10

Es klingelte. Sala lief zur Tür. Dem Klingeln folgte ein energisches Klopfen. Warum konnte der Besuch sich nicht gedulden, sie rannte doch schon? Atemlos riss sie die Tür auf. Sie erschrak. Vor ihr stand der junge Mann, dem sie gestern geholfen hatte. Er trug einen Anzug. Ihre Augen trafen sich. Salas Hände tasteten nach einem Halt ins Leere. Er stand vor ihr, wie gestern auf der Leiter in der Bibliothek.

Otto hatte die Mittagssonne im Rücken. Seine Silhouette zeichnete sich scharf vor der Straße ab. Ihr Körper spannte sich. Augen wanderten über ihr Gesicht, den Hals hinunter über die Brust, den Bauch, ihre Hüften, die Beine, bis in die Zehenspitzen fühlte sie ihn, und sie schämte sich nicht. Dieser Blick war weder abschätzend noch forschend, er stand vor ihr und sah sie einfach nur an. Noch nie hatte sie darüber nachgedacht, ob sie schön genug sei, um die Aufmerksamkeit eines Mannes zu erregen. Ihr Körper öffnete sich, ein Wiegen in den Hüften, Schwindel erfasste sie. Wie aus dem Nichts tauchte Jean auf. Er führte den jungen Mann, dessen Namen sie immer noch nicht kannte, in die Bibliothek. Bevor Otto die Tür hinter sich schloss, trafen sich ihre Blicke zum dritten Mal.

Während er verwundert registrierte, dass die Tür bereits repariert war, blieb Otto stehen. Warum war er nicht weggelaufen, als er den Ort seines Verbrechens erkannt hatte? Jean, der ebenfalls stehen geblieben war, überlegte, ob er Otto jetzt an sich ziehen sollte, wie er es mit so vielen Jungen zuvor getan hatte. Seine Augen gruben sich in Ottos Lippen. Erregung pochte durch seinen Körper. Von einer unbekannten Verlegenheit überrascht, hielt er den Atem an. Schweigend standen sie voreinander. Otto sah ihm gerade ins Gesicht.

»Ich werde Ihre Tochter heiraten.«

Mit dem Ellenbogen drückte Sala die Türklinke zur Bibliothek ihres Vaters herunter. Bedacht die Teetassen jonglierend betrat sie das Innerste ihres zu Hauses.

Ihr Vater saß entspannt zurückgelehnt in einem dunkelgrünen englischen Lederfauteuil, rechts davon der junge Mann, der bei ihrem Hereintreten sofort aufgestanden war. Zwischen den beiden stand ein runder, dreibeiniger Tisch, darauf eine Auswahl von Büchern. Dachte er jetzt an den Einbruch? Und vorhin, an der Tür? War sie ihm fremd oder vertraut erschienen?

»Otto«, sagte er.

Sie schob die Bücher beiseite, stellte die Tassen auf den Tisch, ohne ihn anzusehen. Waren es seine tastenden Blicke, die sie jetzt spürte, oder die ihres Vaters? Sie richtete sich auf.

»Sala.«

Ohne sich umzudrehen, verließ sie schweigend den Raum, wie sie ihn betreten hatte. Sie schloss die Tür hinter sich und setzte sich zitternd auf einen Stuhl in der Diele. Sie beschloss zu warten. Und wenn es eine Ewigkeit dauern würde. Sie lauschte den Stimmen. Bei ihrer ersten Begegnung hatten sie kein Wort gesprochen. Sie neigte sich leicht vor, senkte den Kopf mit geschlossenen Augen nach dem Klang seiner Stimme. Ihr Herz schlug von weit her, von den Kindertagen bis zu diesem Moment.

Sie schreckte auf. Otto trat, von ihrem Vater gefolgt, aus der Bibliothek. Keiner bemerkte sie auf ihrem Stuhl in der Ecke. Ihr Vater lachte jungenhaft auf. Nein, es sei nichts weiter passiert, die Eingangstür schon wieder in Ordnung, und die paar zerbrochenen Glasscheiben würden frischen Wind durch die Wohnung treiben. Im Hausflur drehte sich Otto zu Jean um.

»Bitte grüßen Sie Ihre Tochter.«

Jean lachte verlegen.

Es dunkelte bereits. Otto fiel in einen leichten Trab, während er den Namen zwischen seinen Ohren hin und her balancierte. Sala … Sala … Sala. Er hatte sie sofort erkannt, als ihr feines Gesicht hinter der Tür aufgetaucht war. Ein jäher Schreck. Zum zweiten Mal hatte sie ihn nicht verraten. Vielleicht tat sie es jetzt? Er schüttelte den Gedanken ab, so wie Pferde mit einem Muskelzucken lästige Fliegen verscheuchen. Wieder sah er ihr Gesicht vor sich. Otto interessierte sich nicht für die Liebe. Sicher hatte er schon das eine oder andere Mädchen gehabt, aber Liebe, etwas Festes, solche Dummheiten hatte er sich bisher verkniffen. Einen großen Busen und einen schönen Arsch sollten sie haben, bloß nicht so dürr wie seine Schwester Erna. Aber sonst? Er konnte sich nur an Salas Augen erinnern. Ihre Augen und ihr dunkles Haar. Kräftiges Haar, zu einem dicken Zopf geflochten. Sein Puls beschleunigte sich, obwohl er jetzt langsamer ging. Aus diesen Augen hatte sie ihn so eigentümlich angesehen. Waren sie blau oder braun? Blau. Ihr Gesicht hatte die Form einer Mandel. Die Haut leuchtete weiß. Eine kräftige, leicht nach unten schwingende Nase. Als sie bei der Verabschiedung kurz sein Lächeln erwiderte, war ihm die Lücke zwischen den oberen Schneidezähnen aufgefallen. Menschen mit einer großen Zahnlücke reisen viel, sagte seine Mutter. Mitten in der Nacht lag er mit weit aufgerissenen Augen in seinem Bett. Er sah Salas langen weißen Nacken. Kurz darauf schlief er ein.

