31

Sala schleppte sich unter Krämpfen in die Klinik in Leipzig-Dösen zu Professor Diebuck.

In der Notaufnahme wurde sie von einer Schwester empfangen und auf einer Bahre durch die leeren Gänge des Hospitals geschoben. Sie fühlte sich wie in einem Geisterhaus, als lauerten hinter jeder Tür die Seelen ermordeter Kinder. Hier sollte sie gebären? Der Weg schien endlos. Immer wieder bogen sie am Ende eines Ganges links oder rechts in eine weitere Verzweigung dieses Labyrinths. Zweimal sah sie einen Arzt fliehenden Schrittes im Dämmerlicht über den Korridor huschen. Zwischen ihren Beinen wurde es heiß und nass. Die Fruchtblase war geplatzt.

Vor Schmerzen und Schwäche zitternd nahm Sala verschwommen wahr, dass ihr ein Wehentropf gesetzt wurde. Ihre Schmerzen steigerten sich ins Unermessliche.

»Was mache ich, wenn ich ohnmächtig werde?«

»Wenn wir dich brauchen, werden wir dich schon wieder wecken«, sagte die Schwester, eine patente Berlinerin mit kräftigen Armen und einer erstaunlich frischen Gesichtshaut. Sie verpasste Sala eine weitere Spritze.

»Was ist das?«

»Strychnin, Kindchen, alles andere ist uns ausgegangen.« Sie lachte. »Nein, nein, keine Bange, nur zur Beruhigung. Der Professor kommt gleich. Wahrscheinlich sucht er noch sein Bonbon.«

»Sein was?«

»Sein Parteiabzeichen, das Bonbon. Er verliert es in letzter Zeit immer.« Sie kicherte in sich hinein. Dann legte sie Sala die Hand auf die Stirn. »Siehst aber ganz schön anämisch aus, Liebchen, hast du heute oder in letzter Zeit viel Blut verloren?«

Sala nickte schwach.

»Heute früh. Ein ganzer Schwall.«

»Bist ja vom Fach. Wollen mal hoffen, dass das Früchtchen keine Sperenzchen macht. Was soll’s denn werden?«

»Ein Junge.«

»Davon können wir Nachschub gebrauchen. Besser gleich zwei oder drei, wenn du mich fragst, aber womit dann die Mäuler stopfen, nicht?« Sie lächelte Sala beruhigend zu. »Nu mach dir mal keine Gedanken, Liebchen, der Professor weiß, was er tut, und was er nicht weiß, das wissen wir. Mir ist noch keine hopsgegangen. Und ich hab schon eine Kleinstadt ans Licht geholt.«

Sala wurde dunkel vor Augen.

»Ja, wo bleibt er denn nun?« Die Hebamme sah auf ihre Armbanduhr. »Ich geh mal gucken, bin gleich wieder bei dir, Liebchen.« Sie eilte davon.

Die Zeit dehnte sich ins Endlose. Wie viele Stunden mochte sie schon hier liegen. Allein auf einem kalten Korridor. Irgendwo musste ein Fenster offen stehen. Sala wurde in immer kürzeren Abständen von Krämpfen geschüttelt. Zwischen ihren Beinen wurde es wieder warm. Vorsichtig schlug sie die Decke zurück. Sie starrte auf das Laken. Alles voller Blut. Sala richtete sich erschrocken auf.

»Hilfe.« Ihre Stimme hallte schwach durch den Korridor.

Zwei Schwestern liefen im Hintergrund schnellen Schrittes über den Gang, ohne sie zu beachten.

»Hilfe. Ich verblute. Ich verblute, verdammt noch mal. Einen Arzt. Schnell.«

Angst. Endlich näherten sich Schritte.

Sie erkannte die Stimme des Professors.

Das grelle Licht blendete sie. Jemand drückte ihre Beine auseinander.

Eine Hand schob sich in sie hinein. Schreiend versuchte sie, den Kopf zu heben, um etwas zu sehen. Sie war jetzt hellwach. Sie musste dieses Kind gebären. Sie musste.

»Es hat die Nabelschnur um den Hals. Ich krieg es nicht gedreht. Es steckt fest in der Beckenmitte.«

Sala verstand nicht. Was hatte die Hebamme gesagt? Nicht aufgeben. Weiter. Weiter. Schnell. Sie hörte die Stimme des Professors.

»Sauerstoff?«

»Niedrig.«

»Zange.«

Sala fühlte, wie ein kalter Gegenstand in sie eindrang, kurz darauf gab es einen Ruck, als wollte man einen Lastwagen aus ihrem Körper reißen. Mit einem Schlag waren alle Schmerzen verschwunden. Stille. Ein Schrei. Etwas Weiches, Zartes auf ihrer Haut. Sie sah einen kleinen, verbeulten, blau angelaufenen Kopf. Die Lippen suchten nach ihrer Brust. Ein wohliges Ziehen. Tränen strömten über Salas Gesicht.

»Herr Professor, da ist noch was, gucken Sie mal.«

Es wurde still. Sala versuchte, etwas zu erkennen, aber die beiden drehten ihr schnell den Rücken zu.

»Fetus Papyracaeus«, sagte der Professor. Seine Stimme klang neugierig.

»Platt wie ein Blatt«, sagte die Hebamme.

Sala richtete sich erschrocken auf. Sie konnte gerade noch sehen, was die Hebamme im Weggehen zu verbergen suchte. Das war ein Kind. Sala schrie. Das war ihr Kind. Ihr zweites Kind. Es sah aus wie ein platt gewalzter Fötus. Sala schrie. Schnell wurde ihr das Baby entrissen. Schreiend versuchte sie aufzustehen. Der Professor drückte sie auf das Bett zurück.

»Sie Schwein! Warum haben Sie mir das nicht gesagt? Schweine. Ihr Schweine. Mein Kind. Gebt mir mein Kind zurück! Bitte. Ich … bitte … bitte … mein Kind.«

Sie verlor das Bewusstsein.

