13

Der Wasserfall tauchte vor uns auf.

»Wie kannst du dich so genau an dein Leben hier erinnern? – Du warst doch noch sehr klein.«

»Ja – spaaaßig, nicht?«

Wir saßen auf einem runden Stein. Aus vier oder fünf Metern Höhe stürzte das Wasser in den Bach. Ich war überrascht, wie gut sie noch hören konnte. Das Rauschen schien sie nicht weiter zu stören.

»Hast du gerne hier gelebt?«

»Ja.« Meine Mutter bewegte schweigend ihre Lippen. Oder flüsterte sie doch etwas vor sich hin? Ich neigte mich vor. Sie war still. Ihr Blick hing am Wasser, sanft wiegte sie ihren Kopf. Sie ließ sich auf den Boden gleiten. Ihre Hände fühlten das Gras.

»Früher kannte ich jede Pflanze hier.«

Sogar das Wasser schien jetzt vorsichtiger zu fallen.

Zum Abendessen saßen wir im weiträumigen Speisesaal des Hotels. Nach dem ersten Scheitern der Lebensreformer verwies Eduard von der Heydts Architekturfantasie mit ihren heruntergezogenen Fenstern und ihren auslaufenden Fluren bereits auf die mondäne Selbstinszenierung späterer Besucher der Welt um den Lago Maggiore, wie auf die Investoren, die davon profitierten.

Während ich durch die Fensterfont der untergehenden Sonne folgte, fühlte ich die Anziehungskraft, die der Monte Verità über Jahrzehnte auf Sinnsuchende ausgeübt hat. Das italienische Klima, der ins Schweizer Bergpanorama hineingemalte See. Vielleicht zu reizvoll, um sich selbst zu begegnen? Keine Wüste, eher ein nachdenklich gewordener Garten Eden. Hierhin, in eine dieser kleinen Licht-Luft-Hütten, hatten sich meine Großeltern zurückgezogen, während der bis dahin brutalste Krieg vier lange Jahre die Welt neu ordnete. Wie Pflanzen im Sterben ein letztes Mal ihre Samen verschleudern, bäumten sich die Menschen mit ihren Ideen ein letztes Mal gegen die um sich greifende Zerstörung auf.

»Hat dein Vater je mit dir darüber gesprochen, warum sie von hier nach Berlin zurückgekehrt sind?«

»Auf dieser Speisekarte findet man sich gar nicht zurecht.«

Entweder hatte sie meine Frage überhört, oder sie wollte nicht darauf antworten.

»Er hatte sich hier einen Weinberg gekauft«, sie zog die Luft laut durch die Zähne, »ein Vermögen, sage ich dir, ein Ver-mö-gen.«

»Und?«

»Na, er hat’s dann wohl irgendwann verkaufen müssen. War wohl wieder Ebbe im Portemonnaie. So ging’s ja immer. Einen Tag wie Ludwig der XIV., und am nächsten Tag alles verspielt.«

»War er auch ein Spieler?«

Ich nahm an, dass sie ihn jetzt mit meinem Vater verwechselte, der nach dem Krieg einige Jahre der Spielleidenschaft verfallen war.

»Ja. Und meine Mutter hat ihm dann die Pistole auf die Brust gesetzt. Entweder du wirst jetzt vernünftig und ernährst deine Familie, oder ich gehe.«

Vor diese Alternative hatte sie jedenfalls meinen Vater in den späten Fünfzigerjahren gestellt, als er Gefahr lief, Haus und Hof zu verlieren.

»Wie gewonnen, so zerronnen«, sagte sie. »Ich habe mir aus Geld nie etwas gemacht. Tant pis. Fürs Gewesene gibt der Jude nichts. Auch die Fabrik deines Urgroßvaters, er war der größte Tuchhändler von Lodz – für immer perdu.«

