16
»Dabei hätte ich allen Grund gehabt zu heulen. Na ja. Tant pis. Fürs Gewesene gibt der Jude nichts.«
Die Sonne war kaum aufgegangen, als es bereits wieder dunkelte. Die Schneeflocken tanzten vor dem Fenster im Dezemberwind. Mit einem verstohlenen Seitenblick griff meine Mutter blitzschnell nach den Plätzchen, die sie gerade für mich auf einen Teller geschüttet hatte. Ein Zimtstern, ein Dominostein und ein Schokoladenherz verschwanden in ihrem Mund. Ein kurzes Auflachen, ein Schulterzucken – niemand lebte so überzeugend die lustvolle Seite der Unvernunft wie sie. Schnell noch eine Handvoll Studentenfutter hinterhergeworfen, dann konnte man sich endlich über den Käsekuchen hermachen, den man im hintersten Küchenregal vor dem Zugriff des Pflegedienstes versteckt hatte. Ihre letzte Insulinration hatte sie vor einer halben Stunde bekommen, um achtzehn Uhr würde Schwester Barbara noch mal nach dem Rechten sehen und ihr die dritte Spritze »verpassen«. »Lerne leiden, ohne zu klagen.« Aus dem Mund meiner Mutter klangen selbst Kalendersprüche wie eine Punchline gegen das Schicksal.
Bilder von meinem ersten Besuch in Madrid tauchten vor mir auf. Ich muss ungefähr vier Jahre alt gewesen sein. Eine große, leere Wohnung. Nackte Wände ohne Tapeten, an denen vereinzelt dunkle Ölbilder hingen: tote Tiere auf einem rustikalen Tisch, katholische Würdenträger, ein mittelalterliches Kirchenschiff, Jesus am Kreuz vom göttlichen Licht erfasst, Krieger in blitzenden Rüstungen, ein Reiter, der seinen Speer in den Nacken eines Stieres treibt, ein Selbstportrait von Velázquez, ein kleines Hündchen. Die meisten dieser Bilder haben mich nach dem Tod meiner Großmutter Izalie, wie ich sie nannte, durch meine Kindheit und Jugend begleitet. Nichts verwies auf eine jüdische Tradition, außer den zwei sehr einfachen Chanukkaleuchtern, die ich heute noch besitze. Von der Decke baumelten Glühbirnen. Über Parkett und Sofa waren alte Kunstteppiche oder Brücken geworfen. Heute würde man die Einrichtung als minimalistische Bohème oder einfach als cool beschreiben. Damals sagten meine Eltern etwas schmallippig »sehr spartanisch«.
Vor der Fensterfront des Esszimmers dehnte sich ein Tisch mit vielen Stühlen aus den unterschiedlichsten Epochen bis zu seinem im Halbdunkel liegenden Kopfende, dem Stammplatz meiner Großmutter. In meiner Erinnerung nahm sie dort jeden Tag pünktlich um vierzehn Uhr schweigend ihr Mittagessen ein, perfekt frisiert und im Morgenmantel.
»Jeden Bissen achtunddreißigmal kauen, bevor man ihn runterschluckt.« Die mahnende Stimme meiner Mutter holte mich aus meinen Gedanken zurück nach Berlin.
»So wird man hundert. Das war ihr Motto«, fügte sie hinzu. »Wie alt sie wirklich geworden ist, weiß niemand. Sie hat ja regelmäßig ihren Pass gefälscht. Als sie im Sterben lag, fragte der Chefarzt, wie alt sie denn nun wirklich sei. Sie sah ihn zuerst empört an und murmelte dann: ›Um die neunzig, aber wer will das schon wissen?‹«
»Warum hast du sie damals besucht?«
»Kooomisch, ja.« Meine Mutter machte eine Pause, in der sie den Kuchenteller von sich wegschob, als würden ihr die Erinnerungen den Appetit verderben. »Weiß ich eigentlich nicht, ja?« Sie nestelte abwesend an ihrer Bluse herum. »Ich weiß auch nicht, warum ich nach Madrid geflogen bin, als sie im Sterben lag. Hatte sie mich gerufen? Keinen Schimmer. Na ja. Jeeedenfalls habe ich mich dann die letzten vier Wochen bei ihr einquartiert und der Krankenschwester gesagt, sie könne ruhig spazieren gehen oder sich um andere Patienten kümmern. Ich war ja ausgebildet und wusste, was zu tun war.«
»Habt ihr über früher geredet?«
»Ich glaube, eigentlich nicht. Nein. So genau erinnere ich mich auch nicht, weißt du? Meiiin Gott.« Sie lachte kurz auf. »Nach ihrem Tod habe ich dann ihre Diamanten und Brillanten in alten, gebrauchten Penicillinfläschchen gefunden, so Glasdinger. Zum Piiiepen. Sie war ja so geizig. Ganz anders als mein Vater.« Wieder zupfte sie an ihrer Bluse herum. »Sie hat mich immer wie eine Fremde behandelt. Als ich sie damals in Madrid besucht habe, kurz bevor ich nach Frankreich ausgewandert bin, stellte sie mich ihren Freunden als ihre Nichte vor. Nichte! Ja, du hast richtig gehört. Ein starkes Stück. Nichte.« Sie stand unvermittelt auf. »Mein Morbus Crohn meldet sich, bin gleich wieder da.« Sie verschwand in die Toilette.