Sie erwachte in einem kleinen Zimmer. Wo war ihr Kind? Wohin hatten sie es gebracht? Was war geschehen? Die Angst schnellte in ihr hoch. Ein hoher Ton sirrte durch ihren Kopf. Eine Sirene. Wo war die Notglocke? Sie sah sich um. Der Raum war normal eingerichtet. Vor dem Fenster ein Tisch. Amselgesang drang an ihr Ohr. Lag dort ein Garten? An der gegenüberliegenden Wand ein Bücherregal. Die Buchstaben auf den Buchrücken verloren sich in der Unschärfe. Die Tapete war grün. Das hier war kein Krankenzimmer. Wo war sie? Ihr Unterleib pochte. Zwischen ihren Beinen ein Stechen und Ziehen. Sie versuchte aufzustehen, aber sie war zu schwach.

Jemand stand neben ihr. Sie konnte sein Gesicht nicht erkennen. Die Kleidung raschelte unangenehm laut. Sein Atem klang eher wie ein Rasseln. Wieder versuchte sie den Kopf zu heben. Unmöglich. Sie spürte eine Hand, schlug die Augen auf. Vor ihr stand Professor Diebuck. Sie musste eingeschlafen sein.

»Wie geht es Ihnen?«

»Wo ist mein Kind?«

»Wir mussten Ihren Säugling dabehalten. Keine Sorge, nur ein paar Routineuntersuchungen zur Sicherheit des Kindes. Es war ja keine ganz leichte Geburt.«

Er machte eine Pause, sah in ihr erwartungsvoll gespanntes Gesicht.

»Es ist ein Mädchen.«

Etwas zog sich in Sala zusammen. Sie versuchte ruhig zu atmen.

»Sie haben Zwillinge getragen.«

Sala sah zu ihm auf. Sie hörte die Stimme der Hebamme.

»Da ist noch was« und dann »platt wie ein Blatt«.

Sie schüttelte flehend den Kopf. Der Professor nahm ihre Hand. Sala riss sie weg.

»Warum haben Sie mir nicht gesagt, dass ich Zwillinge in mir trage?«

Nie hätte sie in diese Klinik gehen dürfen. Nie die Hilfe dieses Mannes annehmen. Sie sah in seine Augen. Sein Gesicht war regungslos. So konnte nur ein Ungeheuer schauen.

»War es auch ein Mädchen?«

Der Professor schüttelte kaum merklich den Kopf. Was hatte er mit ihrem Kind gemacht? Hatte er es ihr für seine perversen Forschungszwecke weggenommen?

»Wahrscheinlich war es ein Junge. Wir wissen es noch nicht. Ich gehe davon aus, dass der Fötus in der Schwangerschaft gestorben ist. Das Körperwasser wird dann von der Mutter, also von Ihnen, wieder aufgenommen, und der Fötus verbleibt platt gedrückt im Mutterleib, bis er bei der Geburt ausgetragen wird.«

Sie starrte ihn an.

»Ihre Tochter lebt. Das ist es, was zählt. Seien Sie froh, sie ist ein kräftiges Kind. Wissen Sie, die meisten Menschen glauben, alle Säuglinge würden gleich aussehen. Weit gefehlt. Sie sind von Anbeginn an so verschieden, wie sie es später sind. Ich habe viele Kinder zur Welt gebracht. Ihre Tochter ist eigenwillig, glauben Sie mir, und sie hat bereits jetzt ein sehr besonderes Schicksal.«

Ich, dachte Sala, ich habe es getötet. Sie war zu schwach, um etwas zu erwidern. Sie wollte allein sein, und dann, dann wollte sie ihre Tochter sehen. Und ihren toten Sohn. Morgen vielleicht. Nicht heute. Morgen.

Nachdem Sala sich von der Geburt erholt hatte, holte der Professor seine Frau zurück in ihr gemeinsames Haus. Sie sollte nicht im Krankenhaus sterben. Dafür brauchte er Sala. Er hatte es von Anfang an geplant. Ein abgekartetes Spiel. Offiziell existierten Sala und ihre Tochter Ada nicht mehr. Das sei besser so, sagte der Professor, niemand käme dann auf dumme Gedanken.

32

Nach ihrer Ankunft wurden sie in die Wälder zum Holzfällen geschickt. Viele brachen nach wenigen Tagen entkräftet zusammen oder starben noch im Wald. Am dritten Tag stand Otto in der Schlange im Waschraum. Im Spiegel sah er am Ende der Reihe ein fremdes, abgemagertes, vom Hunger aufgeschwemmtes Gesicht. Er erkannte sofort, dass dieser Mann kurz vor der Dystrophie stand. Sein Körper war aufgedunsen, die trockene Haut hing wie ein alter Lederlappen an den Gliedern, die übergroßen Augen beherrschten das ausgehöhlte Gesicht. Als Otto sich umdrehte, um den Kranken in Augenschein zu nehmen, bemerkte er aus dem Augenwinkel, dass sich der Mann mitdrehte. Er hielt inne. Vorsichtig blickte er zurück in den Spiegel und wieder weg. Erneut folgte ihm das Gesicht. Er zuckte zusammen: Der ausgehungerte Kranke war er selbst.

Wenige Tage später wachte er auf der Krankenstation auf. Immerhin. Er lebte noch. Komische Erleichterung. Minutiös beobachtete er seine Symptome. Er notierte die Veränderungen des »Patienten«. Dieses Aus-sich-Heraustreten rettete ihm das Leben. Mühsam erinnerte er sich daran, wie er bereits in den letzten Tagen vor der Ankunft im Lager eine unerträgliche Müdigkeit verspürt hatte. Die Namen seiner Kameraden, aus denen in den letzten Kriegsjahren Kumpel geworden waren, waren ihm entfallen. Sein Geburtsdatum, der Augenblick der Gefangennahme: weg. Dunkel tauchte eine schwangere Frau auf, irgendwo in der Ferne. Land und Name waren ausgelöscht.

