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Ich erwachte in freudiger Erwartung. Es war ein strahlender Morgen, und in ein oder zwei Stunden würde ich mich auf den Weg zum Sequoia National Park machen und durch einen Baum fahren. Diese Aussicht versetzte mich in eine Art verhaltene Aufregung. Als ich fünf Jahre alt war, haben mein Onkel Frank und Tante Fern aus Winfield einmal ihre Ferien in Kalifornien verbracht – das war natürlich, bevor sich herausstellte, dass Frank schwul war, der Satansbraten, und bevor er mit seinem Friseur nach Key West durchgebrannt ist, was viele Leute in Winfield furchtbar geärgert hat, besonders als ihnen klar wurde, dass sie von nun an bis nach Mount Pleasant fahren mussten, um sich die Haare schneiden zu lassen. – Jedenfalls haben uns Onkel Frank und Tante Fern damals aus Kalifornien eine Postkarte geschickt, auf der ein Redwood-Baum von so gewaltigem Umfang abgebildet war, dass man mitten durch den Stamm eine Straße gebaut hatte. Durch den Baum fuhr ein schönes, junges Paar in einem grünen Studebaker-Cabriolet, und beide sahen sie aus, als erlebten sie gerade etwas, das einem heftigen Orgasmus sehr nahe kam. Diese Postkarte hat mich ungeheuer beeindruckt. Ich ging zu meinem Dad und fragte ihn, ob wir unsere nächsten Ferien in Kalifornien verbringen und durch den Baum fahren könnten, und er sah auf die Karte und sagte »Mal sehn ... vielleicht irgendwann einmal«, und ich wusste, dass meine Chancen, die Straße durch den Baum zu sehen, gleich null waren.
Jahr für Jahr berief mein Vater eine Familienversammlung ein (stellen Sie sich das vor!), um zu beraten, wo wir unsere diesjährigen Ferien verbringen sollten. Und Jahr für Jahr plädierte ich dafür, nach Kalifornien zu fahren und uns den Baum mit der Straße durch den Stamm anzusehen, woraufhin mein Bruder und meine Schwester in höhnisches Gelächter ausbrachen und ausriefen, dass das ja wohl eine megadoofe Idee sei. Mein Bruder wollte immer in die Rocky Mountains, meine Schwester nach Florida, und meine Mutter sagte, dass es ihr egal sei, wohin wir führen, Hauptsache wir wären alle zusammen. Und dann holte mein Dad einen Haufen Prospekte mit Titeln wie »Arkansas – Das Land der vielen Seen« und »Wichtige Hinweise für einen Urlaub in Arkansas« (mit einem Vorwort von Gouverneur Luther T. Smiley) hervor, und plötzlich schien es denkbar, dass wir in diesem Jahr nach Arkansas fahren würden – was immer wir auch davon halten mochten.
Als ich elf war, fuhren wir nach Kalifornien, in jenen Staat, in dem mein Traumbaum stand. Doch wir besuchten nur Orte wie Disneyland, den Hollywood Boulevard und Beverly Hills. (Dad war zu knauserig, eine Karte zu kaufen, auf der die Häuser der Filmstars eingezeichnet waren, daher fuhren wir nur planlos durch die Gegend und spekulierten.) Manchmal fragte ich beim Frühstück, ob wir nicht zu dem Baum fahren könnten, durch den eine Straße führt, aber alle reagierten so ablehnend auf meinen Vorschlag – es wäre viel zu weit weg, viel zu langweilig, viel zu teuer –, dass ich es bald aufgab und nicht mehr davon anfing. Ich habe tatsächlich nie wieder darüber gesprochen, auch wenn ich meinen Traumbaum immer im Hinterkopf behielt. Ihn zu sehen wurde zu einem der fünf großen unerfüllten Wunschträume meiner Kindheit. (Die anderen vier waren die Fähigkeit, die Zeit anhalten zu können, mit Röntgenaugen ausgerüstet zu sein, meinen Bruder hypnotisieren zu können, um ihn dann zu meinem Sklaven zu machen, und Sally Ann Summerfield ohne einen Fetzen Stoff am Leib vor mir zu sehen.)