Mein Blick wanderte über die Bilder meiner Großmutter, die jetzt in der kleinen Wohnung dicht an dicht, übereinander und nebeneinander, im Stil der Petersburger Hängung, die Vergangenheit näher an mich heranrückten. Ich sah mich auf einem blauen Babyelefanten durch den Park des Königspalastes in Madrid reiten. Vor der Brust einen goldenen Panzer, in der Linken ein Plastikschwert, dazu einen Ritterhelm, der meinen Kopf stolz in die Höhe wachsen ließ. Meine Schwester behauptete später, es habe nie einen Babyelefanten gegeben, schon gar nicht einen blauen, vielmehr sei sie es damals gewesen, die im Zirkus und nicht in einem Park, einen riesigen Elefanten allein durch die Manege führen durfte, während ich zu Hause bleiben musste. Unsere Mutter lachte über unsere Geschichten: Es habe tatsächlich einen Elefanten gegeben, aber weder im Zirkus noch im Park der Casa Real, nein, sie sei mit unserem Vater und Iza auf dem Weg zu einer Corrida, einem Stierkampf, dem ersten, bei dem der junge El Cordobés als Matador auftreten und den Stier erlegen durfte, von einem einzelnen, durch die Straßen streunenden Elefanten überrascht worden, der ein Verkehrschaos verursacht habe, übrigens völlig unbemerkt von unserem Vater und unserer Großmutter, die über irgendeine Nichtigkeit in Streit geraten waren.
Meine Augen ruhten jetzt auf dem Selbstportrait von Velázquez. Merkwürdig hingequetscht hing es neben dem altdeutschen Bauernschrank meines Großvaters. Im unteren rechten Bildrand leuchtete hell auf braunem Grund die Zahl 23. Das vermeintliche Original im Museo de Bellas Artes in Valencia, in dem exakt gleichen Format gemalt, führt an der gleichen Stelle die Inventarnummer 28 und verweist damit auf die Sammlung der Casa Real, den spanischen Königspalast. Immer wieder hatte meine Mutter auf kleine unregelmäßige Stellen hingewiesen, möglicherweise wurde die Leinwand durch Hitze beschädigt. Dann fügte sie gerne mit leicht gedeckter Stimme hinzu, dass im 18. Jahrhundert ein Flügel des Palastes gebrannt habe und viele Bilder von dem Königlichen Hofmaler Velázquez damals unrettbar zerstört wurden, aber eben nicht alle. Und dieses magische nicht alle gehörte fortan zum Fundus unseres Familienromans. Egal was geschah, zur Not hatten wir immer noch den Velázquez. Im Alter sagte meine Mutter in regelmäßigen Abständen zu meinem Vater, schlimmstenfalls könnten sie immer noch das Haus aufessen – die Architektur erinnerte tatsächlich an ein altes Hexenhäuschen. »Und wenn das nicht reicht …« – »Jaja, der Velázquez«, brummte mein Vater dann genervt.
Meine Mutter war ihr ganzes Leben darauf gefasst, von einem Moment zum andern alles zu verlieren. Menschen, Heimat, Besitz, Identität. Auswege zu denken war zu ihrer zweiten Natur geworden. Sie fürchtete keine Krisen, nur im Alltäglichen wuchs ihre Angst, trieb sie bisweilen ohne erkennbaren Grund in die Erstarrung. Dann wurde ihre Haut fahl, der Blick leer, der Körper fremd, alles wartete auf die nächste Katastrophe, den nächsten Ausweg. So wie ihr Bewegungsapparat nur Stillstand, Angriff oder Flucht kannte, gab es für sie auch keine mittlere Stimmungslage.
»So.« Sie kam von der Toilette, ließ sich in ihren grün bezogenen Lieblingssessel fallen und winkte mich hinüber zum Sofa. Über mir Mariä Verkündigung auf zwei Teilen eines gewebten Triptychons, dessen dritter Teil verschwunden war. Eine konventionelle, in ausgeblichenen Farben gehaltene Darstellung, die einen unförmigen Engel in fortgeschrittenem Alter vor Maria zeigte, dahinter zwei Kühe, die ausdruckslos auf die etwas zu fette Taube starrten, die sich auf Marias Schulter niedergelassen hatte.
