12

Salas Mutter, Iza Prussak, entstammte einer alten jüdischen Familie aus Lodz. Ihr Vater, Leijb Prussak, ein Tuchfabrikant, schickte seine drei Töchter zum Studium ins Ausland. Lola wurde eine erfolgreiche Modeschöpferin in Paris, Cesja ging nach Buenos Aires und Iza, die Erstgeborene, studierte Medizin in Bern, wo sie sich später auf Dermatologie und Psychiatrie spezialisierte. Sie fühlte sich den Neomalthusianern verbunden, die Teil einer Reformbewegung waren, die die Armut bekämpfen wollte, indem sie die Sexualität durch Verhütung von der Pflicht zur Fortpflanzung befreite. Für Iza gab die Geburtenkontrolle der Frau das Recht am eigenen Körper zurück. Sie verbrachte ihre freie Zeit im Haus ihrer Freundin Margarethe Hardegger, die einen Diskussionsklub führte, eine Art literarisch-politischer Salon. Neben der Literatur ging es um Bildung, freie Liebe, die Rolle der Frau, die Abschaffung der Ehe, die inneren Konflikte der Arbeiterorganisationen, Fragen theosophischer Natur und sozialer Ethik. Immer wieder hörte sie von einem Berg in Ascona, oberhalb des Lago Maggiore, den ein junger, belgischer Industriellensohn gekauft habe, um dort mit ein paar Gleichgesinnten das Leben zu reformieren. Sie ernährten sich streng vegetarisch. Bei warmem Wetter bewegten sie sich nackt, wurde es kühler, trugen sie selbst genähte weiße Baumwollgewänder. Im Sommer 1907 machte Iza einen Ausflug nach Ascona. Sie ging die vielen Stufen zum Berg hinauf. Die Bewohner hatten ihn Monte Verità getauft, Berg der Wahrheit.

Als sie in der untergehenden Sonne zwischen den kleinen Holzhütten spazierte, sah Iza zwei junge Männer nackt im Gras liegend angeregt diskutieren. Sie wollte sich gerade wegdrehen, als der eine von ihnen aufsprang und auf sie zueilte. Er verneigte sich höflich.

»Johannes Nohl, und dahinten, das ist mein Freund Erich Mühsam. Wollen Sie mit uns zu Abend essen?«

»Nackt?«

Sie lachten.

»Hier nennen mich alle Jean.«

»Ich heiße Iza.« Sie streckte ihm die Hand entgegen.

»Wir gehen heute Abend runter ins Dorf. Erich verträgt den vegetarischen Fraß nicht. Ein bisschen Pasta alla Bolognese und eine Flasche Rotwein?«

»Lieber ein blutiges Stück Fleisch und einen Eimer Rotwein.«

»Wir werfen uns nur in Schale.«

»Ich warte im Haupthaus bei Herrn Oedenkoven auf Sie.«

»Passen Sie auf, dass seine Freundin Sie nicht sieht.«

Mit seinem jungenhaften, hellen Lachen drehte er sich um und ging zurück zu seinem Freund, der die Konversation argwöhnisch aus der Ferne beobachtet hatte. Iza blickte ihm ungeniert nach. Sein schön gewachsener Körper schien leicht zu schweben. Sie roch das Gras.

Ich versuchte mir ein Bild von diesem Wahrheitsberg zu machen. Im Internet fand ich blühende Seelandschaften, notierte mir verschiedene Buchtitel und erinnerte mich an zwei Ferienaufenthalte in meiner Kindheit, allein mit meiner Mutter, irgendwo in der französischen Schweiz. Ich glaube, der Ort hieß L’Auberson. Nirgendwo war sie so entspannt gewesen. Sie trug dort auch keine Perücken.

In einer Buchhandlung entdeckte ich unter den Schriften Erich Mühsams ein kleines Buch über Ascona. Vieles darin kannte ich bereits aus früheren Erzählungen meiner Mutter. Ich fragte sie, ob sie nicht Lust hätte, mit mir ihren Geburtsort zu besuchen. Ich hoffte, die Landschaft würde emotionale Erinnerungen auslösen, Dinge oder Geschichten, die in ihrem Bewusstsein erloschen waren. Ich lockte sie mit ein paar alten Fotografien, die ihren Vater und Erich Mühsam mit anderen Monteveritanern bei einem Wasserfall zeigten.

