen, jeweils an den Außenseiten der Ilots errichtet und nicht zum Verweilen einladend.

»Warum bist du nicht geflohen?«

»Ich hatte meinen Gerd.«

Und dieser Gerd sei sehr anständig gewesen. Außerdem ein Bild von einem Mann, der im Gehen immer kleine Geschenke hinter ihrem Schminkspiegel versteckte. Gepflegt und diskret und vor allem sehr schnell bei der Sache. Zur Tür herein, ausziehen, anziehen und dazwischen »zackzack«, ein Küsschen links, ein Küsschen rechts, und weg war er. Alles in allem nie länger als eine schnell gepaffte Zigarette. Und immer waschen, vorher und hinterher. Da würde man bei den Franzosen ganz andere Sachen erleben.

»Beim Waschen?«, fragte Sala.

»Bei allem.« Und er habe ihr sein Ehrenwort als Offizier gegeben, dass ihr in Paris nichts passieren könne. Sie war zwar Jüdin, aber doch Französin und den französischen Juden, hieß es, würde nichts passieren. Das war nämlich, als sie ihre Siebensachen schon gepackt und das Schäferstündchen abgesagt hatte, und ein deutscher Offizier, der musste es ja wissen, besser als ein französischer Graf jedenfalls. Na ja, am Ende alles dieselbe Mischpoke, wenn es darum ging, die Ladung loszuwerden. Kaum war er zur Tür heraus, klingelte es. Wahrscheinlich hat er etwas vergessen, habe sie gedacht und halb nackt die Tür geöffnet, aber da stand kein schmucker Gerd, da platzte die Sûreté herein, »allez hop«. Eine jüdische Hure und Französin, die sich dazu mit einem deutschen Offizier eingelassen hatte. Wahrscheinlich obendrein noch Kollaborateurin. Was die ihr nicht alles an den Kopf warfen. Sie sei eine Schande für ihr Vaterland. Sie kannte ihren Vater zwar nicht, wusste aber genau, dass er, genau wie die auch, nur einen Schwanz in der Hose hatte, und mehr als ein Lächeln würde es nicht brauchen, um diese Knaben um den Finger zu wickeln. Aber da kannte sie nichts: Wer sie in ihrer Ehre als Französin beleidigte, der bekam ihren ganzen Stolz zu spüren. Dann lieber gleich den Kopf unter die Guillotine. Auf dem Kommissariat sei es dann noch viel schlimmer gekommen.

»Sie sind deutschstämmig.« Der Kerl habe sie angebellt wie ein boche, wie eine deutsche Holzkugel. Sie sei Französin, habe immer in Frankreich gelebt, und nur weil sie auf den Strich gehe, ließe sie sich nicht beleidigen. Dann habe er ihr ihren Pass unter die Nase gehalten.

»Geburtsort: Aix-la-Chapelle. Sie sind in Deutschland geboren, in Aix-la-Chapelle.«

Natürlich sei sie in Aix-la-Chapelle geboren, deswegen müsse er sie noch lange nicht anschreien. Sie verstand nicht, was er von ihr wollte. Mimi sah sie traurig an. Woher sollte sie wissen, dass Aix-la-Chapelle der französische Name für die deutsche Stadt Aachen war? Möglicherweise war ihr Vater Deutscher gewesen oder auch nicht, in ihren Papieren stand »père iconnu«, Vater unbekannt. Jedenfalls war sie jetzt für die Franzosen eine deutsche Jüdin.

Mit etwas flauem Magen stiegen sie die Stufen vom Abort hinunter. Genau wie ich, dachte Sala: von einem Tag auf den andern plötzlich eine jüdische Deutsche. Ihre Lippen zitterten.