Wie nicht anders zu erwarten, erfüllte sich keiner dieser Träume. (Was wohl auch sein Gutes hat. Sally Ann Summerfield ist inzwischen aufgegangen wie ein Hefekuchen. Vor zwei Jahren erschien sie auf einem Klassentreffen und sah aus wie ein kleines Luftschiff.) Aber nun sollte zumindest einer von ihnen Wirklichkeit werden. So war ich also ziemlich aufgekratzt, als ich mein Gepäck in den Kofferraum warf und auf den Highway 63 in Richtung Sequoia National Park bog.
Ich hatte in Tulare übernachtet. Die Kleinstadt liegt im Herzen des San Joaquin Valley, dem fruchtbarsten und ertragreichsten Farmland der Welt. Im San Joaquin Valley werden über 200 verschiedene Getreidesorten angebaut. An jenem Morgen hatte man in den Regionalnachrichten im Fernsehen berichtet, dass das Tulare County im Jahr zuvor Einkünfte in Höhe von 1,6 Milliarden Dollar aus der Landwirtschaft erzielt hatte – das entspricht ungefähr dem Jahresumsatz von Austin Rover. Dennoch lag der Bezirk damit nur an zweiter Stelle innerhalb des Staates. Das benachbarte Fresno County war noch ertragreicher, was man der Landschaft jedoch nicht ansah. Das Tal war so eben wie ein Tennisplatz und erstreckte sich braun, staubig und reizlos meilenweit in alle Himmelsrichtungen. Wie ein schmutziges Fenster vernebelte ein Dunstschleier den Horizont. Vielleicht lag es an der Jahreszeit oder an der Trockenheit, die auf dem Landesinneren von Kalifornien lastete, aber das Land wirkte überhaupt nicht fruchtbar. Ebenso reizlos wie die Landschaft waren die Städte in der Ebene. Sie unterschieden sich durch nichts von anderen Städten und machten weder einen blühenden noch einen modernen oder interessanten Eindruck. Wären da nicht die Orangen gewesen, die so groß wie Pampelmusen an den Bäumen der Vorgärten hingen, hätte ich ebenso gut in Indiana oder Illinois oder sonst wo sein können. Das überraschte mich. Als wir vor Jahren mit der ganzen Familie nach Kalifornien fuhren, kam es mir vor wie eine Reise ins nächste Jahrzehnt. Alles wirkte so gepflegt und modern. Dinge, die in Iowa noch als neue Errungenschaften gefeiert wurden – Einkaufszentren, Drive-in-Banken, McDonald’s-Restaurants, Minigolfplätze, Kinder auf Skateboards –, waren in Kalifornien längst alltäglich. Nun schien all das abgenutzt und alt. Der Rest des Landes hatte aufgeholt. Das Kalifornien von 1988 war Iowa um keinen Deut mehr voraus. Abgesehen vom Smog. Und von den Stränden. Und von Orangen in den Vorgärten. Und von Bäumen, durch die man hindurchfahren konnte.
Bei Visalia fuhr ich auf den Highway 198 und folgte ihm durch duftende Zitrushaine, das schöne Ufer des Lake Kaweah entlang und schließlich die Ausläufer der Sierra Nevada hinauf. Gleich hinter Three Rivers lag der Eingang des Parks. Ich zahlte die Eintrittsgebühr von 5 Dollar und erhielt eine Broschüre mit Einzelheiten über die Sehenswürdigkeiten im Park. Ich blätterte flüchtig durch und suchte nach einem Foto von der Straße, die durch den Baum führt. Doch die Broschüre enthielt keine Bilder, nur Text und eine Übersichtskarte mit vielen verheißungsvollen Namen: Avalanche Pass, Mist Falls, Farewell Gap, Onion Valley, Giant Forest. Ich nahm Kurs auf den Giant Forest.