»Die sind ja alle nackt! – Wie spaaaßig.«

Sie starrte lange auf das Bild ihres Vaters.

»Erkennst du einige von den Leuten wieder?«

»Aber natürlich.«

»Wen?«

»Alle.«

»Kannst du dich an die Namen erinnern?«

Sie fuhr sich mit der Hand über das Gesicht.

»Na, das ist doch der Mühsam. Und dahinten, das muss Fanny zu Reventlow sein. Mein Gott, war die schön. Eine schöne Frau.«

Ich glaubte, dass sich Franziska zu Reventlow zu dieser Zeit noch nicht am Monte Verità aufhielt, wollte sie aber nicht verwirren. Ihren Vater und Erich Mühsam hatte sie jedenfalls erkannt. Vielleicht war doch noch Hoffnung.

»Was meinst du, wollen wir hinfahren?«

»Ist das nicht zu anstrengend für mich? Die ganze Reise, weißt du?«

»Würde es dir denn Freude machen?«

»Ich glauuuube schon.«

Ich versprach, alles so schnell wie möglich in die Wege zu leiten.

Der Flug ging von Berlin über Zürich nach Lugano. Eine halbe Stunde später bog unser Taxifahrer in den Serpentinenweg, der zum Hauptgebäude der Fondazione Monte Verità führte. Mitten in der Natur lag ein Ensemble von zeitloser Schönheit. Der Aachener Bauhaus-Architekt Emil Fahrenkamp hatte die beiden Würfel des ursprünglichen Zentralhauses um eine Grotte im tessinischen Stil erweitert. Darüber lag ein Restaurant mit großzügigen Fensterfronten, verbunden mit lichtdurchfluteten Zimmern und großen Balkonen bis zum vierten Stockwerk des neuen Hotels. Dieser Umbau wurde 1927 von dem neuen Besitzer, dem Bankier, Kunstsammler und Mäzen Eduard von der Heydt, beauftragt.

Meine Großeltern zogen 1921 oder 1922 nach Berlin zurück, damals war meine Mutter zwei oder drei Jahre alt. Mein Großvater war sehr betrübt, weil sie kein einziges Wort sprach. Schweigend, wie damals, stieg sie jetzt die Treppen hinauf. Ein schwerer Gang, sie war bemüht, es sich nicht anmerken zu lassen.

Nachdem ich alle Formalitäten erledigt hatte und unser Gepäck auf die Zimmer verteilt worden war, machten wir einen kleinen Spaziergang. Ein schmaler, gepflegter Weg führte, vorbei an dem alten Teehaus, zu den letzten noch erhaltenen Hütten ihrer Kindheit. Es waren drei oder vier, jede konnte zwei, höchstens vier Personen beherbergen. Sie waren aus dunklem Holz gebaut, mit einer kleinen Veranda.

Ich half meiner Mutter die zwei Stufen hinauf. Die Tür stand offen. Wie damals, schien ihr Blick zu sagen. Wir standen mitten im Raum. Wie klein, dachte ich. In einer Ecke stand ein einfacher Holzstuhl. Sie setzte sich. Die Mittagssonne fiel durch das Fenster, die Holzwände seufzten, ein Laut aus einer verlorenen Zeit. Hier hatten sich ihre Eltern kennengelernt, hier wurde sie geboren, hier hatte ihr Schicksal seinen Lauf genommen.

In die längst zur Neige gehende Romantik hineingeboren, in die aufstrebende Industriewelt, in die sie sich nicht fügen konnten und wollten, waren sie aus allen Himmelsrichtungen hierhergekommen, mit ihrer Sehnsucht, ihrer Hoffnung, ihrem Willen, etwas Neues zu wagen. Eine Lebensreform sollte es werden. Ein Paradies. Eine Gegenwelt für all jene, die nicht geschaffen waren, das auszuhalten, was war, was noch kommen sollte, was keiner vorhersah. Ein Utopieraum für Künstler und Parias, eine neue Kultur, die dem Patriarchat den nackten Hintern ins Gesicht streckte, die alle Autoritäten, die bürgerlichen Institutionen, den rapide wachsenden Kapitalismus verachtete.