»Gott sei Dank bin ich nur halbjüdisch«, erklärte sie Mimi, »so komme ich hier wahrscheinlich in ein paar Tagen wieder raus.«

Inzwischen war das Ilot zum Leben erwacht. Überall wimmelte es von Frauen und Kindern, die johlend um die Baracken tobten. Tropfnasse Wäsche wurde am Stacheldraht aufgehängt, es wurde genäht, gestrickt, auf offenen Feuerstellen kochte der Kaffee, ein Gebräu, das nach bitterem Wasser schmeckte. Vögel zwitscherten fröhlich aus ihren Käfigen, sogar Hunde und Katzen streunten durch die Gegend. Sala beobachtete, dass manche Frauen sich für ihre Tiere das Essen vom Mund absparten. Wollten sie mit den Hunden, Vögeln und Katzen auch die Erinnerung an bessere Zeiten retten? Die Zärtlichkeit, mit der sie ihre Lieblinge umsorgten, erinnerte Sala an die alten Menschen, die sie an langen Vormittagen im Jardin du Luxembourg beobachtet hatte, während sie bedacht ihre Runden drehten, ein »petit chérie« an der Leine, im Schlepptau den Tod. Aber hier in Gurs waren viele Frauen kaum älter als Sala. Es wurde gesungen und gelacht. Man schubste und neckte sich. Im Hintergrund schob sich die Sonne über den Rand der Pyrenäen. Ein gelbes Feuer. Und für einen Moment dachte Sala, ob es wohl besser wäre, wenn sie alles verbrennen würde.

Die allgemeine Waschstelle erinnerte an eine Viehtränke. Auch hier gab es nur Platz für acht Frauen, hinter jeder warteten ungeduldig acht bis zehn weitere. Sie tauschten Neuigkeiten aus. Was war in der letzten Nacht vorgefallen? Wer hatte Nachricht von der Front? Was war der neueste Schrei in Paris? War ein Liebesbrief vom verschollenen Mann eingetroffen, ein Päckchen mit Essen oder Dingen, die man auf dem Schwarzmarkt tauschen konnte? Was war mit Zigaretten? Damit ließen sich die Surveillantes, die Aufseherinnen, bestechen, und man konnte einen Spaziergang in die Männerîlots, zu den Spaniern, wagen. Mit ein paar Brettern notdürftig überdacht, standen die Frauen nackt, halb nackt oder umständlich in Tücher gewickelt am Trog und schrubbten um die Wette. Manche stolz und barbusig, andere mit verschämt vorgeschobenen Schultern. Jede wollte ihrer Nachbarin beweisen, dass sie reinlicher, eleganter, wohlriechender war als sie. Sala staunte, wie verbissen selbst hier um jeden Zentimeter Weiblichkeit gekämpft wurde. Zum ersten Mal beschlich sie das Gefühl, viele Frauen würden sich nicht herausputzen, um die Männer zu beeindrucken. Vielmehr schien ihnen daran gelegen, ihr eigenes Geschlecht zu übertrumpfen. Der neidische Blick einer anderen Frau schien ihr Selbstwertgefühl mehr zu stärken als jedes männliche Begehren. Oder war auch das nichts als Erinnerung an vergangene Zeiten und ihren lieblichen Glanz? Jenseits des Stacheldrahts genossen die französischen Aufseher das Spektakel.

Fließend Wasser gab es dreimal am Tag, von sechs bis neun, von zwölf bis drei Uhr nachmittags, und noch einmal abends von sechs bis neun Uhr.

Mehr gab der Wasserturm am Ende des Lagers nicht her. In dieser Zeit mussten Tausende Frauen sich selbst, ihre Wäsche und ihr Geschirr waschen. Mit dem restlichen Wasser wurden ab und an die Baracken gewischt. Das war mühsam und dauerte die Hälfte des Tages.

Es gab pro Tag und Frau einen Viertelliter Kaffee. Wer weder Tassen noch Gläser mitgebracht hatte, behalf sich mit leeren Konservendosen. Zu essen gab es zwei Scheiben Brot und mittags eine wässrige Suppe mit etwas Reis und schwer verdaulichen Kichererbsen, selten ein winziges Stück Fleisch, das häufig grau oder grün angelaufen und ungenießbar war. Kein Gemüse und erst recht kein Obst. In seltenen Fällen eine Kartoffel oder eine Tomate zum Abendessen.