Kein Gedanke an Sex, nur sehr schwache Reaktionen auf seine Umwelt, als würde er sich langsam seinem Tod nähern. Dieses Dahindämmern wurde von plötzlichen, euphorischen Schüben unterbrochen, auf die eine noch größere Lethargie folgte. Mit Kalorienberechnungen versuchte er, dem Hungergefühl rational beizukommen, und bekämpfte gleichzeitig die gefährliche Sinnlosigkeit. Durchfall und ständiger Harndrang entkräfteten ihn. Die inneren Vorkehrungen, die er zu treffen hatte, um sein Bett zu verlassen, nahmen ein bis zwei Stunden in Anspruch. Jede Geste, selbst das Umdrehen des Körpers von einer Seite auf die andere, musste zunächst sorgfältig durchdacht werden. Der Gang zur Latrine wurde zu einer komplizierten Planungsaufgabe. Bettdecke wegschlagen, um beim Aufstehen nicht darin hängen zu bleiben, sich aufrichten, im Sitzen warten, bis das Schwindelgefühl nachließ. Füße auf den Boden, in die Holzpantinen, Bettdecke umhängen, um Zugluft zu vermeiden, Unterhose festhalten oder besser enger schnüren, um sie nicht zu verlieren, drei Schritte zur Barackentür, öffnen, hindurchgehen, schließen. Dasselbe bei der vorgelagerten Moskitotür. Stock nicht vergessen, vorsichtig zur Latrine gehen. Nicht hinfallen. Mit niemandem zusammenstoßen. Hatte er das geschafft, musste er meist eine Weile nachdenken, wozu er hergekommen war. Bei alldem entgingen ihm die verächtlichen Blicke der anderen Kranken nicht. Seine Kommunikation reduzierte sich auf ein von den anderen als feindlich wahrgenommenes Minimum. Nach drei unendlichen Wochen fand er zur im Lager üblichen gebeugten Körperhaltung, zum langsamen, schlurfenden Gang, wie er ihn bei den anderen gesehen hatte. Der Plenny-Schritt. Sarkastisch vermerkte er später in seinem Tagebuch, dass diese Umkehrung des militärischen Stechschritts die Ironie des Krieges trefflich darstelle. Mithilfe des Krieges schaffte man in wenigen Wochen, wofür es sonst ein Leben brauchte: die langsame psychophysische Auflösung. Ein weiterer Beweis für seine ökonomische Effizienz.

Sie trat an sein Bett. Das Gesicht schneeweiß, das dicke, glatte Haar so dunkel wie die Augen. Wenn sie ihm half, war ihr Griff fest, aber immer noch behutsam. Sie machte keinen Unterschied zwischen den Patienten. Kein Getue, keine überflüssigen Worte oder Gesten. Sie war allein mit den Dystrophikern. Gelegentlich bekam sie Unterstützung von einer alten Ärztin, die mit ihrem schweren Körper an den apathisch vor sich hin dämmernden Patienten vorbeischlurfte. Hier redeten alle nur vom Essen. Stumpfe Monologe über Schinken, Käse, Eier, Braten, Kuchen. Alle schwadronierten von ihrem Reichtum. In der Heimat und in ihren Gedanken waren die Vorratsschränke zum Bersten gefüllt. Je mehr sie über das Essen sprachen, desto schneller starben sie.

Jeden Abend rieb die Schwester seine ausgetrocknete Haut mit einer Salbe ein. Der Geruch war kaum zu ertragen, aber es half. Die Hautlappen, die an seinem Körper herabhingen, wurden langsam wieder durchblutet. Sie zeigte ihm Übungen, um seine erschlaffte Muskulatur zu festigen. Sie brachte ihm zu essen und heißen Tee. Sie lächelte. Sie gab ihm das Gefühl, ein Mensch zu sein. Kein Feind. Sie war Jüdin. Ihr Name war Mascha.

Von seinen Kumpels war keiner diesem Lager zugeteilt worden. Ob man sie vorsätzlich getrennt hatte, um Gruppenbildungen zu vermeiden, wusste er nicht. Er merkte, dass aus dem Kumpel der letzten Zeiten wieder ein Kamerad geworden war. Unter den deutschen Gefangenen wuchs das gegenseitige Misstrauen. Hier war jeder auf sich gestellt. Otto verspürte keinen Hunger mehr. Gewissenhaft notierte er jede Kalorie, die er zu sich nahm. Er wollte hier raus.

Das Lager war wie ein Bataillon aufgebaut. Die Leitung hatte der Kombat, der deutsche Lagerälteste. Die Gefangenen wurden nach ärztlicher Untersuchung in Gruppen eingeteilt. Wer zur Gruppe 1 oder 2 gehörte, war voll arbeitsfähig und wurde in die Wälder geschickt; die Gruppe 3 durfte nur eingeschränkt arbeiten, die Dystrophiker vom OK, dem osdorowitelnaja komanda, dem Genesenden-Kommando, gar nicht.

Otto notierte seine Beobachtungen. Wer nicht arbeitete, kämpfte sterbend gegen ein wachsendes Gefühl der Sinnlosigkeit an, wer zu früh in die Wälder geschickt wurde, starb bald an Kälte und Hunger. Während die anderen Kochrezepte austauschten, schrieb Otto gegen den Hunger, das alles beherrschende Thema, an. Nachts hörte er manche in ihren Träumen von Nahrungsmitteln stammeln.

»Georg, du musst was essen.«

Otto neigte sich zu seinem Bettnachbarn, einem abgemagerten Jungen, der seit Tagen seine Essensrationen bunkerte. Georg starrte apathisch vor sich hin.

»Ich weiß, was ich tue. Ich will mich einmal ordentlich satt essen, einmal ohne Hunger einschlafen.«

Seine Stimme schepperte monoton. Kein Blick. Keine Regung.