Nachdem ich sie in ihr Zimmer begleitet hatte, beschloss ich, noch ein wenig über das Gelände zu streifen. Wieder kam ich an den kleinen Licht-Luft-Hütten vorbei. Hier würde ich jetzt gerne schlafen, dachte ich. Ich sah mich um. Niemand da. Wie damals gab es kein Schloss. Ich ging hinein. Mit der Feuchtigkeit kroch mir der Holzgeruch in die Nase. Anders als am Nachmittag. Ich legte mich auf den Boden und atmete die Vergangenheit ein. Ich fühlte mich wie auf der Suche nach der verlorenen Zeit. Es fehlte nur noch eine Tasse Lindenblütentee und eine Madeleine. Aber es waren nicht meine Erinnerungen, die ich hervorzulocken suchte. Oder doch? Waren es nicht meine Großeltern, denen ich hier nachspürte? Es gab Erinnerungen an beide. Der Mond schob sich vor das kleine Fenster. Sein Licht warf das Fensterkreuz schattenschwarz auf den Boden des winzigen Raumes. Das ferne Rauschen des Baches vermischte sich mit dem Klickern der bunt gestrichenen Holzboote an der Uferpromenade von Ascona. Vor mir tauchte ein kleines weißes Segelboot mit einem umlaufenden blauen Doppelstreifen auf. Oder war es ein einzelner Streifen gewesen? Es stand auf einem hellen Holzpodest hinter dem Schaufenster eines Spielwarenladens in Weimar. Und der Junge, der seine Nase an der Scheibe platt drückte, war ich.

»Ist es das?«

Die Stimme meines Großvaters drang ruhig und geduldig in meinen Erinnerungsraum.

Bevor wir losgezogen waren, hatte meine Mutter mich zur Seite genommen. Der Großvater sei sehr müde, ich müsse unbedingt auf seine Krankheit Rücksicht nehmen. Das sei jetzt wichtiger als die Suche nach einem Geschenk für mich, die sie ihm leider nicht habe ausreden können. Er würde sowieso nie auf andere hören, wenn er sich etwas in den Kopf gesetzt habe. Ob mir das jetzt klar sei? Ich solle im ersten Geschäft das erste Boot nehmen und sagen, dass es mir gefalle. Sie würde mir dann zu Hause in Berlin ein anderes kaufen, das Spielzeug in der DDR sei sowieso nicht besonders schön, eher so altes Zeugs. Ich sei noch sehr klein und könne sicher nicht verstehen, was es bedeute, aber der Großvater sei sehr krank und erschöpft. Sterbenskrank. Sie wiederholte das Wort mehrmals, zog und dehnte es und sah mich dabei eindrücklich an. Ich nickte. Meine Mutter strich mir über den Kopf. Trotzdem fühlte ich mich schlecht. Wenn es stimmte, was sie sagte, und warum sollte es nicht stimmen, sie war schließlich meine Mutter, dann würde dieser Spaziergang sehr gefährlich werden. Er könnte ja auch plötzlich tot umfallen. Wie würde ich dann wieder nach Hause finden? Ich kannte mich hier überhaupt nicht aus. Hand in Hand hatten wir das Haus verlassen. Still waren wir durch die Straßen von Weimar spaziert. Viel weniger Autos als in Berlin sah man dort, vor allem ganz andere. Ich kannte mich aus mit Autos. Ich hatte eine umfangreiche Sammlung von der Firma Matchbox. Was hier auf den Straßen verkehrte, sah eigentlich aus wie unsere großen Limousinen, nur eben anders, irgendwie zusammengeschoben, ja es waren eigentlich die gleichen Autos, nur zusammengestaucht. Es waren große kleine Autos, während die kleinen Autos zu Hause kleine kleine Autos waren, die eben nicht nur kleiner als die großen waren, sondern auch eine andere Form als diese hatten. Ich fühlte mich nun gar nicht mehr schlecht. Man konnte neben meinem Großvater sehr schön schweigen. Er stellte einem keine komischen Fragen, auf die man keine Antwort wusste. Seine Hand fühlte sich warm an. Ich war fest davon überzeugt, dass es uns beiden gut ging. Sehr gut.

Das erste Geschäft war nicht überzeugend. Großvater fragte mich, was ich mir wünschen würde.

»Ein Segelboot.«

»Haben wir nich’.« Die Antwort des Verkäufers kam schnell, obwohl er dabei langsam sprach.

»Nur eins ohne Segel«, sagte er dann noch etwas missmutig. Ich dachte an die mahnenden Worte meiner Mutter.