Am späten Nachmittag musste Sabine wieder ihrer Aufgabe als Barackenchefin nachkommen. Die Listen. »Jeden Tag wollen die wat anderes«, stöhnte sie in rheinischem Singsang. Diesmal wurden die Personaldaten neu erfasst, Name, Vorname, Geburtsort und -datum, Familienstand, Beruf, letzter Wohnort in Frankreich. Für sechzig Frauen gewährte die Lagerleitung heute dreißig Minuten. Andere Listen sollten folgen. Altersklassen wurden erfragt, war man Katholikin, Protestantin, Jüdin. Listen der Frauen, die französische Verwandte hatten oder die aus eigenen Mitteln leben konnten, Listen der Frauen, die zurück nach Deutschland wollten, der Arbeitsfähigen, der Kranken, der Gebrechlichen, der Geistesgestörten, der an Tuberkulose Erkrankten. Gingen Listen verloren, begann alles von Neuem.

Am Abend kam der Regen. Seit sie erwischt worden war, litt Sala an einer hartnäckigen Verstopfung. Ein dumpf drückender Schmerz strahlte von der Darmgegend bis unter den Brustkorb. Sie öffnete die Barackentür, um endlich die kühle, feuchte Luft zu atmen. Tagsüber waren die Temperaturen über 50 Grad gestiegen. Der rissige Lehmboden war jetzt aufgeweicht. Als sie ihren rechten Fuß über die Schwelle setzte, rutschte sie aus und fiel in den Schlamm.

»Dans la boue.« Sala lachte kurz auf, als sie Mimis Stimme hinter sich vernahm.

»Pass auf!«, rief die neue Freundin und hielt sich die Nase zu.

Sala versuchte, sich aufzurichten. Ihre Arme versanken schnell bis zu den Ellenbogen in der aufgeweichten Pampe. Sie musste erneut lachen. Eierpampe, hatten sie das in Berlin als Kinder genannt. Die Kuhfladen auf den Schweizer Wiesen von Ascona tauchten vor ihr auf. Als sie in den Zwanzigerjahren noch mal mit ihrem Vater dort zu Besuch gewesen war, liebte sie es, nach dem Aufstehen barfuß in die nach Kuh und Gras duftenden Haufen zu springen, um die wohlige Wärme zu spüren. Aber was ihr der nasse Wind jetzt zuwehte, war nicht der Duft der Schweizer Bergwelt. Beißender Gestank. Überall war der Schlamm mit Kot und Urin vermischt. Ihr wurde übel. Ausgerechnet jetzt musste sie zu den Latrinen. Sie verzog das Gesicht zu einer Grimasse, zwinkerte Mimi fröhlich zu und stakste in der hereinbrechenden Dunkelheit davon. Nach der Hälfte des Weges versank die Gebirgskette in schwarzer Nacht. Das bunte Treiben des Tages wich dem Rauschen der Stille, die Baracken verschwanden im Nichts. Eine Geisterstadt. Einsam. Verlassen. Trostlos. Der aufbrausende Wind peitschte ihr den Regen ins Gesicht. Sala versuchte, sich zu erinnern. Alles sah gleich aus. Hatte sie überhaupt die richtige Richtung eingeschlagen? Ihr Darm zog sich zusammen, sie fürchtete dem Druck nicht mehr lange standhalten zu können. Wieder rutschte sie aus. Wieder lag sie am Boden. Und wenn sie jetzt einfach nachgeben würde? Sie war sowieso schon beschmutzt und durchnässt. Was für einen Unterschied machte das noch? Vor ihr lagen Fäkalien. Die aufsteigende Ohnmacht schnürte ihr die Kehle zu, aber sie konnte nicht weinen. Sie begann zu hecheln und zu flüstern.

»Mama.« Immer wieder. »Mama, Mama.«

Sie krümmte sich vor Schmerzen in dem kalten Dreck. Sie sah Otto, der von seinen Gasteltern mit seiner vollgeschissenen Windel ins Gesicht geschlagen wurde. Ein kleiner Junge. Dünn und hilflos. Wie eine warme Welle brauste die Wut über sie hinweg, riss sie mit einem Ruck hoch aus dem Schlamm. Jetzt stand sie zitternd da. In der Ferne schwankte ein schwaches Licht in der Dunkelheit. Vielleicht die Lampe vom Latrinenhaus.

»Los! Vorwärts! Deine Würde können sie dir nicht nehmen.«

Zurück in der Baracke ließ sie sich auf ihren Strohsack fallen und starrte an die Holzdecke. Durch die Dachpappe tropfte Regenwasser. Worauf wartete sie? Auf Tränen? Auf Erlösung? Morgen würde sie ihr Kleid waschen, das sie seit vier Tagen nicht ausgezogen hatte.