Ich suchte in dem Gesicht meiner Mutter nach Spuren dieser Zeit.

»Hier gab es keine Betten.«

Ihre Stimme kam von weit her. Konnte sie sich an Dinge aus ihrer frühesten Kindheit erinnern? Wohl kaum, aber vielleicht wusste sie es von ihrem Vater.

»Wir haben hier auf dem Boden geschlafen. Es war alles sehr spartanisch. Man trug auch keine Schuhe. Wenn wir im Wald nach Pilzen suchten, oder meinem Vater mit der Botanisiertrommel folgten, kamen wir immer mit blutigen Füßen zurück.«

Wie lebte ein Kind unter diesen Menschen, die so ausschließlich mit sich beschäftigt waren, mit ihrer Individuation, ohne die es für sie kein höheres Leben gab? Ein bisschen Goethe, ein bisschen Rousseau, Natur, Kultur, Wissenschaft, eine ordentliche Prise Freud und alles durcheinandergeschüttelt? Und darüber noch Bachofens Mutterrecht gestreut, das in den Bildern der griechischen und römischen Sagen die alten Mythen von Matriarchat und Patriarchat gegeneinander abwog? Kein leicht verdaulicher Cocktail.

»Ich möchte zum Wasserfall«, sagte sie in die Stille hinein.

1900 war Freuds Traumdeutung erschienen.

Auf dem Weg zum Wasserfall erzählte sie mir, dass mein Großvater seine Schriften verschlungen habe.

»Hier, am Monte Verità, bildete er sich selber zum Laienanalytiker aus«, sagte sie, als wir eine kurze Pause einlegten um Luft zu holen.

Aus den Tagebüchern von Erich Mühsam wusste ich, dass sich damals eine recht dynamische Gruppe um meinen Großvater und den jungen österreichischen Psychiater und Psychoanalytiker Otto Gross gescharrt hatte. Gross war mit seiner Frau hierhergekommen, um sich von seiner Kokainsucht zu kurieren. Man kannte sich bereits aus dem Schwabinger Café Stefanie. Jeden Morgen traffen sich alle Interessierten auf dem großen Rasenfeld. Sie saßen nackt im Kreis und analysierten gegenseitig ihre Träume.

»Für meinen Vater waren das die ersten Versuchskaninchen. Die haben ihm alle aus der Hand gefressen. Besonders die Frauen, obwohl die ihn ja nur platonisch interessierten. Er verführte gerne, egal ob Männlein oder Weiblein.«

»Aber er lebte doch damals schon mit Iza zusammen. Und du warst auch schon geboren. Also nur schwul kann er ja nicht …«

»Ja, aaaber er gab Männern den Vorzug.«

»War er bisexuell?«

»Na, du bist gut.«

»Was meinst du?«

»Er war eben nicht bürgerlich, weißt du? Bei uns zu Hause gingen ja später die Stricher ein und aus. Die gaben sich die Klinke in die Hand, ja?« Sie starrte vor sich hin. »Spaaaßig.«

»Das war für dich als Tochter bestimmt nicht einfach, oder?«

»Ach, was ist schon einfach? – Mein Vater ist als junger Mann von seinem Vater rausgeschmissen worden. Wahrscheinlich hat er das nie verwunden, jedenfalls duldete er keine Einmischung, weißt du, er ließ jedem Menschen seine Freiheit, beanspruchte das aber auch für sich. Ich hätte es nie gewagt, ihn darauf anzusprechen.« Sie holte tief Luft.

»Als mein Großvater mit seiner zweiten, jungen Frau von einer Bildungsreise durch Italien nach Berlin zurückkehrte, da war was los.«

»Was denn?«

»Na, die wurden von ungeladenen Gästen bereits hungrig erwartet.« Sie lachte. »Und dann, am nächsten Morgen, waren ihre Körper voller dunkelroter Hautquaddeln, Wanzenbisse«, rief sie und fuhr juchzend fort, »Wanzenbisse in langen, straßenförmigen Linien, sozusagen eine stechende Gegenwelt zur florentinischen Renaissance. Das sollte seinem Sohn nicht gut bekommen.«

Sie machte eine Pause, dann wechselte sie in einen ernsten Tonfall.