»Das macht nichts.«

»Aber dann ist es doch kein Segelboot«, sagte mein Großvater ruhig.

»Macht nichts«, sagte ich leise.

»Doch.«

Dann nahm er meine Hand, und wir gingen wieder raus. Nach ein paar Schritten blieb er stehen. Er beugte sich zu mir.

»Du? Man kauft nicht etwas, nur um dem andern einen Gefallen zu tun. Das ist dummes Zeug. Dann sind wir nämlich beide betrogen. Du, weil du nicht das Boot bekommst, das du dir wünschst, und ich, weil ich dir nicht das Geschenk machen kann, über das du dich wirklich freust. Verstehst du das?«

Ich nickte, und wir gingen weiter. Es strengte meinen Großvater nicht an. Das konnte ich in seinen Augen sehen und an seinem Gang. Er war gut gelaunt. Es machte ihm Spaß, mit mir durch seine Stadt zu spazieren. Wenn ihn jemand grüßte, nickte er freundlich zurück, schwang seinen Spazierstock mit Silberknauf zum Gruß, und wir zogen munter weiter.

Der zweite Laden war nicht viel besser als der erste. Der Verkäufer redete noch langsamer, eigentlich fast gar nicht. Wir ließen uns nicht aufhalten. Die Sonne war hinter den Wolken hervorgekrochen. Die Straßen von Weimar sahen aus, als hätte Gott einen Eimer Gold verschüttet. Hin und wieder deutete mein Großvater mit seinem Spazierstock auf ein Gebäude und erklärte etwas dazu. Aber es klang nie wie eine Erklärung, es klang wie eine spannende Geschichte. Er erzählte von Menschen aus einer anderen Zeit, die in den Häusern gewohnt hatten. Er beschrieb ihre Kleidung, ihre Frisuren, sprach von Kutschen und Pferden, von Dichtern und Herzögen, von sehr vornehmen, klugen Frauen und von Italien, wo er früher einmal gewesen war. Und dann standen wir vor dem Schaufenster des dritten Ladens. Und da war es. Das schönste Segelboot, das ich je gesehen hatte.

»Ist es das?« Ich fühlte die Hand meines Großvaters auf meiner Schulter. Ja, das war das Boot, nach dem ich gesucht hatte. Zwei dünne blaue Streifen verliefen parallel um den weiß gestrichenem Rumpf, innen war das Holz naturbelassen, in der Mitte ein schlanker, etwas dunklerer Mast und ein leuchtend weißes Segel, das sich bewegen ließ. Es war mein Segelboot.

Als wir zu Hause ankamen, wollte meine Mutter schimpfen, aber als sie unsere Gesichter sah, musste sie lachen. Und dieses Lachen war so schön und so ansteckend, dass wir alle lachten.

»Ich mach mir in die Hosen, Kinder, ich mach mir in die Hosen.«

So hatte sie lange nicht mehr gelacht. Sie war in letzter Zeit oft traurig gewesen. Sie fiel ihrem Vater um den Hals. Er streichelte ihr Haar. In der Tür stand mein Vater und lächelte. Großvater streckte die Hand nach ihm aus. Sie umarmten sich alle drei. Ich schlich mit meinem Boot die Treppen hinauf. Es war unsere letzte Begegnung. Wenige Wochen später war mein Großvater tot.

»Wie kam es damals zu der Trennung zwischen deinen Eltern?«

Meine Mutter kämpfte schweigend mit ihrem Frühstücksei. Köpfen kam für sie nicht infrage. Sie klopfte vorsichtig mit ihrem Löffel auf der Spitze herum. Ihre Augen waren schlechter geworden. Immer wieder glitt ihr das Ei aus den Händen. Eigensinnig pulte sie so lange an der Schale herum, bis sie es geschafft hatte.

Sie strich die Tischdecke glatt.