Erste Sonnenstrahlen drangen durch die Ritzen ihrer neuen Behausung. Sala sprang auf und öffnete die Luke über ihrem Strohsack. Wie spät mochte es sein? Halb fünf? Halb sechs? Ein paar Stunden Schlaf, die ersten in den letzten zwei Tagen. Sie wunderte sich, dass sie noch stand. Trotzdem!, triumphierte sie mit dem Zwitschern der erwachenden Vögel, Ich lebe noch. Sie dachte an Otto und stellte sich vor, wie er in Berlin in der kleinen Bäckerei neben dem Café Kranzler in eine mit Erdbeermarmelade überquellende Schrippe biss und der Verkäuferin frech zuzwinkerte, als sie ihm eine Tüte Kuchenkrümel über den Tresen reichte. »Du kannst mir mal für’n Sechser, weil wir uns beede kennen, bei Kranzler um de Ecke nach Kuchenkrümel rennen«, hörte sie ihn sagen. Leise nahm sie ihr Kleid, einen Rock und eine Bluse, frische Unterwäsche zum Wechseln und stahl sich aus der Baracke. Sie wollte die Erste im Latrinenhaus sein, die Erste am Waschtrog. So würde sie es ab jetzt jeden Tag halten, um sich das Gerangel mit den anderen Frauen um die besseren Plätze zu ersparen. Das unaufhörliche Geschnatter ging ihr entsetzlich auf die Nerven. Am schlimmsten waren die Schnorrerinnen. Sie wurden nicht müde, allen ihr Leid zu klagen, bis sich eine erbarmte und das wenige, das sie besaß, mit ihnen teilte.

Eine Surveillante bog um die Ecke. Sie kam ihr auf dem langen, schmalen Weg zwischen den Baracken entgegen. Hoffentlich war es nicht verboten, um die Zeit im Lager spazieren zu gehen. Ganz ruhig weitergehen, sagte sich Sala, nicht den Blick senken, schau ihr gerade in die Augen. Sie kam näher. Noch ein paar Meter. Salas Herz wollte ihr aus der Brust springen. Sie war bereit. Sollte die Frau es doch versuchen, sie würde sich schon zu verteidigen wissen. Zwei Schritte trennten sie voneinander. Jetzt.

»Bonjour, Mademoiselle.«

Die Surveillante hatte gelächelt. Es war ein kurzes, aber durchaus freundliches, beinahe aufmunterndes Lächeln gewesen. Sala war erstarrt. Oder hatte sie zurückgelächelt? Ja, aber was wie ein Lächeln aussehen sollte, war ihr zu einer Grimasse verrutscht. Sie war genauso blöd, genauso selbstbezogen wie alle Frauen hier. In kürzester Zeit waren ihr die einfachsten Zeichen der Zugehörigkeit zur menschlichen Zivilisation verloren gegangen. Sie fühlte sich jetzt wie ein deutscher Panzer, der durch fremdes Gebiet walzte. Hatte sie geantwortet? Wohl nicht, bestenfalls ein knappes, verstocktes Nicken. Sie wollte sich umdrehen, der jungen Frau nachlaufen. Sie war jung und hübsch, ihr federnder Gang erinnerte an die anmutigen Schritte einer typischen Pariserin, die an Boutiquen vorbeiflanierte, ohne sich von den schreienden Schaufensterauslagen beeindrucken zu lassen. Wie gerne wollte sie sie jetzt umarmen. In den Augen dieser jungen Französin war sie für einen kurzen Augenblick weder halbe Deutsche, noch halbe Jüdin gewesen, kein geteiltes Etwas, einfach nur ein Mensch.