»Na ja. Madrid war ein Reinfall, ein Reinfall bei Schaffhausen. Als sie mich dann abends nach dem Stierkampf noch mal zur Rede stellte oder, besser gesagt, mir wilde Anschuldigungen um die Ohren schlug, sagte ich: ›Einbildung ist auch eine Bildung‹, drehte mich um und wollte sie einfach stehen lassen. Sie packte mich, riss mich herum und schlug mir mit ihrer beringten Hand ins Gesicht. Mit dem Handrücken. Jaaa … Wir standen voreinander wie zwei dampfende Schlachtrösser. Ich saaage dir, mein liiieber Freund und Kupferstecher. Ich bin dann in meine Kemenate gegangen und habe meinen Koffer gepackt. Ein kurzes Intermezzo. Mehr nicht. Eigentlich überflüssig. Na ja.« Sie machte eine Pause. »Zurück in Berlin war mir alles fremd. Als würde mir alles durch die Finger gleiten. Kein Halt. Nirgends. Auch dein Vater nicht. Er versuchte alles Mögliche, um mich aufzuheitern, besorgte Theaterkarten, lud mich ins Konzert ein, obwohl ihn Musik, zu der man nicht tanzen konnte, nicht sonderlich interessierte. Er war ein fabelhafter Tänzer. Fabelhaft, sage ich dir. Aber je mehr er sich um mich bemühte, desto fremder wurde er mir. Ich wusste selbst nicht, warum.«
Sie lehnte sich erschöpft zurück. Nicht einmal der Kuchen auf dem Tisch interessierte sie. Sie versank schweigend in eine andere Welt. Was sie sah, schien sie stark zu bewegen. Ihre Pupillen weiteten sich, sie zog Augenbrauen und Schultern in die Höhe. Atmete schneller, ließ alles wieder fallen, kniff die Augen zusammen, als könnte sie nicht recht erkennen, was sich vor ihrem Inneren abspielte, dann wich sie mit dem Kopf zurück, als würde etwas oder jemand unerwartet auf sie zustürzen.
»Ho, ho, ho.«
»Was ist?«, fragte ich.
Sie schien mich nicht zu hören. Ich stand auf und ging unruhig auf und ab. Es fiel mir schwer, über mein Gefühl nachzudenken. Ich wusste nicht einmal, ob ich in diesem Augenblick überhaupt etwas fühlte. Ich schaute auf den Velázquez. Draußen hatte es aufgehört zu schneien. In meinem Rücken hörte ich den Atem meiner Mutter. Es war ein rhythmisch erstickendes Röcheln, ein Kratzen und Scharren. Ich blieb wie angewurzelt stehen. Und wenn sie jetzt in meinem Rücken stirbt, dachte ich. Es durchzuckte mich wie ein Blitz. Das Röcheln wuchs an. Dann riss es plötzlich ab. Mir stockte der Atem. Langsam drehte ich mich um. Das Röcheln hob wieder an. Gleich würde ich sie sehen, sie atmete noch, sie war noch nicht tot, sie lebte noch, meine Mutter, die mich unter Schmerzen geboren hatte, die mich so oft verlassen hatte, wie ich es gar nicht denken konnte, verlassen, während sie kraftlos vor mir stand oder maskiert mit einer ihrer Perücken, verlassen in all den Momenten, in denen ihre Augen so leer, so still wurden wie der Tod, verlassen, wenn ich auf der Suche nach ihr so einsam wurde wie sie selbst. Jetzt endlich drehte ich mich vollends zu ihr um. Sie lächelte mich an. Hinter dem Fenster schob ein Mann mit seiner großen Schaufel den gefallenen Schnee zusammen. Sie holte tief Luft, während das rhythmische Kratzen der Schaufel hinter dem Fenster von Neuem anhob.
»Was guckst du denn schon wieder so? Da kann einem ja direkt unheimlich werden.« Sie lachte kurz auf. »Hast du noch Töööne.«
Sie hatte recht. Wir wurden einander unheimlich, je weiter wir uns in die Vergangenheit wagten. Was erwartete ich? Was störte mich an ihrem Vergessen, dass ich versuchte, ihm mit Reisen, Fragen und Bildern aus der Vergangenheit oder durch Deutungsversuche entgegenzutreten? Ich reagierte wie auf einen Widerstand, den ich nicht hinnehmen, nein, den ich in Wahrheit nicht ertragen konnte. Aber wir alle vergessen doch unaufhörlich, was ist so schlimm daran? Wir vergessen, was wir nicht wissen wollen oder können. Unser Vergessen ist unser Fensterkitt, der Mörtel zwischen den Steinen, die wir zu unseren tragenden Wänden türmen. Wir vergessen den Schmerz, weil die Erinnerung an unsere Verletzlichkeit zu bedrohlich ist.
»Möchtest du etwas Musik hören?«, fragte ich.
»Ach ja, das wäre schön.«
»Was denn?«
»Vielleicht die Kindertotenlieder von Mahler, die hörte mein Vater so gern.«
Ich fand in ihrem Musikschrank die Schallplatte. Es war eine alte Aufnahme von Fischer-Dieskau. Als Jugendlicher hasste ich seinen gepflegten Bariton. Die Nadel kratzte über die hundertfach durchlaufenen Rillen, sie mischte ein wenig Leben in die überkultivierte Stimme. Meine Mutter lauschte mit geschlossenen Augen.