»Was wurde aus der Freundschaft mit Mühsam?«

»Hat sich verlaufen. Irgendwie war er in einen Bombenanschlag in München verwickelt. Er wollte handeln. Das war meinem Vater zu viel.«

»Und warum ist deine Mutter nach Madrid gegangen? Wegen Hitler?«

»Nein, das war viel früher, da hatte der Heini gerade mal seinen Putsch gemacht und war im Gefängnis gelandet.«

»1923.«

»So was ja, oder ein Jahr später. Ich weiß es nicht mehr. Das war wegen Maloney.«

»Maloney?«

»Tomás Maloney, ein ungarischer Maler, auch Jude. Mein Vater meinte, dass das auch eine Rolle gespielt hat.«

»Dass er Jude war?«

»Ja. Meine Mutter hat das furchtbar geärgert. Es gibt viele Gründe, warum eine Ehe kaputt gehen kann. Am Judentum wird’s nicht gelegen haben. Meine Mutter war Atheistin. Mein Vater auch. Tomás war zwanzig Jahre jünger als sie. Vielleicht auch ein Grund.« Sie lachte. »Eigentlich hatte mein Vater ihn ins Haus gebracht. Er war ja immer auf der Suche …« Sie lächelte. »Stelle nie deine Frau einem Freund vor. Ein altes Gesetz.« Wieder lachte sie. »Na ja, jedenfalls hat sie sich in ihn verliebt. Wie so was dann eben passiert. Mein Vater und sie passten auch nicht wirklich zusammen. Er war ihr wohl nicht ehrgeizig genug. Ein Flaneur, ein Dandy und Bohémien, belesen wie kein Zweiter, aber im Herzen ein Kind, nicht gemacht für diese Welt, schon gar nicht für das, was sich damals zusammenbraute.«

»Wovon habt ihr gelebt?«

»Ach, manchmal hat mein Vater etwas für die NZZ geschrieben. Immer wieder hat er versucht, seine Gedanken zur Psychoanalyse zu veröffentlichen, aber für einen Journalisten fehlten ihm Selbstbewusstsein und Frechheit. Eine Zeit hatte er eine kleine Praxis in Bern. Er hat auch mal den Hesse analysiert. Auch kein großer Erfolg.«

»Hermann Hesse?«

»Ja, ja. Der hat sich da auch eine Zeit lang einquartiert, wegen seiner Alkoholsucht. Seine Ehe war ein einziges Desaster. Wenn er nach den Stunden mit meinem Vater zu seiner Frau zurückwackelte, hat die ihm die Hölle heißgemacht. Der Nohl, dieses Schwein, hat sie gezetert, und du jämmerlicher Tropf, du. Ach du meiiine Güte! Ich kann dir sagen. – Dann ist er mit dem Gusto Gräser, dem der ganze Berg zu kommerziell wurde, in den Wald gezogen. Die haben da in einem Fels gelebt und nur noch geschwiegen.«

»Wer?«

»Na, der Hesse. Und dann hat er den Demian geschrieben. So eine komische Jugendgeschichte. Ein bisschen verschwiemelt, wenn du mich fragst. Und da war der ja schon vierzig. Ha! Na ja. Ich glaube, mein Vater hatte dann nicht mehr so viele Patienten, die gingen mehr zum Gross oder gleich zum Jung. Der Hesse ja auch. Vielleicht sind wir auch deswegen nach Berlin gezogen. Hier lebte man doch sehr abgeschieden. Vielleicht hatten meine Eltern sich auch auseinandergelebt und hofften auf frischen Wind in Berlin. Aber in Berlin verfiel mein Vater dann wieder seinen alten Gewohnheiten. Er war ja jeden Tag im Tiergarten auf der Pirsch.«

»Auf der Pirsch?«

»Na, du weißt schon.«

Natürlich wusste ich, aber eben nur vage. Hatte mein Großvater nicht auch meinen Vater im Tiergarten kennengelernt?

»Geld gab’s auch keins. Meistens lebten wir von Luft und Lesen. Oder sein Bruder schickte ihm etwas. Er hatte ja seine Professur an der Humboldt-Uni und verdiente gut. Außerdem publizierte er flott vor sich hin. Dabei verwendete er immer wieder Ansätze meines Vaters, die der ihm in seiner Naivität in seinen Bittbriefen schön brav mitteilte. Er wollte ihm ja nur beweisen, dass er nicht untätig war, wie sein Vater nicht müde wurde zu unterstellen. Abgesehen davon verweigerte sein Vater nach wie vor jeden Kontakt. Die Ehe mit einer Frau ›mosaischen Glaubens‹ und dazu noch ein Enkelkind aus dieser Verunreinigung, das war dann endgültig zu viel. Ha!« Sie lachte laut auf.