Auf dem Rückweg waren ihr mit einem Mal alle Frauen, die jetzt langsam das Lager belebten, hübsch und freundlich erschienen. Hier und da wurde sie angehalten und in ein kurzes Gespräch verwickelt. Sie erfuhr auf wenigen Metern alles Wissenswerte über das Lager. Ein paar Baracken weiter war die Autorin Thea Sternheim untergebracht gewesen, die Frau des berühmten Dramatikers. Einige bekannte Schauspielerinnen hatte es auch hierher verschlagen, Tänzerinnen, Musikerinnen, eine Soubrette, irgendwo stand auch eine Kunstbaracke. Dort wurden Kabarettaufführungen gegeben, Theaterstücke, Konzerte und Ausstellungen wurden geplant. Eine Weile würde es sich hier schon aushalten lassen. Und dann … ach, etwas Besseres als den Tod würde sie schon finden, dachte sie, als sie einen zerrupften Hahn in das benachbarte Ilot stolzieren sah, vorbei an dem Aufseher, ganz ohne Passierschein.

Mimi bewegte sich ungehindert zwischen den verschiedenen Ilots. Eines Tages beobachtete Sala, wie sie mit einem freundlichen Nicken an dem Posten zum Männerîlot vorbei in einer der Baracken verschwand. Sie hatte auch immer genügend zu essen, hier eine Pastete, dort ein Glas Konfitüre, frisches Baguette, Käse. Sie teilte alles großzügig mit Sala, die versuchte, nicht daran zu denken, wie ihre Freundin an dieses Essen gekommen war.

»Nächste Woche wird in der Baracke G ein Konzert gegeben«, sagte Mimi fröhlich kauend.

Ausgebildete Musiker würden klassische Musik spielen, alles Deutsche, vielleicht würde Sala ja die Namen kennen. Sie zeigte ihr einen Zettel, eine Art Programmheft. Das Ganze würde zu Ehren einer deutschen Delegation stattfinden, die am Nachmittag das Lager besichtigen würde.

Am Nachmittag machte Mimi sie mit Alfred Nathan bekannt. Es war ihr gelungen, Sala ohne weitere Schwierigkeiten in das Männerîlot zu lotsen. Ihre Freundin sei Schauspielerin, nicht das, was er wieder denke, erklärte sie dem etwas dümmlich grinsenden Posten, als sie Sala kess an ihm vorbeischob.

»Hast du Kabaretterfahrung?« Nathan duzte sie ohne Umschweife, während er vor seiner Baracke genüsslich eine Selbstgedrehte paffte.

»Nein«, gestand Sala, »aber ich möchte Schauspielerin werden, seit ich ein Kind bin.«

»Was möchtest du denn spielen?«

»Alles. Die Luise, die Eboli, die Amalia, die Johanna …«

»Mein Gott, nur die hysterischen Weiber von Schiller?«

»Nein, auch das Gretchen.«

»Ach ja? Und wie hältst du’s mit der Religion?«

»Ich versteh nicht …«

»Na, Jüdin oder nicht?«

»Nicht ganz …«

»Nicht ganz was?«

»Weder noch …«

»Ach je, so richtig zwischen den Stühlen, mein Beileid, hübsches Kind.«

Sala wusste nicht, was sie sagen sollte. Sie lachte verlegen.

»Ich frag mal den Ernst. Der will sich tatsächlich den ganzen Wallenstein aufbrummen, klingt nach ’ner echten Verzweiflungstat, aber besser als Fliegen jagen ist es allemal.«

Überraschend flog Sala ihm um den Hals.

»Oh ja, ich könnte die Thekla spielen«, sagte sie und fügte begeistert hinzu: »Das Spiel des Lebens sieht sich heiter an, wenn man den sichern Schatz im Herzen trägt.«

Alfred lächelte traurig.

»Das Motto von Ernsts Inszenierung lautet eher: ›Es geht ein finstrer Geist durch unser Haus, und schleunig will das Schicksal mit uns enden.‹ Ich guck mal, was sich machen lässt, aber ich glaube, alle Rollen sind schon mit Profis besetzt. Würdest du zur Not auch was anderes machen?«

»Alles«, antwortete Sala ohne Zögern.

»Das dürfte erst mal reichen.« Er gab ihr lächelnd die Hand.