Nach einer Weile sagte sie: »Schön.«
Zu Hause lief ich mit den Hunden hinunter zum See. Der frische Schnee knirschte unter meinen Füßen. Ich näherte mich dem Ufer. Seit einigen Tagen war die Eisschicht immer dicker geworden. Jetzt schneite es nicht mehr. Der Himmel war sternenklar. Ab und zu ein Knacken, als würden Drahtseile reißen. Die Hunde rannten auf das Eis, sie tobten im Schnee, vorsichtig folgte ich ihnen. Unter mir ächzte es wie ein müde kreisender Esel, der tagein, tagaus das Wasser aus dem Brunnen ziehen musste. Ich dachte an die Tiere, die, vom Frost überrascht, eingefangen in ihren letzten Bewegungen, unter dieser dicken Schicht erstarrt waren. Ich flüchtete mich in Gedanken zurück, in die kleine Zweizimmerwohnung meiner Mutter, als die Kindertotenlieder noch spielten und sie zu erzählen begann, wie sie ihr Bett im Sterbezimmer ihrer Mutter aufschlug, wie sie sie wusch, jeden Morgen und jeden Abend und auch zwischendurch, wenn sie sich verunreinigt hatte. Sie prüfte den Tropf, tauschte die Kanüle aus, wechselte die Behälter, schob ihr die Wanne ins Bett, schleppte sie zur Toilette, säuberte sie, wischte den Boden, versuchte, sie zu füttern, strich ihr über den Kopf, wenn sie wütend ausspuckte, was ihr nicht schmeckte. Sie gewöhnte sich das Rauchen an, um ihre Müdigkeit zu bekämpfen, kümmerte sich nicht um ihre Hustenanfälle, ignorierte ihre Unterleibskrämpfe, schluckte allerlei Medikamente, um die tagelange, immer schmerzhafter werdende Verstopfung zu beheben. Sie ertrug den Gestank schwindenden Lebens, die Sprachlosigkeit, die Kälte, den Hass. Wollte sie Iza mit ihrer Zuwendung strafen? Den Abgrund einer jahrzehntelangen mütterlichen Schuld vor ihren sterbenden Augen aufreißen, damit sie, im Angesicht des Todes, schaudernd hinabblicke, bevor die Dunkelheit sie auf ewig verschlingen sollte? Wie fein verläuft die Linie zwischen Liebe und Hass?
Es war, erzählte meine Mutter, ein ungewöhnlich heißer und stickiger Tag in Madrid. Das Licht überstrahlte den winzigen Raum, Izas Haar fiel mit dem Weiß der Bettdecke, des Kopfkissens, des Bodens, der Wände zusammen, allein ihre großen Augen belebten ihr fliehendes Antlitz, als sie sich zu ihrer Tochter wandte. Dabei fasste sie mit erstaunlicher Kraft nach ihrer Hand, bohrte die Fingernägel in ihren Unterarm, ihr Zwerchfell federte den Atem hoch zu den kaum noch schließenden Stimmbändern.
»Ich weiß nicht, wie lange das hier noch dauern soll, aber irgendwie scheine ich nicht zu sterben.«
Sala sah sie ruhig an.
»Du lässt ja auch nicht los.«
»Meinst du?«
Iza streifte ihre Tochter mit einem prüfenden Blick. Zärtlicher Spott huschte über ihr Gesicht. Dann drehte sie sich zur Wand und starb.
Ich stand wie angefroren mitten auf dem See. Die Dunkelheit fiel über mich her, als ich mich aus meiner Erstarrung löste. Unter dem Mond stürzten die Schatten der Bäume auf mich zu. Ich lief, so rasch ich konnte, zurück.
17
Zuerst war da der Geruch. Sie stand auf dem Bahnsteig des Gare de Lyon. Paris duftete nicht so elegant, wie Sala es sich vorgestellt hatte, es roch nach Arbeit und Asphalt. Sie dachte an Otto. Er hatte sich um sie bemüht, aber es wollte alles nicht helfen. Berlin war kein Ort mehr für sie. Und er war kurz davor, sein Medizinstudium zu beenden. Er konnte sie nicht begleiten. Konnte er wirklich nicht? Oder wollte er nicht? Sie spürte ein spitzes Tippen auf ihrer linken Schulter.