Sala sprach kein Wort über Otto. Sie fragte ihren Vater nicht nach dem Besuch, sie schwieg auch von ihrer ersten Begegnung. Nach der Schule zog sie sich in ihr Zimmer zurück, bis sie um sechs Uhr, wie jeden Tag, das Abendessen zubereitete. Jean bemerkte, dass sie kaum etwas aß. Auf seine Versuche, sie aufzuheitern, reagierte sie mit vornehmer Zurückhaltung, als sei er ein etwas aufdringlicher Fremder. Dann wurde sie krank, ein Fieber gebot Bettruhe. Nie war ihr Krankheit willkommener gewesen. Allein in ihrem Zimmer, fühlte sie sich unbeobachtet und frei, alle Momente ihrer Begegnungen zu wiederholen.

Otto genoss bald jeden Sonntag die offene Gesellschaft im Hause Nohl. Während die letzten Gäste verschwanden, saß er noch mit Jean ins Gespräch vertieft da. Sala schien er auszuweichen. Er spürte eine Veränderung in sich wachsen, die ihm nicht geheuer war. In den Stunden vor seinem Besuch dachte er nur an sie, aber wenn sie dann endlich vor ihm stand, fühlte er sich beklommen. Er ging jetzt häufig an der Teppichstange im Hof vorbei, ohne das Bedürfnis, einen neuen Klimmzugrekord aufzustellen. Er dachte an die vielen Bücher, die er bei Sala zum ersten Mal in seinem Leben gesehen hatte, an ihren Vater. Er sah seine feingliedrigen Hände, die beim Reden beiläufig seine Gedanken rhythmisierten. Wie ein Dirigent, dachte er, obwohl er noch nie in einem Konzert gewesen war. Die kostbaren Ledereinbände in den Regalen tauchten vor seinem inneren Auge auf. Die Flut von Gedanken, von Lebensentwürfen, von Geschichten, die sie in sich bargen. Auf dem Schreibtisch stand das Bild einer Frau. Sie sah schön und unnahbar aus. War das Salas Mutter?

Als Sala ihn das erste Mal in ihr Zimmer bat, blieb er ehrfürchtig auf der Schwelle stehen. Alles in diesem Raum atmete die Selbstverständlichkeit eines umsorgten Lebens, aber zugleich etwas Dunkles, für das er keinen Namen fand. Sala nahm ihn lachend bei der Hand. Es war das erste Mal, dass sie einander berührten. Beide erschraken. Der Schnee auf dem Fensterbrett war geschmolzen. Die Nachmittagssonne wärmte noch nicht. Es war noch kein Frühling, aber das Ende eines langen Winters.

Am Wochenende besuchten sie gemeinsam das Volksbad in der Gartenstraße.

»Hier gehen wir regelmäßig duschen«, sagte Otto, »na ja, manche eher mäßig, als regelmäßig«. Sie lachten. Sala war noch nie in einem öffentlichen Bad gewesen. Mit ihrem Vater schwamm sie im Sommer im Schlachtensee oder ein paar Hundert Meter weiter in der Krummen Lanke. Jean sprang immer unbekleidet ins Wasser, deswegen begleitete ihn Sala seit zwei Jahren nicht mehr auf seinen Ausflügen. Sie war nicht prüde, aber als sich die allzu große Offenherzigkeit ihres Vaters in geschlechtlichen Dingen zwischen sie zu stellen drohte, wich sie ganz selbstverständlich aus. Die Freiheit des einen durfte die des anderen nie begrenzen, das hatte sie von ihm gelernt. Beeindruckt blieb sie vor der mit Klinkern verblendeten Fassade des großen Gebäudes stehen.

»Das ist es?«

Otto nickte stolz. Als sei er der Bauherr dieser Pracht, führte er sie sicheren Schrittes durch die Eingangshalle, vorbei an den gefliesten Wänden, die Stufen hoch zum Kassenbereich. Dort löste er für beide die Eintrittskarten und überließ die etwas unsicher lächelnde Sala ihrem Schicksal.

»Bis gleich.«

Ein bisschen ärgerte sie sich über sein Grinsen, aber vielleicht irrte sie sich auch, vielleicht war er ebenso aufgeregt wie sie. Natürlich hatte sie ihm verschwiegen, dass es ihr erster Besuch in einer derartigen Einrichtung war. Er sollte sie ja nicht für eine dieser verzogenen Bürgerstöchter halten. Lächerlich, dachte sie, während sie in einer Kabine in ihren Badeanzug schlüpfte, diese Dinger waren wirklich nur unbequem. Da war es bedeutend angenehmer, nackt zu baden, das musste sie ihrem Vater lassen. Und wie die Frauen einander musterten. Grauenvoll. Die Augen starr auf die Konkurrenz gerichtet, suchten sie, wie in einem Spiegel, nach Fehlern, die sie mit gnadenlosem Blick herausarbeiteten, um sich dann mit einem Lächeln abzuwenden, das Handtuch um die angedickten Hüften gewickelt, die gepolsterten Schultern hochgezogen. Nur nicht ausrutschen, dachte Sala. Eigentlich hatte sie genug gesehen. Am liebsten wäre sie jetzt nach Hause gegangen. Aber dort drinnen wartete Otto.