»War er Antisemit?«

»Wie es im Buche steht, jawohl, ein guter deutscher Protestant.«

»Es waren doch nicht alle deutschen Protestanten Antisemiten.«

»Nein, nicht alle.« Wieder lachte sie. »Wie kann man Humanist und zugleich Antisemit sein? Kannst du mir das erklären? Außerdem, was konnte ich dafür? Ich bin ja nur Halbjüdin.«

»Du bist Jüdin.«

»Jetzt fang nicht wieder damit an, ja? Ich bin Halbjüdin, ich muss es ja wohl wissen.«

»Du beziehst dich auf die Nürnberger Rassengesetze, Halb- und Viertel- und Achteljuden, das gab es doch vor Hitler gar nicht.«

»Ich bin Halbjüdin und damit basta! Ich weiß schon, als was ich verfolgt wurde, besser als du, mein lieber Freund und Kupferstecher.«

Wir starrten uns beide wütend an.

»Du bist Jüdin. Du wurdest von einer jüdischen Mutter geboren. Und damit bist du im Sinne des jüdischen Glaubens Jüdin. Punkt.« Ich schlug mit der flachen Hand auf den Tisch. Meine Mutter zuckte zusammen, als hätte ich ein unwiderrufliches Urteil über sie gesprochen. Ich wollte in ruhigem Ton einlenken.

»Warum hast du denn so ein Problem damit?«

Der Versuch missglückte gründlich. Sie zitterte.

»Nicht ich habe ein Problem. Du hast ein Problem. Und zwar ein gewaltiges. Aber glaube ja nicht, dass du mich benutzen kannst, um es zu lösen. Das haben schon andere versucht. Löst eure Probleme selber und lasst mich in Ruhe.«

In einer plötzlichen Bewegung fegte sie Teller und Tasse vom Tisch. Sie erhob sich schwankend. Ich wollte ihr zu Hilfe kommen, fasste nach ihrer Hand, aber sie riss sich wütend los, starrte mich an und verschwand auf ihr Zimmer.

Ein junger Kellner eilte herbei. Mit hochrotem Kopf sammelte er die Scherben ein. Ob ich noch einen Wunsch hätte. Ich setzte mich und bestellte einen Kaffee. Der Morgennebel über dem Lago Maggiore war verflogen. Im Gegenlicht lag die Bergwelt scharf gezeichnet vor mir. Mein Blick blieb auf der großen Wiese hängen. Ich lauschte dem Klappern von Löffeln und Geschirr. Leises Gemurmel drang an mein Ohr. Eine Kinderstimme trat hervor. Der Apfelbaum stand plötzlich einsam vor mir. Wie damals in unserem Garten konnte ich meine Tränen nicht zurückhalten. Wie damals wusste ich nicht, wie mir geschah. Wie damals versuchte ich hinzuschauen, während alles vor meinen Augen verschwamm.

Ich saß in kurzen Hosen mit meinen Eltern unter dem Apfelbaum. Onkel Walter und Tante Kläre kamen zu Besuch. Walter und Kläre Blocher. Sie waren nicht mit uns verwandt, aber in dieser Zeit, in den Sechzigerjahren des letzten Jahrhunderts, waren alle Erwachsenen Onkel und Tanten. Die Sonne brannte hell an diesem Frühsommertag. Als sie zum Gartentor hereinkamen, rannte ich auf sie zu, nahm sie bei der Hand und führte sie zu meinem Apfelbaum. Das tat ich sonntags immer, wenn Besuch kam. Am Fuß des Baumes warteten bereits Stühle auf die Gäste. Ich kletterte auf den obersten Ast, verneigte mich vor meinem Publikum, warf die Arme in die Luft, beschrieb einen großen Kreis und rief aus voller Kehle »Alle Amerikaner haben einen riesengroßen Arsch …«

Mehr fiel mir an diesem Tag nicht ein. Mit einem halsbrecherischen Salto landete ich zwischen den Zuschauern, verneigte mich flüchtig und rannte schnell weg.