Alfred hatte recht gehabt, die Rolle der Thekla war, wie alle anderen Rollen, schon besetzt. Unter der Bedingung, dass sie sich an den Ausstattungsarbeiten beteiligte, durfte Sala hin und wieder bei den Proben zuschauen, die in der Kulturbaracke stattfanden. Mit leuchtenden Augen beobachtete sie an den nun dahinfliegenden Tagen, wie die von ihr bewunderten Schauspieler Kälte und Hunger, Krankheit und Schwäche trotzten und ihre ganze Kraft in den Dienst eines unbedingten schöpferischen Willens stellten, der ihnen selbst, aber auch den Zuschauern beim Überleben helfen sollte. So wie die Kabarettisten an ihren selbst verfassten Texten, feilten andere an Dekorationen und Requisiten, stellten Musiker vom Schlager bis zum Streichquartett mal berührende, mal unterhaltsame Soireen zusammen. Sala lernte, wie man aus Stoffresten Kostüme fertigte oder aufgelöste Pullover zu Kettenhemden oder ritterlichen Beinkleidern verarbeitete.

Am nächsten Abend gab Alfred Nathan in der Kulturbaracke eine Kabarettvorstellung. Sala beschloss, mit Mimi hinzugehen, um auf andere Gedanken zu kommen. Zu ihrer Überraschung waren nicht nur Lagerinsassen unter den Zuschauern. Sie hörte neben den spanischen auch französische Stimmen. Neben den Verwaltungsbeamten des Lagers waren auch Menschen aus der Umgebung gekommen. Waren sie mit den Leuten, die hier arbeiteten, verwandt oder befreundet? Auch bei den Passierscheinen war Commandant Lavergne großzügig gewesen. Zum ersten Mal seit Salas Ankunft wurden Männer und Frauen nicht streng getrennt. Bisher hatten die im benachbarten Ilot beherbergten Spanier nur zu Reparaturarbeiten für ein paar Stunden ins Frauenlager gedurft, an gemeinsame Abende war gar nicht zu denken gewesen. Mimi war ganz aufgeregt.

»Wir Frauen sind wie Sterne, wir leuchten nicht von selbst, wir müssen angestrahlt werden.«

Sala lachte schallend. Mimi sah sie pikiert an, sie müsse gar nicht die Nase rümpfen, es würde im Leben immer nur um das Eine gehen und eine Frau sei schön blöde, wenn sie das nicht begreife, und noch mehr zu bedauern, wenn sie es nicht zu nutzen wisse. Sie sei zu gebildet, hielt sie Sala vor. Die ganzen Geschichten über ihre Eltern würden doch nur beweisen, dass es bei den verkopften Kreaturen nicht anders sei. Oder warum habe ihre Mutter ihren Vater für einen anderen Mann verlassen, nur weil der jünger war? Nein! Ganz gewiss nicht! Er habe eben mit seinen Blicken einen leuchtenden Stern aus ihr gemacht. Mimi zwinkerte einem jungen Offizier zu, der die beiden schon eine Weile beobachtete. Sein Blick schwenkte zu Sala, die sofort errötete. Mimi sah ihre These zu ihrer äußersten Zufriedenheit bestätigt und klopfte Sala aufmunternd auf die Schulter.

Der Abend war kurzweilig. Immer wieder lachte Sala über die bissigen Couplets von Alfred Nathan und versuchte, Mimi die Verse zu übersetzen. Ein Gedicht ließ alle verstummen. Es war die Geschichte eines feinen Mannes, der im Lager alles verlor. Bei den letzten zwei Strophen fasste sie zitternd nach Mimis Hand.

»Inzwischen weiß ich nun um fremde Not,

um fremde Tränen grenzenlos Bescheid;

wenn einer einsam ist und hilflos steht,

und wenn ein andrer hungrig schlafen geht

und aus dem Traum nach seinen Kindern schreit …

Ich hab auf einmal Millionen Brüder –

Und dieser Heereszug der Elendshorden,

jetzt weiß ich es, er geht mich etwas an,

und so ist schließlich aus dem feinen Mann

doch noch so etwas wie ein Mensch geworden.«

In der Pause stellte sich der Herr, der sie zu Beginn der Vorstellung so eingehend beobachtet hatte, zu ihnen. Er hielt zwei Gläser Wein bereit.

»Erlauben Sie? Mein Name ist Hans-Peter Ehrenberg.« Er reichte ihnen die Getränke.

»Sala Nohl, und das ist meine Freundin Mimi Lafalaise.«

»Wie lange sind Sie schon hier, Fräulein Nohl?«

»Lange genug.« Was bildete sich dieser freche Kerl überhaupt ein? Als Internierte waren sie noch lange kein Freiwild. Mimi grinste leise vor sich hin. Unter dem Vorwand, sich kurz auffrischen zu müssen, verschwand sie mit einem aufmunternden Zwinkern und mischte sich unter die Leute.