Als sie die Schwimmhalle betrat, fühlte sie sich von dem fünfzig Meter langen Becken, dem Licht, das durch die hochschießenden Fensterfronten flutete, vor allem aber von der chlorgeschwängerten Luft erschlagen. Sie stand dicht neben der Tür. Auf der gegenüberliegenden Seite entdeckte sie Otto. Er kam auf sie zu. Nackt, nur mit einer Badehose bedeckt. Selbstgewisser Gang, kräftiger Körper. Im Augenwinkel sah sie, wie ein grober Kerl unter dem lauten Gejohle seiner Kumpane ein Mädchen in hohem Bogen über den Beckenrand warf. Bitte nicht, dachte sie, während sie sich vorstellte, wie Otto im nächsten Augenblick nach ihrem Handgelenk fassen würde. Jetzt stand er vor ihr, in den Händen einen Ball.

»Na?«

Mit fragendem Blick rollte er das runde Ding von einer Hand in die andere. Der Ball flog weit über die Mitte des Beckens. Mit vorgestreckten Armen war sie ihm gefolgt, tauchte außer Atem neben Otto auf, fasste nach dem Ball, lachte, trieb ihn vor sich her, fühlte sich wie ein Delfin oder – so dachte Otto – ein schillerndes Wesen, halb Mensch, halb Tier, eine Meerjungfrau. Sie folgte ihm mit kräftigen Stößen hinunter bis auf den Grund, von dem sie gemeinsam in die Höhe schnellten, gierig nach Luft schnappend, um wieder abzutauchen. Dieses Spiel trieben sie immerfort von der einen Seite zur anderen querend. Ihre Handflächen trafen sich, um sich wieder abzustoßen, ohne zu wissen, ob sie einander folgten oder bereits begannen, sich zu jagen.

In der Schule, oder im Gespräch mit ihren Freundinnen, erwähnte Sala Otto mit keinem Wort.

Ihr Gefühl kam in Wellen. Das Knacken der Kiefernwälder, die Sonne, die ihre Pfeile durch die dichter werdenden Wipfel schoss, das Geschwätz der Buchfinken und Blaumeisen. Otto war überall. Er war die Stille und der Lärm. In Gesellschaft fühlte sie sich einsam, verließ Otto sie, kostete sie gierig den Schmerz der Erwartung. In der Nähe fürchtete sie die Ferne, im Gewinn den Verlust. Manchmal riss sie wütend die Tür auf und verfluchte ihn still, wenn er nicht davorstand, oder sie bat ihn zu gehen, wenn er gerade gekommen war.

Eines Sonntags lauschte Otto im Arbeitszimmer Jeans auf und ab wanderndem Schattenriss. Im Herbstlicht wuchs der Raum mit seinen grünen Bücherregalen zu einem bedrohlichen Wald. Durchs offene Fenster stieß der Wind lose Seiten über den Boden. Wie in einem Traum löste sich die Stimme von der dunklen Gestalt. Sie wanderte durch das Zimmer, sprach vom Elsässer Postvogt Andreas Egglisperger, der über den zugefrorenen Bodensee nach Überlingen ritt. Kaum merklich verdichtete sich der Klang zu Versen, als der Reiter auf der Suche nach dem Fährkahn, der ihn hinüberführen sollte, im tiefen Winterschnee das Ufer verfehlte und den zugefrorenen See ohne Furcht überquerte, weil er ihn für eine baumlose Ebene hielt. Am andern Ufer stürzten die Menschen herbei, bejubelten sein Glück, luden ihn ein, um seinen tapferen Ritt über brüchiges Eis zu feiern, da fiel der Reiter leblos zu Boden.

Als Sala zur Tür hereintrat, sah sie die Augen ihres Vaters über Ottos Körper gleiten. Sie kannte den bewundernden Blick in Ottos Augen, die Hingabe, mit der alle ihrem Vater verfielen, wenn er, ein Buch in der Hand, seine Sirenengesänge anstimmte. Da stand er, wie ein Fischer, der in ruhiger Bewegung seine Netze auslegte. Sie ging auf Otto zu, nahm ihn bei der Hand, gerade als er im Begriff war zu fallen. Wortlos zog sie ihn hinaus, ohne sich nach ihrem Vater umzudrehen.

Als sie zu Bett ging, klopfte es an ihrer Tür. Jean trat herein.

»Liebst du ihn so sehr?«

Was für eine seltsame Frage. Sie liebte Otto, das wusste ihr Vater doch. Was meinte er mit »so sehr«? Konnte man viel oder wenig lieben?

»Ja.«

Ihre Augen leuchteten den Vater an. Was wollte er denn wissen?