Nach ein paar Tagen sah Otto ihn nachts unter der Decke ein Fressgelage halten. Das meiste war bereits verschimmelt. Magen und Darm revoltierten. In heftigen Krämpfen erbrach Georg alles, was er sich mühsam vom Mund abgespart hatte. Otto versuchte, ihn zu beruhigen. Er schleppte den Sterbenden ins Lazarett. Essen. Hunger. Essen. Hunger. Hunger. Hunger. Hunger. Essen. Tod.

Als Otto am nächsten Morgen aufwachte, merkte er, dass sich Martin, sein Nachbar zur Rechten, nicht mehr bewegte. Er sprang auf, fühlte den leblosen Puls. Wiederbelebung war zwecklos, die Leichenstarre hatte bereits eingesetzt. Erschöpft sackte Otto auf seine Pritsche. Er konnte nicht mehr klar denken. Neben ihm ein Mann, der sich zu Tode gehungert hatte. In seinen Taschen und unter seiner Matratze fanden die Hände der gierig Herbeieilenden Essensschätze, zum großen Teil verkommen.

In der darauffolgenden Nacht wurde Otto durch lautes Stöhnen geweckt. Im Dunkel sah er, wie ein Kamerad, zwei Betten weiter, mit letzter Anstrengung masturbierte. Ein anderer begann auch, sich zu befingern.

»Wat denkste, Kumpel …? Wat denkste!«, stieß der atemlos hervor.

»Brot …«, sagte der andere.

Er rang nach Luft, verdrehte die Augen, sein Körper zog sich zusammen, rasselnd stieß er alle Luft aus. Tot. Otto starrte in die Nacht. Zum ersten Mal in seinem Leben hatte er Angst, verrückt zu werden.

Ein russischer Soldat vom Lagerkommando sprang in die Baracke.

»Sieg! Ihr habt verloren. Aus. Aus. Der Krieg ist aus.«

33

Das Baby im Arm, sprang Sala auf den Bahnsteig. Beim Einfahren des Zuges hatte sie ihren Vater bereits entdeckt. Sie rannte. Die Tränen schossen aus ihren Augen. Sie presste ihre Tochter an sich. Als Jean sich zu ihr umdrehte, wirkte er um zwanzig Jahre gealtert, aber seine Augen leuchteten ungebrochen. Immer noch der alte Filou, dachte Sala, als er aufgeregt wippend vor ihr stand und beim Anblick seiner Enkelin seine Lippen kennerisch spitzte.

»Und wer bist du?«

»Ich heiße Ada«, sagte Sala, wobei sie das linke Händchen ihrer Tochter nahm und dem Großvater freudig zuwinkte.

Jean schloss beide in seine Arme. Sala fühlte, wie schmal und zart er geworden war. Sie fuhr ihm mit der Hand durch sein schlohweißes Haar.

»Kommt«, sagte Jean, »ihr müsst Dorle kennenlernen.«

Sala hatte bereits von der neuen Liebe ihres Vaters gehört.

Dorle oder Dorchen, wie Jean sie auch gerne rief, hieß eigentlich Dora, was eher zu ihrer Erscheinung passte, dachte Sala, als sie sich ihrem festen Händedruck entwand. Sie war nicht nur größer, vor allem wirkte sie mächtiger als ihre Mutter Iza. Ein Trumm, wie sie später am Abend, einsam in ihrem Zimmer, an Otto schrieb, ohne zu wissen, wohin sie den Brief schicken sollte. Sie hatte bald ein Jahr kein Lebenszeichen von ihm erhalten. Er wusste nicht einmal, dass er Vater einer Tochter, einer ganz entzückenden Tochter, geworden war. Aber jetzt könnte sie in Berlin anrufen. Seine Mutter würde vielleicht wissen, wo sie ihn finden konnte. Wie Anna wohl den Krieg überstanden hatte? Sie würden jetzt alle eine Familie werden. Die immer wiederkehrenden Gedanken an Ottos möglichen Tod verscheuchte Sala nach kurzem Erschrecken. Sie wusste, dass er lebte, basta.

Am nächsten Abend lauschte sie den Geschichten ihres Vaters. Das etwas spartanische Essen wurde von einer kleinen, rundlichen Frau mit einem Lächeln serviert. Pünktchen, wie Dora sie nannte, war keine Hausangestellte, wie Sala zunächst vermutete, sie war Doras langjährige Lebensgefährtin. Eine Ménage à trois. Ihr Vater hatte sich nicht verändert. Dora erschien ihr ebenso dominant wie ihre Mutter Iza. Sein gesamtes psychoanalytisches Wissen konnte ihn offenbar nicht vor Wiederholung schützen. Und Pünktchen hieß Pünktchen, wie Dora mit rauer Stimme erklärte, weil sie das Pünktchen auf dem i ihres Liebeslebens sei. Darüber lachten alle. Alle außer Pünktchen.

Ada schlief. Sie war ein ruhiges Kind. Alle drei Stunden wollte sie kurz an die Brust, dann schlief sie weiter. Trotzdem schreckte Sala immer wieder hoch. War das Kind still, horchte sie ängstlich, ob es noch atmete. Danach lag sie oft stundenlang wach, drückte ihr Ohr an Adas Brust, lauschte ihrem schlagenden Herzen.

Sie dachte an den Professor, Hitlers treuen Vasallen. Er hatte von ihr verlangt, einen Brief zu unterzeichnen, in dem sie erklärte, dass er ihr im Jahr 1945, bei Gefahr für Leib und Leben, geholfen habe, ihr Kind zu gebären, wonach er ihr bis zum Kriegsende, ebenfalls unter Einsatz seines Lebens, in seinem eigenen Haus nicht nur Unterschlupf, sondern auch eine liebevolle Heimat geboten habe. Ein Schutz, den sie nach dem lang erhofften Sieg der alliierten Streitkräfte aus eigenem Willen und zu seinem aufrichtigen Bedauern verlassen habe, um sich auf die Suche nach ihrer Ursprungsfamilie zu begeben. Das Bild ihres verlorenen Kindes schimmerte ihr dunkel entgegen.