»Dass mein Vater den Verlust seiner Mutter nie ganz verwunden hatte, wusste mein Großvater, dass er ein Träumer war, ein melancholischer Fantast, dessen Benehmen er oft nicht verstand, konnte er noch schlucken, dass sein Sohn in der Schule, die er leitete, in der Sexta und in der Quarta sitzen geblieben war, fiel ihm sicherlich schon etwas schwerer, sogar seinen Hang zum eigenen Geschlecht hätte er noch als jugendliche Verirrung toleriert, aber …«, sie erhob die Stimme, versetzte sich nun vollkommen in die Rolle ihres Großvaters, »aber nicht mit Männern aus den untersten Ständen und nicht in seinem Bett. Er sah darin einen Angriff auf seine junge Ehe und fühlte sich in seiner männlichen Ehre verletzt.«

Ich sah sie schweigend an. In den letzten Jahren hatte sie mir diese Geschichte in immer neuen Variationen erzählt. Aber was sie auch veränderte, das Ende blieb gleich.

»In einem kurzen Brief forderte er ihn auf, sein Haus zu verlassen und fügte als Post Scriptum hinzu: ›Wenn du dich an jungen Männern deines Standes vergangen hättest, das wäre noch zu verzeihen gewesen, aber du hast dich mit der Hefe des Volkes abgegeben.‹«

Ihr Vater brach kurz darauf sein Studium der Kunstgeschichte ab. Mit seinem Freund Erich Mühsam reiste er nach München. Von dort wanderten sie mittellos über Italien in die Schweiz. Sie schlossen sich einer kleinen Gruppe von Künstlern und Aussteigern an. Ida Hofmann und Henri Oedenkoven, ein junges Paar in wilder Ehe, hatte mit den Brüdern Karl und Gusto Gräser auf einem Berg bei Ascona eine vegetabile Gesellschaft gegründet.

Der Rauch von Pfeifen, Zigarren und Zigaretten schlug ihnen entgegen, als sie die kleine Trattoria in einer der Seitengassen der Hafenpromenade von Ascona betraten.

Jean und Erich wurden johlend begrüßt. Iza spürte an den verspielten, taxierenden Blicken, dass die beiden hier selten oder gar nicht in weiblicher Begleitung erschienen. Der Wirt umarmte sie und streckte Iza seine dicke Pranke hin.

»Luca. Es ist mir eine Ehre. Kommt, ich habe den besten Platz für euch, come sempre.«

Er winkte einen jungen, dunkelhaarigen Kellner herbei, der sofort einen Tisch am Fenster herrichtete. Jean streichelte ihm dabei mit größter Selbstverständlichkeit sanft den Hintern, dabei flüsterte er ihm ein paar Worte ins Ohr. Der Kellner wurde feuerrot und kicherte, Jean zwickte ihn aufreizend zwischen den Beinen. Erich senkte wütend den Blick. Iza schwieg. Dieser Jean schien es faustdick hinter den Ohren zu haben. Jedenfalls sah er fabelhaft aus, groß, ein ovales, fein geschnittenes Gesicht, lange dunkelblonde Haare, ein sensibler Mund, verträumte Augen, die im Licht mal grün, mal blau leuchteten. Aber am meisten beeindruckten Iza seine Hände, noch an keinem Mann hatte sie so neugierige, wissende Hände gesehen. Hemd und Hose waren aus weißem Leinen. Mit seinem großen Hut und dem Umhang erinnerte er an Goethe während seiner Jahre als Maler Möller in Rom. Sie merkte, wie Erich sie beobachtete. Sie war noch nie homosexuellen Männern begegnet. Sie konnte nichts Anstößiges daran finden, sie wirkten frei, besonders Jean verfügte über eine kultivierte, selbstbewusste Eleganz, eine erotisierende, teils männliche, teils weibliche Aura. Plötzlich zog er den jungen Kellner auf seinen Schoß, nahm ein schmales Buch aus seiner Brusttasche, blätterte mit der einen Hand darin, während er mit der anderen den Knaben weiter befummelte, und in leicht singendem Ton zu lesen begann. Bei der mittleren Strophe presste er dem Jungen seine Lippen ans Ohr und rezitierte leise, aber gerade noch laut genug, damit auch Erich und Iza ihn hören konnten.

»Komm heiliger knabe! hilf der welt die birst

Dass sie nicht elend falle! einziger retter!