»Ich auch.«

Sie hörte einen schrillen Ton in ihrem Kopf. Die Homosexualität ihres Vaters hatte sie nie gestört. Vielleicht lag das an der Selbstverständlichkeit, mit der er sie lebte. Manche Menschen werden blond geboren, andere dunkel, hatte er gesagt, als sie das erste Mal mit seiner Andersartigkeit konfrontiert worden war. Er hatte sie damals mit seinem Ausweis nach Essensmarken geschickt. Sie wartete geduldig in der Schlange vor einem Schalter, hinter dem ein kleiner, dicker Mann saß, dem die Nase lief. In regelmäßigen Abständen zog er den Schleim hoch, schob ihn nachdenklich im Mund hin und her, bevor er ihn zufrieden hinunterschluckte. Als sie vor ihm stand, legte sie den Ausweis ihres Vaters auf den Tisch. Der Beamte grinste beim Blättern.

»Dein Vater is ja ’n 175er. Det jibs ja nich! Schwul und dann ooch noch su feige, seine Marken selba absuholen.«

In ihrem Rücken ging ein Raunen durch die Schlange. Immer wieder dieses Wort. Schwul. Sie hatte es noch nie gehört. Jetzt wurde es ihr in allen Variationen um die Ohren gehauen. Schwuler, Schwuchtel, Schwulensau, Schwanzlutscher, Päderast, Arschficker, Perverser, warmer Bruder, Pupe. Trotzig hielt sie die Hand so lange ausgestreckt, bis das Lachen des Beamten in ein verklemmtes Hüsteln kippte und er ihr vor den Augen der tuschelnden Schlange widerwillig die Essensmarken aushändigte. Dann ging sie stolz nach Hause und fragte ihren Vater, was ein 175er sei. Ein Mann, der andere Männer liebt und dafür nach dem Paragrafen 175 vom Gesetz verfolgt und bestraft wird, war die Antwort gewesen.

Mehr wurde darüber nicht gesprochen. Mehr wollte sie auch nicht wissen. Oft kamen Männer zu Besuch, mit denen ihr Vater lächelnd in der Bibliothek verschwand. Nie wurde sie mit etwas Unsittlichem konfrontiert, nie fühlte sie sich von ihrem Vater vernachlässigt oder missachtet. Manche Menschen wurden eben blond, andere dunkel geboren.

Auf dem Teppich unter ihren Füßen entdeckte Sala jetzt einen Fleck. Sie deutete auf die kleine, unregelmäßige Stelle.

»Ein Webfehler, aus Ehrfurcht vor der Größe Allahs. Wäre der Teppich fehlerfrei, hätte die Weberin sich versündigt.«

Ihr Vater klang weit weg. Sie hörte seine Stimme, ohne sich umdrehen zu können.

»Liebt er dich auch?«, fragte sie.

»Nein. Er liebt dich«, sagte er. »Es tut mir leid.«

Sie sah ihn erschrocken an. Nie hatte ihr Vater sie um Verzeihung gebeten.

»Ich werde es nie wieder versuchen.«

Es war auf einer kleinen Brücke im hinteren Teil des Schlossgartens in Charlottenburg. Zum ersten Mal fasste Otto ungelenk nach ihr. Sie drehte sich weg, fühlte seine Hand über ihren Rücken gleiten. Halb im Schreck fielen ihre Lippen ineinander. Sie rannten schweigend bis in den hintersten Winkel des Parks, vorbei am Lustschlösschen, als könnten sie sich gemeinsam vor dieser Liebe verstecken. Bis ans Ende der Welt, dachte Sala, als sie Otto fallend zu sich ins Gras zog.

Der Herbst floh vor dem Winter, und ehe Sala und Otto sich einmal drehten, brachen die ersten Frühlingsboten durch die Eisschicht. Den Sommer verbrachten sie mit Jean in der Mark Brandenburg, im Herbst und Winter besuchten sie Ausstellungen und Museen. Sie erliefen sich ihre Stadt bis in die entlegensten Winkel, entdeckten Stein für Stein die Welt des anderen, rannten ins Theater, wann immer sie konnten, blind für die Veränderung, die ihre Kreise immer enger um sie zog.

»Was willst du mal werden?«

Sie schlenderten von der Friedrichstraße über die Weidendammer Brücke, vorbei am Preußischen Ikarus, der flügellahm über die Spree starrte. Links von ihnen lag das Theater am Schiffbauerdamm, wo jetzt billige Durchhaltestücke die Inszenierungen von Max Reinhardt verdrängt hatten.

»Arzt.« Er sagte es so selbstverständlich, als würde er den Beruf bereits ausüben.

»Warum?«

»Wegen der Menschen.«

Er legte seinen Arm um ihre Taille. Anfangs hatte er immer versucht, ihn über ihre Schulter zu legen. Da sie ihn aber um einen halben Kopf überragte, war er sich in dieser Haltung bald albern vorgekommen, außerdem wurde es schnell unbequem. Er fasste sie lieber um die Hüfte. So konnte er sie besser spüren.

»Und du? Schauspielerin?«

»Du hast es gewusst?«

»Von Anfang an.«

Otto bestand das Abitur, nur eine Drei in Mathematik trübte das Einserzeugnis. 1934, als die jüdischen Ärzte bereits seit über einem Jahr ihre Kassenzulassung hatten zurückgeben müssen, begann er sein Medizinstudium. Um sich ein eigenes Zimmer leisten zu können, arbeitete er in seiner freien Zeit in der Charité. Botendienste, Kisten schleppen, in der Küche aushelfen, er machte alles, was anfiel.