»Hallo, Kleines, wie war die Reise?«
»Lola?«
La Prusac, wie ihre Tante in Paris genannt wurde, trug ein elegantes blassgelbes Kostüm aus fein gewebtem Stoff, durchzogen von filigranen Goldfäden. Die durchgehenden Bundfalten des knielangen Rocks, die nach oben breiter werdenden Revers, die Taillierung eines Zweireihers, eine leicht ironische Interpretation des männlichen Businessanzugs, zeigten eine selbstbewusste Frau, die auch im Spiel ihren Ernst nie verlor. Am oberen linken Revers steckte eine smaragdgrüne Brosche, unter dem Jackett stach ein blau in blau changierender Pullover aus feinstem Cashmere hervor. Auf dem Kopf trug sie ein Bonnet, eine Art Pudelmütze, unter der ihr kinnlanges schwarzes Haar hervorschaute. Sie war vor etwas mehr als zehn Jahren von Émile-Maurice Hermès persönlich eingestellt worden, zunächst in der damals ungewöhnlichen Rolle einer »Anwältin der Farbe«. In ihrer späteren Funktion als »modéliste«, entwarf sie 1929 die erste Damenkollektion für das Modehaus, kurz darauf die ersten Seidenschals für Frauen und in den frühen Dreißigern Handtaschen mit geometrischen Intarsien, inspiriert von dem niederländischen Maler Piet Mondrian. Zwei Jahre zuvor, 1936, dem Geburtsjahr von Yves Saint-Laurent, dem späteren Schöpfer der Mondriankleider, hatte sie ihre eigene Modeboutique in der rue Faubourg St. Honoré eröffnet.
»Hast du Hunger? Komm, wir gehen erst mal ins Deux Magots, um uns zu stärken. Bist du nicht … épuisée? Wie sagt man, mein Gott, mein Deutsch ist katastrophal geworden, je cherche mes mots, ich suche meine Worte, c’est pas possible. Wie ist dein Französisch? T’en fais pas, du wirst es lernen.«
Sala wäre am liebsten in die Luft gesprungen. Diese Frau gefiel ihr. Wie wenig glich sie ihrer Mutter! Alles perlte aus ihr heraus wie frischer Champagner.
»Na, lachen kannst du also, dann wird’s mit dem Reden auch bald klappen. Du kannst doch inzwischen sprechen, oder? Mon Dieu, wie war deine Mutter schockiert, weil du als kleines Mädchen kein Wort hervorgebracht hast. Pas un mot, nicht einmal Mama, telegrafierte sie mir entsetzt aus der Schweiz. Wie geht es ihr? Ich habe ewig nichts von ihr gehört.«
»Ganz gut, glaube ich«, sagte Sala. Sie wollte nicht gleich von ihrem Zerwürfnis in Madrid erzählen, sie war froh, dass sie diese Etappe hinter sich hatte. Jetzt war sie hier. Paris.
»Du klangst gerade so wie sie. Zum Piepen. So sagt man doch in Berlin, n’est-ce pas? Zum Piiiepen.«
Sala zuckte innerlich bei dem Vergleich, beinahe hätte sie dem livrierten Herren auf die Finger gehauen, der ihr jetzt vor dem Gare de Lyon behutsam den Koffer aus der Hand nahm, um ihn im Gepäckraum eines pompösen Fahrzeugs verschwinden zu lassen.
»Merci, Charles«, sagte Lola, als sie durch die geöffnete Tür in das mit bordeauxfarbenem Leder ausgeschlagene Wageninnere schlüpfte. In Berlin kannte Sala niemanden, der einen eigenen Wagen fuhr, noch weniger einen mit Chauffeur.
»Gehört der dir?«
»Ja«, sagte Lola.
»Ich habe noch nie in so einem Wagen gesessen. Furchtbar schön«, sagte sie und juchzte vor Freude bei dem Gedanken, wie dekadent ihre Mutter diesen Auftritt wohl finden würde.
»Du wirst noch viel furchtbarere Dinge in Paris erleben, mein Kind, das verspreche ich dir. Wir werden eine waschechte Französin aus dir machen, tu verras.«
Allein die Autofahrt zum Deux Magots wurde zum Erlebnis. Salas Gesicht klebte an der Fensterscheibe, sie saugte im Vorbeifahren die kreuz und quer über die Straßen laufenden Menschen auf, die Häuser mit ihren unterschiedlichen Baustilen vom Mittelalter über die Renaissance bis zu den weiten Haussmannschen Boulevards des 19. Jahrhunderts. Das war keine Stadt, es war eine Welt. Alle bewegten sich anders, als sie es aus Deutschland kannte, Menschen küssten sich auf der Straße, lachten, sie wirkten auf natürliche Weise elegant, weniger theatralisch als die Spanier, spielerischer, aber zugleich ernst, nicht seriös, nein, sie waren sérieux. Selbst in diesem Wort lag noch ein Lächeln. Sala versuchte still »seriös« zu sagen und dabei zu lächeln, nein, es war unmöglich. Das ö zog die Lippen zu weit nach vorne, während ihr der accent aigu über dem französischen e bereits ein Lächeln ins Gesicht zauberte.
»Arrète ton cinéma, mon p’tit.« Lola schoss in das Café an der Place Saint-Germain, vorbei an dem pikierten Garçon, der ihr die Garderobe abnehmen wollte und verstohlen »Sie wünschen, Madame?« murmelte, während sie auf der Suche nach einem freien Tisch ein paar Gästen zuzwinkerte, die sie respektvoll grüßten. Sie nahmen am Fenster Platz. Gegenüber thronten zwei nahezu lebensgroße, aufwendig geschnitzte Holzfiguren über Eck unter der Decke. Lola folgte dem überraschten Blick ihrer Nichte.