Als Sala aufwachte, spürte sie die klebrige Feuchte unter ihrem Rücken. Sie beugte sich hinüber zu Ada. Ihre Tochter schlief. In ihrem blassen Gesicht leuchtete Otto. Wo war er?

Vor ihr lag, breit ausgestreckt, der Tag.

34

Fünf Uhr morgens. Das Signal zum Wecken wurde gegeben. Otto hievte den Latrinenkübel vor die Tür. Er fasste sich an den Hintern, um seine Gesäßmuskulatur zu prüfen. Sie war wieder fest, die Dystrophie überwunden. In zwei Stunden würde Mascha kommen. Er würde ihr helfen, wie in den letzten Tagen. Dafür brachte sie ihm die kyrillische Schrift bei. Lernen war seine Art zu überleben. Vor einer Woche hatte sie einen Antrag bei dem Lagerkommandanten gestellt. Otto sollte als Arzt in der OK-Baracke bleiben. Für die Gruppen 1 und 2 war er noch nicht ausreichend bei Kräften, außerdem konnte sie ihn hier im Lazarett gut gebrauchen. Jeden Tag wartete er auf Antwort. Er sah aus dem Fenster. Die OK-Baracken lagen am äußersten Rand. Der Misthaufen des Lagers. Warten. Er besaß keine Uhr mehr. Unmittelbar nach der Gefangennahme hatten die Rotarmisten sie ihm abgenommen. Ein Modell der Marke IWC aus Schaffhausen. Elegant, flach, schwarzes Lederarmband, goldenes Ziffernblatt. Er war besonders stolz darauf gewesen, weil er sie im Spiel gewonnen hatte. Spielgewinne bedeuteten ihm mehr als hart verdientes Geld. Er wusste nicht, warum. Er gehörte wohl zu den Gefährdeten. Deswegen hatte er sich schon vor Kriegsausbruch ein striktes Spielverbot auferlegt.

Hier brauchte er keine Uhr. Jeder Tag glich dem vorangegangenen und galt als verlässliches Muster für den folgenden. Wozu eine Uhr? Die Zeit kroch gegen den Takt. Er brauchte eine Aufgabe, eine Beschäftigung, ein Ziel. An Flucht war vorerst nicht zu denken. Wie naiv, zu glauben, er könne allein die unendliche Weite dieser Landschaft überwinden. Das Einzige, das er dort draußen finden konnte, das auf jeden Flüchtling wartete, war der Tod.

Mit dem Sieg der Alliierten war ein Hoffnungsfunken auf ihre verdorrten Seelen gefallen. Im Nu brannte alles lichterloh. Der Krieg ist aus. Bald können wir nach Hause. Der Russe war nicht gemein. Die meisten gingen respektvoll mit ihnen um. Sicher hatten sie es besser als die russischen Gefangenen in deutschen Lagern. Dafür durften die jetzt sofort wieder in ihre Heimat. Zurück zu ihren Frauen und Kindern, zu ihren Eltern, ihren Geschwistern, Onkeln und Tanten. Otto dachte an seine Mutter, an Inge und Erna, sogar an Günter, den verfluchten Nazi. Ob sie noch lebten? Die Russen erzählten fürchterliche Geschichten über die flächendeckende Zerstörung aller Städte. Er konnte sich gut an Berlin erinnern. Wenn das so weitergegangen war, lag die Stadt jetzt in Schutt und Asche. Ob Sala ihren Vater wiedergefunden hatte? Hoffentlich war ihnen nichts zugestoßen. Dieselben Gedanken Tag für Tag. Als würde man ein Wort endlos wiederholen, bis es immer schwächer wurde, ein sinnloser Klang. Und irgendwann würde er wie die anderen werden, stumpf vor sich hin starren, Kochrezepte aufschreiben und gegen Essbares austauschen, bunkern, essen, den Latrinenkübel füllen und wieder von vorne beginnen.

Was gäbe er für ein Buch! Was nutzte ein voller Magen, wenn das Gehirn verhungerte? Er wollte nicht vegetieren. Dann lieber Schluss. Er hielt sich von den Kameraden fern. Der weinerliche Ton widerte ihn an. Sie schlurften gebeugt von der Enttäuschung über den Zusammenbruch aller Werte, die man ihnen so erfolgreich eingetrichtert hatte. Die Vergangenheit war zerstört, an Zukunft war nicht zu denken. In den Augen der Welt gehörte sein Land für immer ausgelöscht. Zwei weltumspannende Kriege waren von deutschem Boden ausgegangen. Das würde ihnen niemand verzeihen. Niemals. Von welcher Zukunft sollten sie träumen? Nein, etwas ganz Neues musste her. Aber was?

Draußen erwachte das Lager. Otto sah die ersten Gestalten im Plenny-Schritt über den Platz schleichen. Einzig bei der Nahrungsausgabe kamen sie in Fahrt. Da wieselte alles durcheinander, Kochgeschirr klapperte oder alte Konservendosen, besonders beliebt die amerikanische Marke Oscar Maier, deren Blech bleiverzinkt war. Viele kramten ihre eigentümlichen, selbst entworfenen Waagen hervor, um an der Kochstelle nicht weniger zu bekommen als der Nachbar. Manchmal kam es zu Prügeleien, bei denen die Rivalen nach wenigen Schlägen zitternd innehielten, um nicht zusammenzubrechen. Otto fand niemanden, mit dem er über etwas anderes als Essen reden konnte. Sie drückten sich vor jeder Tätigkeit. Sie vegetierten in einem Niemandsland, irgendwo zwischen Erde und Hölle. Auch Otto musste sich anstellen. Er fürchtete nicht den Hunger, er schämte sich seiner Kameraden. Wie konnte man bei diesem Anblick sagen, dass das Leben wertvoll sei?