Der Sequoia National Park grenzt an den Kings Canyon National Park. Eigentlich bilden beide einen einzigen Nationalpark, der mit seinen siebzig Meilen Länge und einer Breite von dreißig Meilen von ebenso beachtlicher Größe ist wie die anderen Nationalparks im Westen. Über die sich bergauf windenden Straßen kam ich nur langsam voran, aber die Landschaft war herrlich.
Zwei Stunden fuhr ich durch die mit Felsblöcken und großen Flecken Schnee übersäten Berge, bis schließlich die dunklen, geheimnisvollen Wälder der Riesenmammutbäume (Sequoidadendron giganteum, wie es in der Broschüre hieß) vor mir lagen. Die Bäume waren riesig, kein Zweifel. Und in Bodennähe waren die Stämme ungeheuer dick, aber nicht so dick, dass ein Highway hindurchgepasst hätte. Vermutlich würden die Bäume dicker, je tiefer ich in den Wald fuhr. Sequoias sind hässliche Bäume. Sie scheinen ins Unermessliche zu wachsen, doch mit ihren wenigen kurzen, aber stämmigen Ästen sehen sie so komisch aus wie die Bäume auf den Zeichnungen von Dreijährigen. Mitten im Giant Forest steht der General Sherman Tree – der größte lebende Organismus auf Erden. Sicher war General Sherman der Baum, den ich suchte.
»Chevette, alter Junge, ich habe eine Überraschung für dich!«, frohlockte ich und tätschelte liebevoll das Lenkrad. Während ich mich General Sherman näherte, stand ich plötzlich vor einem kleinen Parkplatz und vor einem Pfad, der durch den Wald zum Baum führte. Scheinbar war es nicht mehr möglich, durch ihn hindurchzufahren. Das war eine Enttäuschung – wie so vieles im Leben. Egal, dachte ich, dann werde ich eben hindurchlaufen. Umso länger dauert das Vergnügen. Ich werde sogar mehrmals durch den Baum laufen, ich werde mitten hindurchspazieren und hindurchschweben, und wenn nicht allzu viele Leute in der Nähe sind, werde ich sogar um ihn herumhopsen, so leichtfüßig, wie Gene Kelly während Singin’ in the Rain durch die Pfützen tanzt.
Ich knallte die Autotür zu und ging den Weg entlang zum Baum. Und da stand er. Um ihn herum hatte man einen niedrigen Zaun gezogen, der ihm die Leute vom Leib halten sollte. Er war groß, gewiss, groß und dick, aber nicht so groß und nicht so dick. Und kein Weg führte durch seinen Stamm. Vielleicht war es möglich, eine Straße von mäßiger Breite durch ihn hindurchzuschlagen, doch – und darauf kommt es schließlich an – das hatte niemand getan. Neben dem Baum stand eine hölzerne Tafel mit einer aufschlussreichen Mitteilung. Ich las: »Der riesenhafte General Sherman ist nicht nur der größte Baum der Welt, er ist zugleich der größte lebende Organismus. Er ist mindestens 2500 Jahre alt und zählt somit auch zu den ältesten lebenden Organismen. Und dennoch, ist er nicht erstaunlich langweilig? Das liegt daran, dass er wiederum nicht so groß und nicht so dick ist, wie man erwarten könnte. Von anderen Redwoods unterscheidet er sich dadurch, dass er sich nicht wesentlich verjüngt. Auf seiner gesamten Länge bleibt der Stamm fast gleich dick. Daher wirkt er massiger als jeder andere Baum. Wer wirklich eindrucksvolle Redwoods sehen will – solche mit einer Straße durch den Stamm –, der sollte sich in den Redwood National Park unweit der Staatsgrenze von Oregon begeben. Den Zaun rund um den Baum haben wir übrigens errichtet, um Sie daran zu hindern, General Sherman zu nahe zu rücken, und nicht zuletzt, um Ihnen vollends den Spaß zu verderben. Doch damit nicht genug – jetzt kommt auch noch eine Gruppe lärmender junger Deutscher hinter Ihnen den Weg hinauf. Ist das Leben nicht beschissen?«