»Les patrons«, sagte sie trocken.
Sala sah sie fragend an.
»Das sind die Chefs? Wirklich?«
Lola lachte leise.
»Merk dir eins, ma chère, Naivität wird hier nur goutiert, wenn sie echt ist, nein, das sind die Namensgeber, zwei chinesische Händler, früher war das hier eine Handelsniederlassung für fernöstliches, meist chinesisches Kunstgewerbe, auch die beiden Sitzfiguren stammen aus dieser Zeit.«
»Wieso heißt es auf Französisch ›arrète ton cinéma‹, das heißt doch so viel wie ›Mach kein Kino‹?«
»Wieso nicht?«
»Auf Deutsch sagt man: Hör auf mit dem Theater.«
»Hier war man schon immer etwas weiter.« Lola lachte. »Und seit die Juden das Land verlassen, dümpelt der deutsche Film kläglich vor sich hin«, fügte sie hinzu.
Der Kellner, den Lola beim Hereinkommen hatte abblitzen lassen, servierte den beiden Damen ein paar Austern. Sala gluckste begeistert.
»Wir haben doch gar nichts bestellt.«
Der Kellner schien ihre Verwunderung verstanden zu haben.
»Madame beginnt immer mit Austern«, sagte er, während er eine halbe Flasche Sancerre entkorkte.
»Der Mensch ist ein Gewohnheitstier, und ein Glas Sancerre belebt den Geist. Der Rest ist eine Mischung aus Sünde und Alibi.«
Sie prostete Sala zu, nahm einen kräftigen Schluck und schlürfte mit eleganter Gier eine Auster nach der anderen.
»Das reinste Aphrodisiakum, ma p’tite, und Robert schwelgt bei jedem Bissen in unanständigen Analogien.«
Sala sah sie fragend an.
»Muss ich deutlicher werden, oder brauchst du Nachhilfe in weiblicher Anatomie?«
Sala stürzte errötend ihr Glas Sancerre herunter und machte sich wortlos über die Austern her.
Nach dem casse croute, wie Lola das üppige Mittagessen nannte – sie hatten zu der auf einem Gemüsebett gedämpften Dorade eine weitere halbe Flasche Sancerre getrunken –, ließ Lola sich in der rue Faubourg St. Honoré, Hausnummer 93, direkt vor ihrem Modegeschäft absetzen.
»Allez, viens, komm auf einen Sprung mit rein, ich zeige dir meine neue Kollektion. In einer halben Stunde kommt Wallis, dann fährt dich Charles nach Hause, und Célestine zeigt dir dein Zimmer.«
»Wer ist Wallis?«, fragte Sala. Hatte die Türglocke ihre Frage übertönt, oder ignorierte ihre Tante indiskrete Fragen?
Beim Eintreten konnte Sala zunächst ihre Enttäuschung nicht verbergen. Was immer sie erwartet hatte, dieser kleine Raum in gebrochenem Weiß war es sicherlich nicht gewesen. Die karge Sachlichkeit schien in der Familie zu liegen, auch hier baumelte eine nackte Glühbirne von der Decke. Lola blitzte sie herausfordernd an.
»Wer was im Laden hat, kann es sich leisten, nicht alles im Schaufenster zu zeigen, ma p’tite.«
Aus dem hinteren Teil der Boutique, wo sich vielleicht die Umkleidekabinen befanden, wie Sala mutmaßte, waren zwei zurückhaltend gekleidete Assistentinnen herbeigeeilt, um die Chefin und ihren Gast zu empfangen.
Auf einen Wink folgte Sala ihrer Tante in einen schmalen Gang, der in ein nur wenig größeres Hinterzimmer führte. Vor der Wand stand ein einfacher Spiegel auf einem rollbaren Metallgerüst, die anderen Wände waren durch Schranktüren unterteilt, in der Ecke stand eine mit flaschengrünem Samt bespannte Recamière, daneben ein feiner runder Tisch aus hellbraunem Holz. Sala bemerkte, wie sich ihre Silhouette sanft von der Umgebung abhob. Gerade wollte sie etwas sagen, da öffneten sich wie von unsichtbarer Hand die Türen, und was sie preisgaben, verschlug Sala den Atem. Vor ihren ungläubigen Augen tat sich eine fremde Welt auf, Farben, wie sie sie noch nie gesehen hatte. Gelb, Grün, Rot, Blau, aber nicht Gelb, Blau, Grün oder Rot, wie man es allerorten sah und kannte, jeder Ton lebte auf seine Weise, als wäre er durch Lolas Hand zu neuer oder zu seiner eigentlichen Bestimmung erweckt worden. Die Frische lud zum Herantreten ein, näherte man sich jedoch, stellte sich einem der Stoff entgegen, als wollte er rufen: Schau mich an, bevor du mich berührst! Sala fühlte, wie ihr ein leiser Schauer über den Rücken jagte.