In deinem schutze blühe mildre zeit

Die rein aus diesen freveln sich erhebe.

Es kehre lang erwünschter friede heim

Und brüderliche bande schlinge liebe!

So singt der dichter und der seher weiss

Das neue heil kommt nur aus neuer liebe.«

Mit dem letzten Vers wandte er sich Iza zu und legte den Kopf an ihre Brust.

»Stefan George«, flüsterte er mit leuchtendem Blick. Dann sprang er unversehens auf, sprach die letzte Strophe, drehte eine Pirouette und verneigte sich clownesk in die Runde. Ein paar Gäste klatschten ihm von den angrenzenden Tischen zu. Er nahm den Aufruhr um seine Person, das Tuscheln, die neugierigen Blicke, nicht zur Kenntnis, zumindest war er bemüht, diesen Eindruck zu erwecken, dachte Iza und lächelte.

Endlich kam das Essen. Jean bestellte die zweite Karaffe Rotwein. Luca servierte das Fleisch persönlich. Den hübschen Kellner hatte er hinter den Tresen verbannt, Erichs eifersüchtige Blicke waren ihm nicht entgangen, das war schlecht fürs Geschäft.

Solche Männer hatte sie in Lodz nicht kennengelernt, auch nicht in Bern, die Medizinstudenten waren allesamt langweilige Wissensverwalter, frei von Neugierde, blutleer und spießig. Und die Kommunisten im Haus ihrer Freundin Margarethe waren auch nicht viel besser, einige waren auch noch unerträglich autoritär. Die beiden hier waren aus einem ganz anderen Holz. Was wohl ihr Vater denken würde, wenn er sie jetzt sehen könnte? Sie, Tochter eines streng orthodoxen Juden, zwischen zwei homosexuellen Männern? Homosexualität war bei den Juden streng verboten.

»Ich frage ihn«, redete sich Erich nun in Rage, »was denn nun wäre, wenn ich an dem ganzen vegetarischen Quatsch krepieren würde, und wissen Sie, was mir dieser eingebildete Pinsel zur Antwort gibt? Er betrachtet mich so von oben bis unten und näselt dann mit seiner alles verstehenden, alles verzeihenden Fistelstimme: ›Dann wäre es ein Verlust, der ohnehin nicht zu vermeiden gewesen wäre.‹ Und jetzt frag’ ich Sie, Gnädigste, macht der Vegetarismus impotent, oder muss man impotent sein, um Vegetarier zu werden?«

Bei Kaffee und Schnaps lagen sich alle drei in den Armen. Wenige Tage später zog Iza in eine Hütte auf dem Berg.

Den Tag begann man mit der Traumanalyse. Jean, Iza, Otto Gross, Erich Mühsam und ein paar junge Frauen und Männer saßen schweigend im Kreis. Alle waren nackt. Ein leichter Wind war zu spüren. Bienen summten über die Wiese.

»Wer möchte beginnen?«

Die Männer senkten den Blick, die Frauen sahen Jean erschrocken an. Otto Gross kratzte sich genüsslich am Hodensack. Sein Glied schwoll etwas an. Johanna, eine große, sehr dünne Frau mit schneeweißer Haut voller Sommersprossen bemerkte es und wandte diskret den Blick ab.

»Irritiert dich der Anblick eines Glieds, Johanna?«

Johanna sah Otto Gross gerade in die Augen. »Nein.«

»Erregt es dich, wenn du meine Erregung siehst?«

»Vielleicht …« Sie schlang kichernd ihre Arme um ihre hochgezogenen, endlosen Beine.

»Ich kann sehen, wie du feucht wirst, während wir sprechen. Erregen dich Wörter?«

»Manchmal …«

Gross drehte sich in die Runde.

»Was glaubt ihr? Reagieren Frauen stärker auf Wörter und Männer eher auf primäre sexuelle Reize?«

»Soll das ein Unterdrückungsgespräch werden?«, sagte Iza. Ihre Augen ruhten kühl auf Gross.