Etwas später saß ich dem Amerikaner gegenüber. Onkel Walter stieß kleine Laute der Zufriedenheit aus, während er eifrig Streuselkuchen in sich hineinschob. Meine Augen wanderten über seine hellgraue Sommerhose, sein kurzärmeliges weißes Hemd, wie bei Papa, dachte ich, auch seine Krawatte war rot-blau gestreift. Sie hatten beide kaum noch Haare. »Kassengestell«, riefen sie sich lachend zu. Ja, die Brillen glichen sich auch. So sahen alle Männer in Deutschland aus, dachte ich. Aber Onkel Walter war Amerikaner. Hatten sie gesagt.

»Warum spricht Onkel Walter deutsch wie wir, wenn er eigentlich Amerikaner ist?«

Das Geklapper verstummte. Meine Mutter neigte sich zu mir. Sie legte sanft ihre Hand auf mein Knie. Das fühlte sich gut an.

»Weißt du? Walter ist Deutscher, wie wir, aber er musste sein Land verlassen, weil er Jude ist.«

Ich verstand sofort. Obwohl die Stimme meiner Mutter bei dem Wort Jude so eigenartig stumpf klang. Ich wusste ohne hinzusehen, wie ihre Augen jetzt schauten. Ich kannte diesen glanzlosen Blick. Er machte mir Angst. Sonst leuchteten ihre Augen immer bei diesem Wort. Warum sahen mich alle so merkwürdig an? So unecht. Die Augen meiner Mutter sollten wieder leuchten. Jetzt.

»Aber dann ist er doch einer von dem Auserwählten Volk«, sagte ich.

Da war es wieder. Das Leuchten in den Augen meiner Mutter. Alle Augen leuchteten jetzt. Alles war gut. Vergessen meine peinliche Vorstellung auf dem Apfelbaum. Sie lachten wieder. Die Stimme meiner Mutter drang sanft in die plötzliche Heiterkeit.

»Du bist auch ein bisschen jüdisch.«

Wieder richteten sich alle Blicke auf mich. Ich rutschte auf meinem Stuhl hin und her.

»Ein bisschen?«

»Ja.«

»Nicht ganz?«

»Nein. Nicht ganz.«

Ich fühlte ein Kribbeln in den Beinen. Nicht ganz?

»Bin ich denn ein ganzer Deutscher?«

Wieder lachten alle. Diesmal noch lauter als zuvor. Ungestümer auch.

»Neiiin, nicht ganz …«

Die Stimme meiner Mutter überschlug sich ein wenig, als hätte sie etwas getrunken. Plötzlich fühlte ich ohnmächtige Wut in mir aufsteigen. Nicht ganz. Ich wusste genau, was sie sagen wollte. Wenn etwas nicht ganz war, dann war es kaputt. Wie Spielzeug. Damit war nicht mehr viel anzufangen.

»Ich will aber ein ganzer Deutscher sein!«

Ich fühlte mich, als hätte ich die Worte erbrochen. Warum ein ganzer Deutscher und nicht ein ganzer Jude? Ich hätte es genauso sagen können. Aber ich hatte es nicht gesagt. Ich wusste nicht, warum. Alle starrten mich an. Onkel Walters Gesicht war bleich. Seine Unterlippe zitterte.

»Es ist im Blut … sie werden es nie lernen … es ist im Blut«, stammelte er.

»Walter«, sagte meine Mutter, »er ist noch ein Kind …«

Ihre Stimme klang fern. Schockgefroren hörte ich sie leise knacken – wie singendes Eis.

Die Tage starben langsam. Nach der Schule lief ich schnell hinauf in mein Zimmer, murmelte etwas von Hausaufgaben und schloss mich ein. Meist starrte ich aus dem Fenster. Ich hatte etwas erfahren, das meine Welt durcheinanderwirbelte.