»Wallis.«
»Hello, dear.«
Die Stimmen rissen sie aus ihrer kontemplativen Ruhe Sie sah sich um. Sie stand allein in dem kleinen Raum. Die Schränke waren wieder verschlossen. Durch die halb offene Tür entdeckte sie im Flur Lola mit einer aufrechten, energischen Frau, deren Schönheit Sala erschrocken zurückweichen ließ. Die Tür flog auf, die schlanke Dunkelhaarige streckte ihr burschikos die Hand entgegen.
»Bonjour, mon petit.« Die amerikanische Färbung war unverkennbar. Ma petite, dachte Sala, stammelte ihren Namen und machte zum ersten Mal in ihrem Leben einen Knicks. Der Ton ihrer Tante klang kühl in ihren Ohren nach.
»La duchesse de Windsor.«
18
Robert war charmant. Einen Professor für Biologie hatte Sala sich ganz anders vorgestellt. Célestine führte Sala vorbei am beeindruckend großen Entree, vorbei an der salle à manger, dem salon und der bibliothèque, durch einen schier endlosen Korridor, von dem verschiedene Schlafgemächer mit ihren eigenen Bädern abgingen, bis zu dem großzügigen Gästezimmer, ihrem neuen zu Hause. Sala freute sich auf das erste gemeinsame Abendessen, als ihr Blick verzückt an einem viereckigen Tuch hängen blieb, das Lola, wie Célestine in höflicher Zurückhaltung anmerkte, extra für ihre Nichte bereitgelegt hatte. Als Sala es abwechselnd um Hals und Schultern legte, um damit vor dem Spiegel zu paradieren, vernahm sie ein diskretes Klopfen an ihrer Tür.
»Sala?« Die weiche, dunkle Stimme sprach ihren Namen mit dem scharfen französischen S, Sala, genau wie le sang, das Blut, dachte sie. Das klang zupackender als im Deutschen. Und während sie beim Öffnen der Tür noch sinnierte, warum man der deutschen Sprache jeden Wohllaut absprach und ob ihr Name im Französischen nicht härter klang, schaute sie überrascht in das schmale Gesicht eines kleinen, fast grazilen Mannes, der fünfzig Jahre alt sein mochte, vielleicht auch jünger. Er trug eine graue Flanellhose, dazu ein mauvefarbenes Hemd unter einer dunkelblauen Weste, beides aus doppelt gewebter Cashmerewolle, an den Füßen Hausschuhe aus rotem Samt und auf der Nase eine runde Hornbrille, hinter deren vom fortwährenden Putzen abgestumpften Gläsern seine Augen wissbegierig funkelten.
»Robert.« Er streckte ihr seine große Hand entgegen, die so kräftig wirkte, als würde er damit eher Bäume fällen, als dünne Glasplättchen unter ein Mikroskop zu schieben. »Wie war die Reise?«
Sala fiel ihm um den Hals. Alles, was sie seit ihrer Ankunft gesehen hatte, schien ihr so vertraut, wie die Landschaften aus früher Kindheit, die man nach langer Abwesenheit wieder aufsucht. War sie wirklich zum ersten Mal in dieser wundervollen Stadt? Sie konnte es nicht glauben.
»Beeindruckend.«
»Ihr Französisch klingt fast perfekt, ma chère, die Sprachbegabung muss von den Prusacs kommen, wir Franzosen, sind ja immer noch überrascht, dass nicht die ganze Welt so spricht wie wir. Selbst die Juden, die allerorten multilingual sind, sprechen hier bestenfalls ein recht mediokres Englisch. Grauenhaft.« Er lachte schallend. Auch seine Stimme war sehr viel tiefer, als Sala es seinem schlanken Körper zugetraut hätte.
»Mein Deutsch ist miserabel, si vous avez besoin de quoique ce soit, wenn Sie irgendetwas brauchen, ich bin in der bibliothèque.« Er legte ihr sanft die große Hand auf die Schulter und küsste sie links und rechts auf die Wange. Noch nie war ihr jemand in so respektvoller Distanz nahegekommen, und diese Mischung aus Deutsch und Französisch klang wirklich charmant, als würde sich das Beste aus beiden Welten zu einem neuen Klang vermählen.
»Robert, würden Sie mir bitte die Butter reichen?«
Sala versuchte sich ihre Überraschung nicht anmerken zu lassen. Hatte sie sich verhört, oder hatte ihre Tante ihren Mann gerade gesiezt?
»Voilà, ma chère. Haben Ihre Kundinnen Ihnen heute etwas Luft zum Atmen gelassen?«
Tatsächlich. Blieb das vertrauliche Du nur ihr oder ganz allgemein der Herkunftsfamilie vorbehalten?
»Ich habe den ganzen Nachmittag mit Wallis verbracht. Sie wird immer anspruchsvoller und fordernder. Andererseits, zwei Tage im Monat mit ihr, und ich könnte auf alle anderen Kundinnen verzichten.«
»Ihr Freund Charlus hat eine Nachricht hinterlassen …«
»Lieber Freund, bitte nennen Sie ihn nicht so.«
»Immer auf der Suche, der Baron.«
»Robert, Eifersucht steht Ihnen nicht.«
Sie lächelten einander flüchtig zu. Was für eine Vertrautheit, dachte Sala. Noch in der Eifersucht gewährte Robert seiner Frau so viel Raum, dass dieses beschämende Gefühl eher ironisches Zitat als besitzergreifende Geste zu sein schien. Aber wer war Charlus? Und warum sollte Robert ihn nicht bei diesem Namen nennen?