Mascha kam herein. Er sah sie an. Sie war schön. Ihr schlanker Arm schwang triumphierend einen Zettel in die Höhe.

»Es hat geklappt. Der Lagerkommandant hat dich als Arzt meiner Baracke zugeteilt. Bis auf Weiteres.«

Otto fühlte, wie das Adrenalin durch seinen Körper jagte. Endlich war Schluss mit der Lethargie. Er durfte arbeiten. Als Arzt. Ganz offiziell. Er würde sich anstrengen, er würde schuften, bei Tag und bei Nacht, bis zur Erschöpfung – und wenn er dabei zugrunde ging, dann wenigstens sinnvoll. Am liebsten wäre er auf Mascha zugesprungen, um sie an sich zu reißen. Stattdessen stammelte er nur einen kurzen Dank, gefolgt von einem ordentlichen Fluch.

»Dein Russisch wird immer besser, Otto. Nur das Fluchen muss noch beiläufiger werden, nicht so korrekt, weißt du? Komm her, mein Freund.«

Sie drückte ihn an sich. Sie hatte »mein Freund« gesagt. Wann hatte er dieses Wort zum letzten Mal gehört? Von Sala, von Sala. Er zuckte erschrocken zurück.

»Komm, wir beginnen mit der Morgenvisite.« Sie lächelte.

Am Nachmittag wurde ein stark blutender Mann ins Lazarett gebracht. Ihm fehlten zwei Finger der rechten Hand. Otto übernahm die Erstversorgung, stoppte die Blutung so gut es ging, ließ den Mann ein bisschen Chloroform einatmen, gerade genug, um ihn in Ruhe zu verarzten.

Mascha schaute ihm zufrieden über die Schulter.

»Das kommt öfter vor. Selbstjustiz.«

Otto sah sie fragend an.

»Wahrscheinlich Essensdiebstahl unter Kameraden. Für jeden Laib Brot ein Finger.«

Otto schüttelte den Kopf.

»Warum greift die Lagerleitung da nicht ein?«

»Was die Gefangenen untereinander machen, interessiert sie nicht. Aber wehe dem, der in der Küche klaut …«

»Was dann?«

»Zehn Jahre für einen Laib Brot, zwanzig für ein Huhn.«

»Das verstößt gegen die Genfer Konvention.«

Mascha lachte.

»Ihr seid Gefangene. Ihr habt den Krieg verloren. Weißt du, wie viele Menschen durch euch gestorben sind?«

»Ja. Wir sind Kriegsgefangene. Aber trotzdem haben wir Rechte.«

Er war laut geworden. Mascha sah ihn ruhig an. Otto wurde rot. War er vollkommen übergeschnappt? Er, ein deutscher Soldat, wollte einer russisch-jüdischen Ärztin etwas über das Recht in diesem Krieg erklären?

»Ihr seid ein komisches Volk«, sagte Mascha.

»Ja, das sind wir wohl.« Er machte eine Pause. »Es tut mir leid.«

Das Kind war noch kein Jahr alt. Es war glühend vor Fieber von einem Bauern aus einem der umliegenden Dörfer gebracht worden. Die medizinische Versorgung in den ländlichen Gebieten war katastrophal. Zum nächsten Krankenhaus war der Weg oft zu lang. Der Puls des Säuglings war schwach. Ein Junge. Reglos lag er auf dem Tisch. Viel Zeit blieb nicht.

»Mittelohrentzündung«, sagte er zu Mascha auf Deutsch und deutete auf sein Ohr. Er kannte das russische Wort noch nicht. Er sollte es in den kommenden Tagen kennenlernen. Es blieb nicht bei einem Kind.

Mascha wollte eine Lokalanästhesie einleiten. Otto schüttelte den Kopf. Jede Sekunde zählte, außerdem fürchtete er, das Baby könnte das Narkosemittel nicht vertragen. Er erinnerte sich an seine Zeit in der Kinderklinik in Berlin. Aufschneiden, Eiter raus. Mit fliegenden Händen führte er im vorderen Quadranten des Trommelfells einen kleinen Schnitt durch und saugte mithilfe eines Röhrchens den Eiter aus der Paukenhöhle. Es dauerte keine Minute, und das Mittelohr war wieder belüftet. Mascha hatte ihm beeindruckt zugeschaut. Jede Bewegung war schnell und präzise gewesen. Das Kind starrte ihn an und vergaß zu schreien.

Schnell sprachen sich seine Fähigkeiten herum. Otto besorgte regelmäßig kleinere und mittlere chirurgische Eingriffe, was ihm in der Umgebung den Ruf eines Arztes mit heilenden Händen eintrug. Zwischendurch war er mit Ekzemen, Vergeltungsaktionen oder Selbstverstümmelungen beschäftigt.

Einmal kam ein Patient, der eine große Menge Salzlauge getrunken hatte, um sich eine nasse Dystrophie zuzuziehen. Er war auf das Gerücht hereingefallen, dass Dystrophiker in die Heimat zurückgeschickt wurden, weil sie nicht mehr für den Arbeitseinsatz zu gebrauchen waren. Otto tat, was er konnte, beriet, pflegte und arbeitete, bis er erschöpft auf die Pritsche seiner Baracke fiel. Mascha wich ihm nicht von der Seite.

Ein paar Wochen später wurde Otto ohne jede Vorwarnung morgens zum Holzfällen eingeteilt. Ein russischer Arzt war dem Lager zugeteilt worden. Man brauchte ihn nicht mehr. Wütend folgte er der Truppe.