Wie Sie sich schon gedacht haben werden, habe ich den Wortlaut ziemlich frei wiedergegeben; der Inhalt entspricht jedoch im Wesentlichen dem Original. Die Deutschen kamen tatsächlich, waren unausstehlich und rücksichtslos, wie Heranwachsende im Allgemeinen so sind, und stahlen mir den Baum. Sie ließen sich auf dem Zaun nieder und begannen zu fotografieren. Ich machte mir einen Spaß daraus, vor dem Fotografen herzugehen, sobald der sich anschickte, auf den Auslöser zu drücken. Doch Scherze dieser Art haben nur einen flüchtigen Unterhaltungswert, selbst wenn man sie mit Deutschen treibt. Also kehrte ich ihnen nach ein, zwei Minuten den Rücken und ließ sie in Ruhe über die Pop Musik und das Drugs Scene und ihre übrigen pubertären Interessen quasseln.
Im Wagen sah ich auf die Karte und stellte entmutigt fest, dass ich fast 500 Meilen vom Redwood National Park entfernt war. Ich konnte es kaum glauben. Ich befand mich nun 300 Meilen nördlich von Los Angeles, und würde ich weitere 500 Meilen gen Norden fahren, wäre ich noch immer in Kalifornien. Der Staat erstreckt sich über 850 Meilen von Nord nach Süd, was in etwa der Entfernung zwischen London und Mailand entspricht. Die Fahrt zum Redwood National Park würde mich anderthalb Tage kosten, plus anderthalb Tage, um wieder hierher zurückzukommen. So viel Zeit hatte ich nicht. Niedergeschlagen startete ich den Wagen und fuhr zum siebzig Meilen weiter nördlich gelegenen Yosemite National Park.
Welch eine Enttäuschung! Ich nörgle, ich weiß, und es tut mir Leid, aber Yosemite entpuppte sich als monumentaler Reinfall. Die Landschaft ist unglaublich, überwältigend schön. Beim ersten Blick auf das Tal zu Füßen des El Capitán, in dem die Felswände steil aufragen und weiße Wasserfälle sich über die Wiesen in der Tiefe ergießen, fragt man sich unwillkürlich, ob man wohl das Zeitliche gesegnet hat und nun im Himmel sei. Fährt man dann jedoch weiter ins Yosemite Village, begreift man, dass man sich bis in alle Ewigkeit in der Gesellschaft fetter Leute in Bermudashorts befinden wird, wenn dies der Himmel sein sollte.
Yosemite ist ein ziemlich verkorkster Nationalpark. Die Arbeit des amerikanischen National Parks Service – das möchte ich an dieser Stelle offen sagen – lässt in vielen Nationalparks vieles zu wünschen übrig. Das ist eigentlich erstaunlich, denn im Allgemeinen ist das Freizeitangebot in Amerika tausendmal besser als sonst irgendwo. Das gilt nicht für Nationalparks. Die Visitors’ Centres sind überwiegend langweilig, die Restaurants sind grundsätzlich mies und teuer, und meistens fährt man wieder ab und hat so gut wie nichts über die Tierwelt, die Geologie und die Geschichte des Ortes gelernt, den zu sehen man Hunderte von Meilen zurückgelegt hat. Sinn und Zweck der Nationalparks ist es, einen Teil der amerikanischen Wildnis zu bewahren; in vielen Parks hat sich jedoch die Zahl der wild lebenden Tiere verringert. Im Yellowstone gibt es keine Wölfe und keine Pumas mehr, und der Bestand an Bibern und Dickhornschafen ist dramatisch zurückgegangen. Außerhalb von Yellowstone ist ihr Bestand gesichert, aber im Verantwortungsbereich der Parkverwaltung sind diese Tiere ausgestorben.