»Zwischen Männern und Frauen geht es immer um Unterdrückung, Iza.«

»Wir haben angefangen, uns zu wehren.«

»Ja? Wie denn? Wie willst du dich gegen zweitausend Jahre christlich-jüdische Geschichte wehren? Selbst wenn ihr das wolltet, man hat euch die Kraft dazu genommen. Ihr werdet erzogen, zu geben und zu gefallen. Vielleicht könnt ihr anders denken, aber nicht anders fühlen.«

»Ihr habt uns die Sprache genommen, aber wir werden sie zurückerobern.«

»Gegen den patriarchalischen Willen? Das möchte ich sehen. Eure Emanzipation ist wertlos, eine Totgeburt, wenn die Männer bleiben, wie sie sind.«

»Das werden sie nicht. Wenn sie nicht begreifen, dass sie von demselben System versklavt werden wir wir, werden sie untergehen.«

Jean wartete gespannt, welche Richtung das Gespräch nehmen würde. Seine Hand wanderte über Izas Knie. Sie schob sie bestimmt weg. Die andern Frauen spielten nervös mit ihren Haaren oder streckten ihren Körper der Sonne entgegen.

»Ich dachte, wir wollten Traumanalyse machen …«, murmelte eine von ihnen enttäuscht.

»Johanna, findest du auch, dass Frauen im Widerstand ihre erotischen Reize einbüßen?«

»Manchmal …«

»Hättest du Lust, mit mir zu schlafen?« Er sah sie herausfordernd an.

»Und deine Frau?«

»Wir gehören einander nicht.«

»Nein.« Eine schlanke Frau mit breiten Schultern lachte sie offen an.

»Auch nicht zueinander?«, sagte Iza, ohne sie eines Blickes zu würdigen.

»Du teilst deinen Jean doch auch mit Erich«, sagte Gross.

»Er war vor mir da, und ich nehme niemandem etwas weg.«

»Das ist natürlich etwas ganz anderes«, lachte Gross.

»Außerdem sind Jean und Erich das beste Beispiel für eine männliche Emanzipation.«

»Tief in uns tobt ein Konflikt, Iza, der unsere innere Einheit zu zerreißen droht«, begann Otto Gross leise und eindringlich, »diese seelische Zerrissenheit bedroht uns alle, jeden einzelnen Menschen auf diesem Planeten. Und deswegen«, seine Augen funkelten nervös, seine Gliedmaßen begannen zu zucken, während er, immer schneller redend, seine Stimme anschwellen ließ, »deswegen glaubt jeder von uns, dass unser persönliches Leid unvermeidbar sei, dass es normal ist, so zu leben. Das beginnt bereits im Mutterleib. Das noch nicht geborene Kind lernt, sich der Familie anzupassen, in die es demnächst hineingeboren wird, in der es lernen wird, dass es seine Art zu lieben an den Liebeskodex ebendieser Familie anpassen muss. Sobald es fähig ist zu erleben, spürt es, dass sein Wille mit dem Willen der anderen kollidiert, ebenso sein Liebeswunsch, den es lernt umzudeuten und, im Falle des Mädchens, den väterlichen Erwartungen unterzuordnen. Es gibt keine Antwort auf den Erlösungswunsch, auf die flehentliche Bitte, so sein zu dürfen, wie man fühlt, außer der Einsicht in die eigene Wehrlosigkeit, in die Einsamkeit. Und die schrankenlose Angst des Kindes vor dieser allumfassenden Einsamkeit beantwortet die klassische Familie, wie wir sie alle kennen, mit einer einfachen, klaren Forderung: Sei einsam, oder werde wie wir.«

Alle starrten betroffen zu Boden. Jeans Hand suchte nach Erich, während er den Arm um Iza legte. Gross erwiderte offen ihren kritischen Blick. Eine kleine Frau neben Erich schüttelte lachend ihre rubenshaften Rundungen. Alle fielen in ihr spitzes Lachen ein, kicherten, knabberten an sich herum, als die blasse Johanna, wie aus dem Nichts, hemmungslos zu schluchzen begann. Ihr Körper krampfte. Sie rang panisch nach Luft. Jean und Iza versuchten sie behutsam in die Arme zu nehmen, da schlug sie plötzlich wild schreiend um sich.