»Bitte missverstehen Sie mich nicht, und verzeihen Sie, wenn mein Auftritt distanzlos erscheint, es war keineswegs meine Absicht, Sie zu brüskieren, Fräulein Nohl. Sie erinnern mich nur sehr an eine Frau, deren Foto mein Vorgesetzter mir unlängst zeigte. Da diese Frau ebenfalls Sala hieß, kann es sich eigentlich nicht um eine Verwechslung handeln. Wenn Sie also vor ungefähr drei Monaten hier angekommen sein sollten, erlauben Sie mir die Frage, ob Ihnen der Name Hannes Reinhard etwas sagt.«

Sala sah ihn an. Ihr war für einen kurzen Augenblick, als würde das Blut in ihren Adern aufhören zu fließen.

»Hannes?«

Ehrenberg nickte.

»Er ist für ein paar Tage in Bordeaux, wenn Sie wollen, kann ich gerne eine Nachricht übermitteln. Weiß er, dass Sie hier sind?«

»Nein.«

Salas bisherige Versuche, an Lola, Otto, oder ihren Vater zu schreiben, waren von der Zensurbaracke abgelehnt worden. An Hannes hatte sie gar nicht gedacht.

»Das würden Sie tun?«

»Selbstverständlich. – Und sehr gerne«, beeilte er sich hinzuzufügen.

»Dann … dann gehe ich schnell in meiner Baracke nach Stift und Zettel suchen.«

»Genießen Sie ruhig die Vorstellung, ich laufe Ihnen nicht weg. Sie haben mein Ehrenwort.«

Sala schüttelte aufgeregt den Kopf. Sie wollte gerade davonspringen, als sie Mimis überraschend festen Griff spürte.

»Ihr werdet beobachtet, chérie.«

Sala tat, als würde sie sich unbedarft umschauen. Wenige Meter entfernt entdeckte sie eine Surveillante, die schnell den Blick senkte, als ihre Augen sich trafen. Sala umarmte Mimi laut lachend, während sie sich zu Ehrenberg drehte.

Während der Vorstellung drangen nicht einmal die besten Witze an Salas Ohr. Stattdessen dachte sie daran, dass Hannes ihr möglicherweise zur Flucht verhelfen könnte.

Nach der Vorstellung stahl sie sich vorsichtig in ihre Baracke. Mit fliegenden Händen warf sie ein paar Zeilen für Hannes auf Toilettenpapier. Sie flehte ihn an, ihr aus dem Lager zu helfen, und drückte ihre mit geklautem Stift rot bemalten Lippen zum Kuss auf das Ende der Rolle.

Es folgten Tage des Wartens, die ihr fürchterlicher als alles bisher Erlebte, schlimmer als jeder Hunger und jede Erschöpfung schienen, bis Ehrenberg wieder zu einem der offiziellen Konzerte im Lager auftauchte. Die Begegnung in der Pause war flüchtig. Ihren erwartungsvollen Blick quittierte er mit einem bedauernden Kopfschütteln. Nach der Vorstellung drückte ihr Mimi einen Zettel in die Hand. Darauf stand: »Habe Hannes nicht mehr angetroffen.«

Es musste etwas vorgefallen sein, darüber gab es für Sala keinen Zweifel, sonst wäre er auf sie zugegangen, hätte wenigstens versucht, ihr ein paar tröstende Worte zu schenken. Was sie in seinen Augen gesehen hatte, kannte sie nur zu gut. Es entstellte die besten Gesichter bis zur Unkenntlichkeit, es war kalt und erbarmungslos, das Gegenteil von Liebe, es war Gleichgültigkeit. Sprach Hannes durch diesen Blick?