Auf dem Rückweg stolperte er über eine vom Schnee verwehte Leiche. Der tote Körper war halb nackt. An mehreren Stellen waren mit einem scharfen Messer Fleischstücke herausgeschnitten worden. Zurück im Lager stürmte Otto in die Baracke der Kommandantur. Er riss die Tür auf, trat unaufgefordert ein und erstattete Bericht über diesen Fall von Kannibalismus. Bevor der Kommandant etwas sagen konnte, sprach Otto mit fester Stimme weiter.

»Ich bin hier als Arzt vom Deutschen Roten Kreuz. Wenn Sie mich in die Wälder schicken, verstoßen Sie gegen die Genfer Konvention und werden sich dafür genauso verantworten müssen wie für alles andere.«

Der selbstbewusste, schneidende Ton in russischer Sprache tat seine Wirkung.

»Als gefangener Offizier protestiere ich entschieden. Ich erwarte, dass ich ab morgen wieder da eingesetzt werde, wo man mich braucht: auf der Krankenstation.«

Er schlug mit der Faust auf den Tisch, machte auf dem Absatz kehrt und verließ den Raum, ohne sich umzudrehen.

Am nächsten Morgen stand er pünktlich am Operationstisch und ging mit Mascha die Liste der Patienten durch, die auf einen Eingriff warteten.

Zwei Tage später begegnete er dem Kommandanten auf dem Weg zum Lazarett.

»Woher kannst du so gut Russisch?«

»Mascha hat es mir beigebracht.«

»Hat sie dir auch unsere Schrift beigebracht?«

Otto nickte verstohlen. Der Kommandant lächelte.

»Wer gefällt dir am meisten?«

»Puschkin.«

»Du liest Puschkin?«

Während Ottos Gefangenschaft gab es keinen weiteren Versuch, ihn anderweitig einzusetzen. Wann immer er dem Kommandanten begegnete, grüßten sie einander mit Respekt. Eines Tages fand er auf seinem Bett eine zweibändige Puschkinausgabe. Jeden Tag lernte er ein Gedicht auswendig.

»Tachchen, Otto.«

Heinz gehörte zur Lagerprominenz. Er war Mitglied der aus dem Nationalkomitee Freies Deutschland hervorgegangenen Antifa. Immer versicherte er sich durch einen Blick nach rechts und links, ob ihn auch keiner bespitzelte. Diese Marotte war auch unter den ausländischen Gefangenen als »deutscher Blick« bekannt. Eigentlich war Heinz harmlos. Vor dem Krieg hatte er in Kurzwaren gemacht. Immer Kommunist, war er nie auf die Nazis reingefallen. Otto mochte ihn. Vielleicht waren es die heimatlichen Klänge, vielleicht die direkte, unkomplizierte Art. Heinz erinnerte ihn an etwas, ohne dass er es genauer beschreiben konnte. Als er sich auf dem menschenleeren Platz wie immer nach rechts und links umdrehte, musste Otto schallend lachen. Heinz zog mit dem linken Zeigefinger das Augenlid herunter.

»Immer wachsam sein. Immer vor die Holzaugen aufpassen. Jibt leider auch in unsre Reihen einige. Det sin die Zeiten, wo ’n ehrlicher Mann sum Verräter wird für’n Nachschlag Kascha.«

Holzaugen waren die Spitzel, die sich bei der Kommandantur einschmeichelten, indem sie auf Diebstähle oder andere Regelverstöße hinwiesen. Kaschköppe waren noch eine Stufe drunter. Sie machten alles für eine doppelte Portion Kascha, den täglichen Brei.

»Heute ist Wahlabend. Biste mit von de Partie?«

»Worum geht’s denn?«

»Wir wählen det politische Lageraktiv. Soll dir ooch schöne Jrüße bestellen, vom Wolfram, unserm Aktivältesten. Wir würden uns alle freuen, wenn de mal vorbeischauen tätest.«

»Weiß nich, mit Vereinen hab ich’s nie so gehabt.«

»Mensch Otto, jetzt zier dir nich so. Bist doch eener von uns.«

»Weder von euch noch von sonst wem.«

»Weeßte, in der Heimat …«

»Komm mir nich damit, Heinz. Bei mir hat sich’s ausgeheimatet.«

»Aber wir singen ooch. Und schöne Lieder sind dabei. Kannste mir glooben.«

»Mir hat die Masch schon in den Dreißigern gereicht. Was anderes habt ihr doch auch nicht vor. Und singen, das kenne ich, erst fangen wir Deutschen an zu singen, und dann schlagen wir den andern die Köppe ein.«

»Falsch, Otto, janz falsch. Wat wir wollen, is, een Neues Deutschland aufbauen, vastehste. Von unten, nich von oben. Die Jenossen in Berlin, inner Ostzone, wo jetzt dem Russen, also wo die det Sagen haben, ja, die bereiten den Boden für unsere Heimkehr, aber janz anders als in’ Westen, wo schon wieder die alten Nazis in Amt und Würden sind.«

»Nimm es mir nicht übel, Heinz, aber das ganz andere, das hatten wir doch gerade, vom ganz anderen hab ich die Schnauze gestrichen voll.«

»Ja, willste denn weitermachen wie jehabt?«

»Ich kenn deine Genossen. Frag mal die Russen nach ihren Genossen. Alles dieselbe Soße nur ’ne andere Farbe. Wenn man lang genug dran kratzt, wird aus Braun Rot.«