Von seinem Eifer angesteckt, fraß auch Sala sich durch ihre Arbeit, lernte nebenher die berühmtesten Monologe der Dramenliteratur auswendig, träumte sich in die großen Frauenrollen hinein, war Lady Milford und Luise Miller, Penthesilea, Gretchen und Marthe Schwerdtlein, entdeckte die Göttinnen des Stummfilms und rannte in ihre ersten Tonfilme. Sie bewunderte Marlene Dietrich und Henny Porten, aber auch Zarah Leander und LÍda Baarová.

An den Wochenenden schlich sie mit Otto in die weniger gut verkauften und billigeren Matineevorstellungen, verschlang alles, vom Liebesfilm bis zu den Revue– und Operettenfilmen und träumte sich auf diese riesige weiße Fläche, auf die eine wundersame Maschine fremde Welten aus Licht und Schatten warf, denen sie Nacht für Nacht im Schlaf wiederbegegnete.

Sala verdrängte die gesellschaftlichen Veränderungen. Sie war ein junges deutsches Mädchen, von katholischen Schwestern im Glauben an Jesus Christus erzogen. Sie wollte einen angehenden deutschen Arzt heiraten, sobald sie alt genug war, und sie wollte Schauspielerin werden. Ihre Mutter war Jüdin. Na und? Die Ehe ihrer Eltern war 1927 geschieden worden.

An den Wochenenden kam Otto nun fast jeden Morgen in die Nohl’sche Wohnung, vergrub sich in Salas Armen, roch ihre Haut, noch weich und warm vom Schlaf. Arme und Beine schoben sich ineinander, ihre Körper wuchsen zusammen, bis sie sich erschrocken wieder trennten. Ein kurzer Blick, verloren und erschöpft, ein Ziehen, ein Lösen, ein Zurückfallen in eine immer leidenschaftlicher geteilte Einsamkeit.

Später, wenn die Nachmittagssonne wärmend durchs Fenster leuchtete, machten sie es sich in den Ecken bequem, träumten vor sich hin, mal ein Buch in der Hand oder im Schoß, mal die Augen absichtslos auf den anderen gerichtet.

Sie sahen die Dunkelheit, aber sie erkannten sie nicht.

Es war spät geworden. Als Jean im Flur das Licht anschaltete, hörte er Geräusche aus Salas Zimmer. Auf Zehenspitzen schlich er zu ihrer Tür. Die Stimme seiner Tochter flüsterte aufgeregt in die Stille hinein. Er hielt den Atem an. War sie allein? Anscheinend deklamierte sie leise einen Dialog. Jean presste sein Ohr an die Tür. Er kannte den Text nicht. Vielleicht eines dieser Salonstücke, die jetzt gerne gespielt wurden? Er könnte auch einfach klopfen, fragen, ob er zuschauen dürfe, aber damit würde er nicht nur diese ersten, noch verschämten Versuche seiner Tochter stören, redete er sich ein, er würde sich auch selber um den Reiz des Heimlichen bringen. »Aber warum konnte ich dich nicht begleiten?«, hörte er Salas Stimme fragen. Diese Mischung aus Enttäuschung und Vorwurf, gar nicht schlecht, dachte er, ein direkter, ehrlicher Ton. Was könnte der junge Mann – denn er nahm an, dass es sich um einen Liebhaber handelte – gesagt haben, was könnte er auf ihre Frage erwidern? »Dringende Geschäfte, die keinen Aufschub duldeten, zwangen mich …«, so würde ein Wichtigtuer antworten, wie sie in diesen Stücken zuhauf auftraten. »Nichts als Spott«, zischte Sala. Wahrscheinlich war die vorhergehende Replik doch harscher gewesen. Definitiv 19. Jahrhundert, dachte Jean. Ein junges Mädchen oder wohl eher eine junge Frau, vielleicht eine Kokotte, wollte ihren Geliebten begleiten, wohin, auf eine Reise, oder zu einem wichtigen Diner? »Deinen Zweifel habe ich nicht verdient«, könnte der junge Mann empört entgegnen oder sich jeder weiteren Frage entziehen. »Du bist meine Mutter«, hörte er Sala halblaut sagen. Sie spielte nicht. Jean richtete sich gespannt auf. »Warum bedeutet dir dieser Mann mehr als mein Vater?« Es folgte eine lange Pause, als würde das Gegenüber die Antwort schuldig bleiben. So wäre es wohl in der Wirklichkeit, dachte Jean. Iza gab nie Erklärungen für ihr Handeln ab. Wenn sie etwas tun wollte, dann tat sie es, eine Begründung oder eine Rechtfertigung brauchte sie nicht, jede Forderung danach würde sie mit kühlem Schweigen quittieren. »Warum bedeutet er dir mehr als ich? Woher nimmst du das Recht, einfach zu gehen? Die Frage würdest du mir ebenso wenig beantworten wie jede andere, weil du dich jeder Auseinandersetzung entzogen hast, weil du meinst, du seist für wichtigere Aufgaben bestimmt, als Mann und Tochter glücklich zu machen. Du bist eitel und verlogen. Mir bleibt nichts, als immer wieder Briefe zu schreiben, auf die ich keine Antwort bekomme. Und da ich das weiß, schicke ich sie gar nicht erst ab. Gut für dich.« Jean hörte, wie Sala aufstand, um in ihrem Zimmer aufgebracht hin- und herzulaufen. Er erhob sich vorsichtig. Er musste jetzt gehen. Er konnte hier nicht wie ein drittklassiger Detektiv in der Seele seiner Tochter herumschnüffeln. »Du willst ein Meteor sein? Dass ich nicht lache.« Jean blieb stehen. »Ja, ein Brocken vielleicht, der irgendwann aus seiner Umlaufbahn auf diese Welt stürzt und alles in seinem Umfeld zerstört, aber nichts, was irgendjemandem auch nur das kleinste Licht auf seinem Weg sein könnte. Einfach nur ein Feuerball, der verbrannte Erde hinterlässt.« Ihre Stimme war lauter geworden. »Was hast du mir gegeben, außer deinem Judentum? Glaubst du, ich spüre nicht, wie sie alle heimlich mit dem Finger auf mich zeigen? Die Deutschen wollen mich nicht mehr, und zu den Juden gehöre ich nicht. Du hast es mir nie beigebracht.« Jean starrte gebannt auf die Tür. Jetzt müsste er hineingehen, seine Tochter umarmen. Aber er konnte nicht, er schämte sich.