Bald wechselte ich auf eine französische Schule. Getrieben von einer dumpfen Sehnsucht, mir selbst zu entkommen, schlüpfte ich aus meinem deutschen Hemdchen. Ich begann vorsichtig nach der Geschichte meiner Familie zu fragen. Mein Vater schwieg, meine Mutter erzählte. Die Antworten unterschieden sich von Antworten, die ich auf andere Fragen bekam. Manches passte nicht zusammen. Leerstellen klafften auf. Erst verstand ich sie nicht, dann sah ich sie bald nicht mehr. Manchmal verhedderten sich zwei Erzählstränge, mal fehlte ein Übergang, oder etwas wirkte unwahrscheinlich. Es war wie bei einem Fernsehbild, das aus einer bestimmten Anzahl von Punkten bestand, die in einzelnen Reihen zusammengesetzt waren. Die Punkte ergaben kein vollständiges Bild, das Fehlende wurde vom Gehirn ergänzt. Diese Wahrnehmung übertrug ich auf alle anderen Lebensbereiche. Meine neue Wirklichkeit war ein Flickenteppich aus hellen und dunklen Abschnitten. Ich war der festen Überzeugung, dass es bei allen so war. Wenn ich etwas nicht verstand, eine Lücke ahnte, nach einem fehlenden Bindeglied fragte, flüchtete sich meine Mutter ins Vergessen. Wie die meisten Kinder dieser Zeit, wurde ich von Menschen erzogen, deren Erinnerung in einzelnen Bereichen so zerfressen wirkte, wie das Gehirn eines Alzheimerkranken. Vielleicht verknüpfte ich dadurch Vorgänge anders. Strenge Logik verlor an Wert, Kausalität wurde aufgehoben, sonst hätte es eine schlüssige Erklärung geben müssen. Aber es gab sie nicht.

Klang etwas besonders schlimm, lachte meine Mutter, als würde sie eine Anekdote zum Besten geben, etwas ganz und gar Unwahrscheinliches, so absurd, dass es wohl kaum geschehen sein konnte, vielleicht überhaupt nicht geschehen war.

Einmal erzählte sie von einem Lager. »Ein Ferienlager?«, fragte ich.

»Neiiiin«, lachte meine Mutter laut. Es war wieder dieses Erwachsenenlachen, kurz bevor eine Geschichte unheimlich wurde. Damals wollte ich lieber Augen und Ohren schließen oder mich in einem dunklen Keller verstecken, aber ich wollte auch wissen, wie es weiterging.

Der Kellner stellte den Kaffee vorsichtig auf den Tisch und verschwand wieder.

Meine Mutter hatte das Wort »Jüdin« wie einen Urteilsspruch erlebt. Sie sprach nicht gern über ihre jüdische Identität. Als könnte sie kein Verhältnis dazu entwickeln, dachte ich. Der Kaffee war zu heiß und schmeckte bitter. Für mich, für das Kind, das in seine eigene Welt auf den Apfelbaum kletterte, bedeutete damals das kleine Wort »halb« »nicht ganz«, also kaputt, für meine Mutter bedeutete es vielleicht, nicht ganz der Vernichtung ausgesetzt zu sein, noch ein halbes Lebensrecht zu haben, noch dazuzugehören, wenn auch nicht ganz.

Leblos war sie vorhin aufgestanden, der Blick wie damals in Berlin, als ich aus meinem Zimmer rannte und die Treppen hinuntersprang. Meine Mutter stand unten und starrte. Mein Vater hielt sie an beiden Armen, als drohte sie zu fallen. Er streckte warnend die Hand nach mir aus. Ich rührte mich nicht. Ich durfte nicht zu ihr. Ich starrte sie an. Dort unten stand meine Mutter, aber ich erkannte sie nicht. Mein Vater wandte sich ab und wartete. Ihre Augen waren leer. Sie hörte nichts. Sie sah nichts. Sie war nicht da. Sie war tot.

Ich erstarrte damals, als wollte ich es ihr gleichtun. Warum? Weil sie mich nicht sah? Fürchtete ich, sie könnte mich vergessen haben? Ahmte ich sie nach, um sie besser zu verstehen? Ich weiß es nicht. Ich weiß nicht mehr, warum ich so reagierte, ich erinnere mich nur, dass die Welt stehen blieb. In dieser Erstarrung begann ich zu denken. Langsam, wie bei einer defekten Wasserleitung, schob sich etwas durch mein Gehirn. Es tröpfelte in mein Bewusstsein. So ist die Hölle, dachte ich, weiß und von unruhiger Stille. In tiefer Angst fühlte ich ein dringendes Bedürfnis zu leben.