Auf seiner Pritsche dachte er an Sala, ihre letzte Begegnung in Leipzig. Dieser Hannes hatte jetzt alle Chancen. Die Zeit arbeitete für ihn. Selbst wenn er in einem halben Jahr zurückkäme, was er selber nicht glaubte, konnte es schon zu spät sein. Niemand war schuld. So war der Krieg. Auch die Gefangenschaft war Krieg. Egal was kommen würde, überall war der Krieg. Diese Jahre hatten ihn für immer verändert. Und Sala auch. Auch sie war in einem Lager gewesen. Mehr als eine kurze Erwähnung war es ihr nicht wert gewesen. So würde es ihm auch ergehen, wenn er das hier hinter sich hätte. Es gab nichts mitzuteilen. Was denn? Das Verstummen? Den galoppierenden Verlust der eigenen Persönlichkeit, so wie er ihn bei seinen Kameraden beobachtete, während er sich fragte, ob er in diesem Moment wohl genauso auf die anderen wirkte wie sie auf ihn? Er hatte es in Leipzig gespürt, als er sie in seine Arme nahm. Sie war eine andere geworden. Die Sala von früher war nur in kurzen Momenten zu erahnen gewesen, ein fliehender Schatten. Was sich jetzt wohl in der Baracke abspielen mochte? Er wusste, wie sich diese Gruppe zusammensetzte. Manche waren ganz ordentliche Leute. Alte Sozialisten. Auch Kommunisten waren darunter. Sie meinten es ehrlich. Aber sie schwiegen über die Vergangenheit wie alle anderen. Wie sollte so etwas Neues entstehen? Von den Schweinereien wurde nicht gesprochen. Maulkorb. Keiner hatte den Mut, darüber nachzudenken. Alle Illusionen waren zerstört. Sie waren umgeben von lebenden Leichen, die jede Selbstachtung verloren hatten. Daraus konnte nichts Neues wachsen. Der Boden war für immer verseucht. Am besten wäre es, man würde alles auslöschen, das ganze Deutsche Reich von der Landkarte streichen. Für immer. Der Neuanfang blieb den anderen vorbehalten, die jetzt das Land unter sich aufteilten. Und die anderen Genossen, die sich bei der Antifa einschmeichelten, um ein paar kleine Vorteile einzuheimsen, alles Holzaugen und Kaschköppe, für einen Löffel mehr den Nachbarn oder auch den Genossen verraten, wenn er eine andere Meinung äußerte. Das war die neue Freiheit. Darauf konnte er pfeifen. Freie Aussprache. Es war zum Lachen. Damit wurden die Leichtgläubigen ausgehorcht. Niemand im Lager war so uneins wie die Deutschen. Andere Völker hielten zusammen. Als man den Japanern das Ofenholz rationierte, befahl der japanische Oberst, die Baracke abzufackeln. Gemeinsam setzten sich die japanischen Soldaten dicht an die Flammen, um sich lachend zu wärmen. Die einen wollten lieber gemeinsam erfrieren, als sich demütigen zu lassen, die anderen bespitzelten einander lieber, stahlen dem Kameraden sein Brot, nur um vielleicht ein paar Stunden länger zu leben, egal wie erbärmlich es sein mochte.

Schließlich ging er doch. Alles war besser, als in seiner Baracke auf der Pritsche liegend an die Decke zu starren.

Als er die Antifa-Baracke betrat, saß am Klavier ein Studienrat. Er spielte die Internationale. Es gab wässrigen Kaffee.

Heinz begrüßte ihn freudig und zog ihn nach vorne, als Wolfram Lutz, der Aktivälteste, mit seiner Rede begann.

»Jenossen.« Er war ein gutmütiger, etwas grobschlächtiger Mann, wie Otto sie aus seiner Kindheit kannte.

»Jenossen, wir haben uns heute jetroffen, um demokratisch det neue Lageraktiv zu wählen. Es ist der Lagerleitung hoch anzurechnen, dass sie uns, den ehemaligen Feinden, die so viel Leid über sie und ihre Familien jebracht haben, dennoch vertrauen. Bitte verjesst det nicht, Jenossen, seid euch eurer Verantwortung bewusst.«

Wolfram gehörte zu denen, die, frei von Fanatismus, die sachliche Auseinandersetzung suchten. Aber es gab auch andere.

Ihre scheelen Blicke entgingen Otto nicht. In Verlogenheit und Gier verschraubte Körper, bereit, jeden zu denunzieren, um sich ihr Gefangenendasein zu versüßen. Auch sie bereiteten sich eifrig auf einen möglichst nahtlosen Übergang in die neue Gesellschaft vor, in der die guten alten Tugenden der Gemeinheit, Unterwürfigkeit und des Verrats bald wieder gefragt sein würden.

»Jenossen, bevor wir zur Tat schreiten, möchte ick auch darauf hinweisen, dass die Lagerleitung uns, der Antifa, die ehrenwerte Aufgabe zugewiesen hat, die in der ideologischen und kulturellen Betreuung aller deutschen Jefangenen besteht. Auch det ist alles andere als selbstverständlich. Manche von euch werden sich an die Behandlung russischer Jefangener in unseren Lagern erinnern. Dass wir dafür nicht kollektiv bestraft werden, ist dem Russen hoch anzurechnen. Für alles andere jilt: Wir haben den Krieg verloren.«

Ein paar Genossen, die ihre Hände gerade zum Klatschen hoben, ließen sie bei dem letzten Satz schnell wieder sinken.

»So, Jenossen, und jetzt guckt mal auf diese Liste.« Er schwenkte eine Namensliste nach allen Seiten.

»Diese Liste wurde im Einvernehmen mit der Lagerleitung erstellt. Also überlegt jut, wo ihr euer Kreuz macht.«

Die Listen gingen herum. Die ersten Namen waren die üblichen Kommunistenfreunde, die die Russen haben wollten. Zuletzt aber entdeckte Otto zwei Namen, die man zu den Gemäßigten zählen durfte. Zu seinem großen Erstaunen wurden sie gewählt. Die demokratische Wahl hatte nicht nur gesiegt, sie hatte auch noch die Richtigen getroffen. Man trank Kartoffelschnaps.

Am nächsten Tag wurde das Ergebnis von der Lagerleitung für ungültig erklärt. Die Wahl sei faschistisch beeinflusst worden, es sei leider deutlich zu erkennen, wie nationalsozialistisch die Deutschen noch immer dachten. Die Lagerleitung ernannte ihre eigenen Leute.