11

Als Sala am nächsten Tag mit Otto durch die Straßen spazierte, wirbelte ein warmer Wind Blütenstaub durch die Luft. Sie hakte sich bei ihm ein und malte sich den ersten Besuch bei seiner Familie aus. Farbentrunken strahlte Kreuzberg vorzeitig dem Sommer entgegen. Vor den Kneipen hielten die Berliner ihre winterbleichen Gesichter der Sonne entgegen. Ein lautes Treiben, ganz anders als in ihrem Kiez. Die Menschen wirkten gröber, aber auch lebenszugewandter. In freudiger Erregung versuchte Sala, alles, was sie sah, in sich aufzunehmen. Otto ignorierte stolz die bewundernden Pfiffe, als sie in schmaleren Seitenstraßen im Vorbeigehen beinahe die Tische berührten. Sala trug ein helles, knielanges Kleid, um die schmale Taille hatte sie einen grünen Gürtel geschlungen. Mit ihren Absätzen war sie einen Kopf größer als Otto, den das nicht zu stören schien. Lange hatte er gegrübelt, wann er Sala seiner Familie vorstellen sollte. Seine Schwestern bereiteten ihm keine Sorgen, obwohl sein zukünftiger Schwager Günter, der Freund von Inge, ein strammer Parteigenosse war, dem er meistens aus dem Weg ging. Ingeborg war achtzehn und kein Backfisch mehr, sie hätte etwas Besseres verdient und auch finden können, sagte er sich immer wieder. Warum zum Teufel musste es ausgerechnet dieser krakeelende Nazi sein, der mit dreiundzwanzig Jahren schon bedrohlich in die Breite ging? Kinder rannten kreischend über das Kopfsteinpflaster.

»Du hast mir noch nie Kinderbilder von dir gezeigt.« Sala sah ihn herausfordernd an.

»Gibt nur eins. Da liege ich als Baby auf einem Eisbärfell. Jedes Mal, wenn meine Mutter es stolz vorzeigt, erzählt sie stundenlang, wie schwierig es für den Fotografen war, weil ich nicht aufhörte zu strampeln, und wie teuer sie das zu stehen kam. Der Ganove hat wohl ’n Extraaufschlag berechnet.«

Lachend überquerten sie die Straße. Otto deutete auf die gegenüberliegende Hofeinfahrt.

»Da isses.«

Die ersten zwei Höfe sahen noch ganz manierlich aus. Der dritte Hinterhof war verwahrlost. Der Fassadenputz blätterte ab, von unten kletterte Feuchtigkeit hoch. Ein schwerer, süßlicher Gestank verschlug Sala den Atem. Aus manchen Fenstern klang Gebrüll, weiter oben stöhnte und schrie ein Paar um die Wette. Otto nahm Sala fest am Arm.

Eine schmale Tür führte sie in einen feucht riechenden Seitenaufgang. Otto blieb kurz stehen. Innen schmetterte eine blecherne Männerstimme falsch und anzüglich einen Gassenhauer. Er nahm seinen Schlüssel heraus, zögerte kurz, dann klingelte er. Hinter der Tür verstummte das Gezeter für einen kurzen Moment, dann hörten sie schnelle Schritte hin- und herjagen, begleitet von unterdrückt geflüsterten Befehlen. Die Tür sprang auf. Es war Erna. Auch wenn er es gehofft hatte, es wäre Otto sonderbar erschienen, wenn seine Mutter jetzt dagestanden hätte. Wahrscheinlich saß sie wie eine Königin auf dem einzigen Sessel im Wohnzimmer. Piekfein, schmunzelte Otto zufrieden, als er seine ältere Schwester prüfend ansah, man hatte sich offenbar, seiner Weisung entsprechend, auf den hohen Besuch vorbereitet. Blieb nur zu hoffen, dass die Manieren der Sonntagskleidung angepasst wurden. Erna knickste aufgeregt.

»Ick bin die Erna, schön, dass de uns ma besuchen tust, Sala. Den Otto ham wa ja schon seit Monaten einjeschenkt, dass er dir mal endlich mitbringen soll.«

Voller Stolz auf ihre gewählte Ausdrucksweise reichte sie ihr die Hand und zog Sala lachend herein.

»Imma rin in die jute Stube. Ick hoffe, ihr habt Lachgas mitjebracht, der Günter pupt ma wieda rum, oh entschuldje meine Ausdrucksweise, ick meine, der stänkert wieda.«

Sie zwängte sich lächelnd zurück und machte Platz. Otto führte Sala durch den engen Korridor.