Nach dem frugalen Mahl wurde von Célestine ein prächtiger Obstteller serviert.
Sala war noch hungrig, das bisschen foie gras und die wenigen Scheiben geräucherten Fischs waren ihr wie ein vorzügliches Nichts erschienen, ein amuse-gueule vielleicht, oder eine Vorspeise. Die französische Prusac war wohl ebenso spartanisch wie die mütterliche Prussak in Madrid, eleganter, gewiss, aber satt wurde man davon auch nicht. Sala griff nach dem zweiten Apfel, als Lola sie sanft bremste.
»Non, non, du kannst so viel Obst nehmen, wie du magst, aber nie zweimal von dergleichen Frucht, ma p’tite, man könnte sonst annehmen, du seist gierig.«
Erschrocken legte Sala den verbotenen Apfel zurück auf den Teller.
An den nächsten Tagen erlief sie sich ohne rechtes Ziel ihre neue Heimat. Pflichtbewusst und in Gedanken an ihren Vater verbrachte sie jeden Vormittag zwei Stunden im Musée du Louvre, schlenderte am Seineufer vorbei an den Bouquinisten, durchstöberte den Marché aux Puces, schrieb sich voller Ehrfurcht als Gasthörerin in Lettres und Histoire de l’Art an der Université Paris Sorbonne ein.
»Warum siezt du dich mit Robert?«
Sala und Lola saßen in der Mittagssonne auf der Terrasse des Bistro Chez Laurent. Das erste Glas Sancerre versetzte sie in prächtige Laune. Salas Augen flogen hungrig über die Speisekarte. Die Lebensmittelrationierung schien hier nicht zu gelten. Sala entschied sich für Jakobsmuscheln in Anissoße, Lola nahm einen plat de crudités.
»Seine Eltern würden es nicht verstehen, wenn wir uns duzten, Robert kommt aus einer sehr alten französischen Familie. Am Anfang habe ich mich ein wenig schwer damit getan, mais on s’y fait très vite, man gewöhnt sich dran. Es ist ein Schutz vor der Vulgarität, in der die meisten Ehen enden. En plus, man hat immer das Gefühl, den anderen gerade erst kennenzulernen. Ein nicht zu unterschätzender Vorteil, das wirst du noch sehen. Heute trennen sich die Leute doch, weil sie glauben, einander zu gut zu kennen. Et bien, im Gegenteil. Eines Tages wirst du es verstehen und an mich denken.«
Während des Essens fasste sich Sala ein Herz und fragte nach Charlus, dem Mann, nach dessen Befinden sich Robert beim ersten Abendessen etwas spitz erkundigt hatte.
»Iza war auch immer so neugierig.« Lola lachte mit erhobenem Zeigefinger.
»Ist er wirklich ein Baron?«
Lola winkte ab.
»Nein, Robert will mich damit necken. Der Baron de Charlus ist eine Figur von Marcel Proust, in der er seine eigenen perversen oder auch lustvollen Anteile nachgezeichnet hat. Das ist ihm so gut gelungen, dass man seither in Frankreich von einem Charlus spricht, wenn es jemand mit Männern auf besonders bunte Art treibt. Ist dein Vater nicht auch ein Charlus?«
Sala errötete.
»Lies Proust, ma p’tite, dann verstehst du vieles besser. Alain ist Bildhauer, er arbeitet auch für die Maison de la Monnaie. Ich habe ihn vor ein paar Jahren bei Hermès untergebracht, damit ich ihn regelmäßig sehen konnte. Und ich sehe ihn immer noch. Zwei Männer so verschieden wie Feuer und Wasser.«
»Und was ist Robert?«
»Wasser.«
Beide schütteten sich aus vor Lachen.
»Ist Robert nicht eifersüchtig?«
»Er ist vor allem großzügig und wahrscheinlich auch ein kleines bisschen eifersüchtig.« Sie lachte wieder. »Was wäre das Leben ohne ein Fünkchen Eifersucht? Liebe braucht auch immer wieder einen kleinen stechenden Schmerz, sonst schmeckt sie zu sehr nach Bratkartoffeln.«
Was Otto jetzt wohl machte? Warum hatte sie sich das bisher nicht gefragt? Er sah gut aus, wenn auch etwas klein geraten. Dafür konnte er jede Frau zum Lachen bringen. In seinen Armen flog man zu jeder Musik über jedes Parkett, und im Bett war es auch nicht anders. Frauen erkannten so etwas schnell.
»Das würde ich auf Dauer nicht aushalten.«
Lola musterte sie spöttisch.
»Ich doch auch nicht.«