»Alles Schweine, unterdrückerische Schweine. Ihr Schweine. Ihr elenden Schweine.«

Gross sprang auf und stellte sich vor die am Boden liegende, zuckende Johanna. Seine Augen bohrten sich in ihr Gesicht. Das Zucken ließ langsam nach, ihr Atem beruhigte sich. Während Jean sie sanft streichelte, holte Gross ein weißes Pulver aus einer Medizintasche hervor, die immer in seiner Nähe lag. Er schüttete etwas davon in Johannas weit offenen Mund. Unter dem bitteren Geschmack verzog sie grimassierend das Gesicht.

»Erkenntnis ist bitter, Johanna, wenn wir begreifen, dass wir aus fremdem Willen bestehen, gefangen in fremdem Sein.«

Das Morphium lief durch ihre Blutbahn. Ihr Gesicht wurde weich, ihre Hände wanderten über ihren eigenen Körper und über die fremde Haut der anderen Leiber, die sich um sie drängten, auf sie legten, in sie drangen. Ihr Körper bäumte sich auf, ein dunkler Ton löste sich aus ihrer Brust, ein jubelnder Klang, in den die anderen ekstatisch einfielen.

»Eine ausgewachsene Hysterikerin«, flüsterte Gross Jean zu, »wir dürfen uns später bei der Traumanalyse nicht ablenken lassen, sie ist mit allen Wassern gewaschen … wie aus dem Schulbuch«, fügte er noch kichernd hinzu. Iza sprang wütend auf. Sie lief den Weg hinunter zum Wasserfall. Jean und Erich folgten ihr.

Schweigend stapften sie nebeneinanderher. Im Schutz der Bäume war es angenehm kühl, vereinzelte Sonnenstrahlen blitzten durch das Geäst. Aus der Ferne drang das Rauschen des Wasserfalls zu ihnen. Jean trabte los. Schneller. Immer schneller. Iza und Erich versuchten ihm zu folgen. Er preschte ins Unterholz, flog über Baumstämme, stürzte, sprang wieder auf, rannte dem Lauf des Baches entgegen, bis er atemlos an den Wasserfall gelangte. Dort sanken sie auf den bemoosten Boden, steckten die Köpfe in die Flut, tranken wie Verdurstende. Im Wasser sahen sie ihre Spiegelbilder. Jean warf sich auf den Rücken. Er schrie gegen das Wasser, gegen den Wald, gegen Otto Gross, gegen seinen unbarmherzigen Vater, gegen den Verlust seiner Mutter, gegen Zerstörung und Vergewaltigung. Sein Schrei wuchs zu einem langen, singenden Ton.

In weiter Ferne vom Wahrheitsberg, in der aufstrebenden Weberstadt Lodz, näherte sich Izas Mutter Alta zögerlich dem Arbeitszimmer ihres Mannes. Noch war die erste Kerze am Chanukkaleuchter nicht angezündet, noch durfte er arbeiten. Die Geschäfte liefen gut. Als Leijb aufsah, stand Alta in der Tür.

»Stell dir vor, die Tochter vom Zelig hat ’nen Goj geheiratet.«

»Und?«

»Nu, die Verzweiflung ist groß.«

»Aber er liebt des Estherle doch.«

»Schon.«

»Dann wird’s werden.«

»Meinst du?«

»Sie ist seine Tochter«, sagte Leijb.

»Dann kann ich’s dir ja sagen.«

»Was?« Leijb wandte sich wieder seiner Arbeit zu.

»Unsere Iza hat’s auch getan.«

»Was denn?«

»’nen Goj geheiratet«, sagte Alta.

»Wann?«

»Vor zwei Wochen.«

»Wo?«

»In der Schweiz, in Ascona.«

»Auf diesem Wahrheitsberg?«

»Ja.«

Leijb starrte vor sich hin. Ein kurzes Zischen. Alta zuckte zusammen. Die Kerze war gelöscht. Leijbs schwerer Schatten verschwand im Nebenzimmer. Ein klagender Ton verwandelte sich in ein Totenlied. Alta blieb im Türrahmen stehen. Sie sah Leijb vor einem kleinen Altar knien. Er zündete zwei Totenkerzen an.

»Was singst du das Teiten-Lid? Iza ist nicht tot. Sie trägt ein neues Leben in sich. Sie ist deine Tochter.«

Leijb schloss die Augen und verhüllte sein Gesicht mit einem weißen Tuch, wie man es nach jüdischem Brauch den Toten überwirft.

»Ich habe keine Tochter mehr.«