»Komm rin, Männeken«, dröhnte es laut von hinten.

Diese Frechheit würde zu einem geeigneteren Zeitpunkt Konsequenzen haben. Otto hatte sich fest vorgenommen, heute großzügig über die Schwächen seiner Familie hinwegzusehen.

»Is die Puppe ooch mit?«

Otto erschien als Erster in der Tür und machte eine versteckte, drohende Geste. Günter nahm entschuldigend die Hand vor den Mund, als Otto einen Schritt zur Seite machte, um Sala hereinzulassen.

»Jetz steh doch nich rum wie so’n Zinnsoldat, Jenosse. Meen zukünftjer Schwager is nämlich ’ne linke Bazille, aber det weeßte sicher schon. Ick bin der Jünter.«

Er streckte ihr, ohne aufzustehen, seine fleischige Hand entgegen. »Die Linke kommt von Herzen und entschudje, det ick sitzen bleebe, ick hab’n verstauchten Mittelfinger, und meene Bandscheibe klemmt. Weeß och nich’, welche Hexe ma da abjeschossen hat.«

Er warf Inge einen strafenden Blick zu.

»Benimm dich, Günter.«

Im Halbdunkel erhob sich Anna mit mädchenhaftem Schwung aus ihrem Sessel und ging auf Sala zu. Sie reichte ihr die Hand mit einem strengen Lächeln.

»Mutter, das ist Sala.« Otto verneigte sich fremd.

»Willkommen.«

Dann fügte sie mit einem knappen Blick auf Günter hinzu:

»Nehmen Sie’s ihm nicht übel, er weiß es nicht besser. Und in der Partei haben sie jetzt alle so einen Ton.«

Sala war beeindruckt von ihrer Erscheinung. Eine stolze Schönheit, jeder Blick, jede Bewegung ein unbeugsames Trotzdem. Sie überlegte, wie ihre Mutter jetzt wohl aussehen würde.

»Vielen Dank für die Einladung.«

Otto winkte seine jüngere Schwester zu sich. Sala versuchte zu verstehen, wie diese hübsche junge Frau, die kaum zwei Jahre älter sein mochte als sie, an einen so groben Mann wie Günter geraten war. Im Gegensatz zur dürren Erna, duftete ihr Körper vor Weiblichkeit.

»Und das ist Inge.«

Im Hintergrund wurde die Tür zugeschlagen. An dem gelallten Fluch erkannte Otto seinen Stiefvater, der nun schwankend das Wohnzimmer betrat.

Trotz seiner fahrigen Bewegungen wirkte er imposant. Sala sah, wie Inge ihren Vater anstrahlte, während Erna nervös die Beine verdrehte. Sein Anblick nahm Anna den Schwung, oder waren es Enttäuschung und Bitterkeit, die sich in ihre Mundwinkel gruben? Sala beobachtete, wie das Erscheinen eines einzelnen Menschen die Stimmung im Raum veränderte. Er, der trotz seiner Größe und Kraft wie eine verschmierte Kohlezeichnung aussah, war das Zentrum dieser Familie. Otto wirkte fremd in dieser Welt, genau wie er es, auf andere Art, in ihrer Welt war. Als hätte er seine Heimat verloren, dachte Sala, als sie sich an ihn drückte.

»Günni!« Karl warf die Arme hoch. Günter hievte überraschend behänd seinen schwammigen Körper aus dem Sessel, an dem er grade noch festgewachsen schien. Er bewegte sich, ebenfalls leicht schwankend, auf Karl zu, um ihn zum Sofa zu führen. Dabei umarmten sich die Männer, ohne dass Sala so recht erkennen konnte, wer sich an wem festhielt. Sie wirkten wie Vater und Sohn oder wie Kriegskameraden, tuschelten wie zwei unzertrennliche Freunde. Leidensgenossen, verbunden durch ein tieferes Verständnis, ohne sich tatsächlich füreinander zu interessieren. Bier, Schnaps und getrockneter Schweiß wehten ihr entgegen. Sala tastete nach Otto, als sie plötzlich seine Hand in ihrem Nacken fühlte. Sie schloss die Augen.

Karl war wieder aufgestanden. Alle sahen ihn gespannt an.

»Otto. Hast du diese schöne Blume in meene Hütte jebracht?«

Alle strahlten, selbst Otto erlag diesem überraschend charmanten Anflug.

»Vaseihnse, Frollein, ick komme jrade von de Arbeet, hab heute so jebuckelt, det ick noch janz kirre im Koppe bin, destawegen ha’ ick Sie nich jesehen. Kinnings, ick hab euch alle noch nich richtig jesehen, fällt ma jetz uff. Und dabei ist det durch die junge Dame uff eenmal janz helle inne Hütte, da könn wa ja heute direkt Strom sparen. Respekt, Jungchen.«

Sala lächelte. Sie sah, wie Ottos Mutter kopfschüttelnd lachte. Das war Ottos Familie. Es gab schlechtere. Diese Menschen versuchten nicht, etwas anderes zu sein, wie sie es aus ihren Kreisen kannte. Vielleicht hatten sie auch gar nicht die Kraft dazu. Vielleicht war ihr Alltag zu hart, um sich am Abend noch zu verstellen.

»Mutta, wat jib’s su futtern. Ick schiebe Kohldampf.«

Er wankte zu Anna und zwickte Erna im Vorbeigehen so fest in die Hüfte, dass sie aufschrie. Er blieb kurz stehen und sah sie fragend an. Sie lachte.