Die deutsche Delegation bewegte sich zügig durch das Lager. Die Insassen arischer Herkunft sollten in ihre rechtmäßige Heimat zurückgeführt werden. Listen waren im Auftrag der Lagerleitung von den Barackenverantwortlichen erstellt worden. Die Arierinnen fieberten auf gepackten Koffern ihrer Befreiung entgegen, während sich auf den Gesichtern ihrer jüdischen Mitgefangenen nackt und kalt die Frage abzeichnete, was dieser Auftritt für ihre Zukunft bedeuten mochte. In den grauen Morgenstunden hatte Sala eine junge Frau mit ihrem kleinen Sohn zum Lager von Sabine pirschen sehen. Vorsichtig flüsternd hatte sie die füllige Sabine geweckt. Nur ein paar Satzfetzen waren an Salas Ohr gedrungen.

»… aber du kannst doch schreiben, dass wir Arier sind, wer soll das überprüfen?«

Es folgte ein längeres Gezischel von Sabine, dem Sala entnahm, dass der Schwindel spätestens in Deutschland auffliegen würde. Die junge Frau wollte nichts unversucht lassen. Immer wieder schob sie ihren kleinen Sohn dicht an Sabines Strohsack.

»Dein Sohn heißt nicht Moritz, er heißt Moshe, Moshe Silberstein. Das wissen alle hier.« Mit diesen lauten Worten hatte Sabine die Dachluke über ihrem Kopf aufgestoßen. Die junge Frau war unter dem fahl hereinfallenden Licht zusammengefahren. Unter Tränen verkroch sie sich mit ihrem verstörten Kind in eine Ecke.

Andere Frauen waren von dem plötzlichen Lärm hochgeschreckt. Fluchend versuchten sie, sich wieder in den Schlaf zu flüchten. Alle ahnten, dass mit dem heutigen Tag ein neues Kapitel ihres Schicksals aufgeschlagen wurde.

Als die Lastwagen abfuhren, wirkten die Baracken verwaist. In manchen saßen nur noch acht bis zehn Frauen, andere waren halb leer. In Salas Baracke blieben fünfundvierzig Frauen. Eine alte Kommunistin hatte sich geweigert einzusteigen.

»Aber Sie sind doch Arierin«, hatte der deutsche Offizier gesagt.

»Ich sterbe lieber hinter französischem Stacheldraht, als hinter deutschem«, war ihre trockene Antwort gewesen.

»Seien Sie nicht dumm, gnädige Frau, in Deutschland wird es Ihnen gut gehen.«

»Das glaube ich weniger. Ich habe immer mein Maul aufgerissen, ich werde in meinem Alter nicht damit aufhören.«

Sala war eine Rückkehr in das Reich zu gefährlich erschienen. Die Gerüchte, die im Lager über den Krieg kursierten, waren so unterschiedlich wie verwirrend. Einen Tag hörte man, dem deutschen Heer würde die Munition ausgehen, dann wurde von der Eroberung Moskaus berichtet, bis es wieder hieß, der Russlandfeldzug sei rettungslos verloren und Hitler stünde ganz gewiss kurz vor der Kapitulation. Niemand wusste, woher die Gerüchte kamen, noch, welchen Weg sie genommen hatten. Auf absurde Weise fühlte Sala sich in ihrer von Stacheldraht umzäunten Baracke zum ersten Mal seit ihrer Ankunft geborgen.

In den nächsten Tagen wurde Gurs von einer Hitzewelle erfasst. Der mit Urin durchtränkte Lehmboden stank erbärmlich. In der Baracke klagten mehrere Frauen über blutigen Durchfall, es folgten Fieber und Krämpfe, Appetitlosigkeit, über die Witze gerissen wurden. Die Ruhr.

Der Bazillus breitete sich über das gesamte Ilot aus. Schnell wurden die betroffenen Frauen isoliert. Ein junges Mädchen, das gerade noch mit einem Spanier Bilder und Erinnerungen geteilt hatte, starb nach einer Woche. Ebenso die junge Frau, die Sabine angefleht hatte, ihren Namen und den ihres Sohnes auf die Arierliste zu setzen. Sie wurde mit anderen Toten aus dem Lager gebracht. Wie Tierkadaver wurden sie auf die Ladefläche eines Lastwagens geworfen. Der kleine Moshe stand schreiend am Stacheldraht. Niemand durfte sich nähern, um Abschied zu nehmen. Die Gesunden starrten aus der Ferne dem Lastwagen nach. In den Baracken saßen die Frauen eng zusammen. Sie sprachen in den kommenden Tagen immer wieder das Kaddisch für die Toten.