»Komm her, meene kleene Gerte. Jib Papa ’n Dicken.«

Er deutete auf seine Wange. Als sie artig folgte, drehte er schnell seinen Kopf zu ihr, sodass sie seinen Mund küssen musste. Er lachte rau auf.

»Haha. Tut imma, als würd’s druff rinfallen, det Luda.«

Dann drückte und herzte er alle reihum, bis er schließlich vor Sala stand.

»So hübsch sin Se. Wirklich hübsch. Det vasteh ick, det der Sie vaschteckt jehalten hat. Da musste ooch uffpassen, meen Lieba.«

Dann drehte er sich zu Anna.

»’ne Molle und ’n Korn. Aber zackig, wenn ick bitten darf.«

Den letzten Halbsatz schob er eilig hinterher, als ihn Annas fester Blick traf. Erst jetzt bemerkte Sala, dass sein vom Alkohol verwüstetes Gesicht einer Karikatur glich. Das war es, was ihr auf dem Weg hierher aufgefallen war. Nun standen die Bilder wieder klar vor ihr. Was ihr wie das pralle Leben vorgekommen war, kannte sie aus dem Museum, von den Bildern von Zille, von Grosz oder Dix. Sie hatten diese Typen und Charaktere eingefangen. Ebenso wie die fetten Reichen, waren diese Gesichter eine Übertreibung. Paradies oder Hölle. Trotzdem, die kleine, dunkle Wohnung war weniger verlogen als alles, was sie kannte. Diese Familie mochte eigenartig sein, aber es war eine. Es gab einen Vater und eine Mutter.

»Heute gibt’s Eintopf, Ottos Leibgericht. Ich hoffe, du magst so was auch. Komm mit, ich zeig dir wie man’s macht. Musst du schließlich wissen, wenn du seine Frau werden willst, und das willst du doch, wenn ich’s richtig verstehe.«

Bevor Otto etwas sagen konnte, nahm sie Sala bei der Hand und zog sie in die Küche. Im Rausgehen hörte Sala Inges flötende Stimme.

»Eintopf essen wa jetze, um für den Führer su sparn.«

»Komm her Kleene, du hast det Herz an’n richtjen Fleck.« Günter stieß laut auf.

Auf der Anrichte stellte Anna die Suppenteller bereit und gab Sala eine große Schöpfkelle.

»Tu mal ordentlich auf und gib Otto ’ne extra Portion Fleisch dazu. Der braucht das jetzt, so viel, wie er an der Universität lernen muss. Und wenn du so’n Eintopf machst, muss immer genug Fett in der Suppe schwimmen, sonst schmeckt’s nich. Was willst du von meinem Sohn?«

Sala sah sie konsterniert an. Sie verstand die Frage nicht recht.

»Warum liebst du ihn?«

Der Geruch von altem Fett kroch Sala in die Nase. Sie sah, wie die Tapete sich von der Wand ablöste, erkannte die dürftige Einrichtung, hörte, wie der betrunkene Vater im Nebenzimmer wieder zu poltern begann.

»Ich weiß es nicht«, sagte sie mit etwas zu fester Stimme.

»Na, ehrlich biste jedenfalls.« Anna sah sie schweigend an.

»Überlegt euch das gut. Eine Ehe ist ’ne komplizierte Sache. Da braucht man viel Gemeinsames, um das zu überstehen, und … ihr kommt aus sehr verschiedenen Ecken. Versteh mich nich falsch. Ich hab nichts gegen dich. Aber ich hab nur den einen Sohn. Einen zweiten wird’s nich geben. Er ist das Einzige, was ich gut gemacht hab in meinem Leben. Da bin ich stolz drauf. Das lass ich mir nicht nehmen.«

So viel Direktheit war Sala nicht gewöhnt. War das eine Kriegserklärung, oder steckte Anna nur ihr Terrain ab?

»Soll ich schon mal auftragen?«, fragte sie und hasste sich für die Unsicherheit und den Trotz in ihrer Stimme.

»Du bist nich verkehrt, Sala. – Aber, wie gesagt, er ist mein einziger Sohn.«

»Ja.«

Annas Blick wurde weicher.

»Und red in Gegenwart von Günter nich über deine Herkunft. Der ist inner Partei und will dort was werden. Verstehste?«

»Ja. Danke, aber ich bin Deutsche, wie ihr.«

»Natürlich, ich mein ja bloß. Und die Inge, die is ihm hörig. Die hat sich bei der Gestapo als Sekretärin beworben und wartet auf Antwort.«

»Warum sagen Sie mir das alles?«

Anna reichte ihr einen Teller mit geschnittenem Brot.

»Deine Mutter is’ Jüdin, sagt Otto.«

Sala nickte.

»Und dein Vater?«

»Der ist Protestant.«

»Na, das sind wir ja hier fast alle. Aber dann bist du ja eigentlich nur Halbjüdin.«

Wieder nickte Sala stumm.

»Und was haben deine Großeltern dazu gesagt?«

»Wozu?«

»Na, zu der Ehe deiner Eltern.«

Sala wusste genau, was Anna meinte, aber sie zog es vor, so zu tun, als würde sie die Frage nicht verstehen.

»Ich weiß nicht«, sagte sie ausweichend.

»Na, ganz normal ist so eine Verbindung ja nicht.«

Anna lächelte. Ein durchaus freundliches Lächeln, dachte Sala.