Die Inkompetenz hat innerhalb des National Parks Service eine lange Tradition. In den sechziger Jahren bot der Parks Service der Walt Disney Corporation an, den Sequoia National Park zu erschließen. Stellen Sie sich das vor! Der Plan wurde glücklicherweise aufgegeben. Dafür realisierte man andere. So ließ man 1923, nach langwierigen Auseinandersetzungen zwischen Umweltschützern und Geschäftsleuten, das Hetch Hetchy Valley im nördlichen Teil von Yosemite – von dem es hieß, es sei noch spektakulärer als das Yosemite Valley selbst – überfluten, um ein Trinkwasserreservoir für San Francisco, 150 Meilen westlich von Yosemite, zu schaffen. Damit steht seit mehr als sechzig Jahren eine von vielleicht einem halben Dutzend der atemberaubendsten Landschaften dieses Planeten aus kommerziellen Gründen unter Wasser. Nicht auszudenken, was passiert, wenn man dort auf Öl stößt.
Das große Problem in Yosemite ist heute, sich dort zurechtzufinden. Ich habe noch nie einen Ort gesehen, der so schlecht beschildert war. Man könnte meinen, der Park sollte vor den Besuchern versteckt werden. In den meisten Parks steuert man als Erstes das Visitors’ Centre an, um sich anhand der großen Übersichtskarte zu orientieren und zu entscheiden, was man sich ansehen möchte. Doch in Yosemite ist das Visitors’ Centre fast unauffindbar. Fünfundzwanzig Minuten lang irrte ich durch Yosemite Village, bevor ich einen Parkplatz entdeckte, und dann kostete es mich noch einmal zwanzig Minuten und einen langen Fußmarsch in die falsche Richtung, bis ich endlich vor dem Visitors’ Centre stand. Bis dahin kannte ich mich allerdings im Dorf schon so gut aus, dass ich keine Übersichtskarte mehr brauchte.
Überall war es hoffnungslos überfüllt – in den Cafeterias, im Postamt, in den Geschäften. Welch ein Gedränge mag dort erst im August herrschen, wenn das Dorf schon jetzt, im April, aus allen Nähten platzte! Noch nie war ich an einem Ort gewesen, der zugleich so schön und so schrecklich war. Ich machte einen langen Spaziergang, sah mir die Wasserfälle an, genoss die Landschaft und verbrachte letztendlich einen herrlichen Nachmittag. Trotzdem bin ich davon überzeugt, dass man dort einiges besser machen kann.
Während die Sonne friedlich unterging, folgte ich den gewundenen Gebirgsstraßen nach Sonora. Ich erreichte die Stadt nach Einbruch der Dunkelheit und hatte Mühe, ein Zimmer zu finden. Obwohl es ein normaler Wochentag war, waren die meisten Unterkünfte belegt. Schließlich nahm ich ein Zimmer in einem völlig überteuerten Motel. Der Fernsehempfang war miserabel. Die Leute auf dem Bildschirm sahen aus, als bewegten sie sich vor einem Zerrspiegel. Während ihre Körper schon über die Mattscheibe liefen, folgten ihre Köpfe erst einen Moment später, als würden sie an einem Gummiband hinterhergezogen. Und dafür bezahlte ich nun 42 Dollar. Das Bett erinnerte an einen mit Bettwäsche bezogenen Billardtisch. Und an der Toilettenbrille fehlte der Papierstreifen mit der Aufschrift »Zu Ihrem Schutz desinfiziert«. Also verweigerte man mir auch noch die Ausübung meines täglichen Rituals, das Band mit den Worten »Hiermit erkläre ich diese Toilette für eröffnet« zu zerschneiden. Wenn man eine Weile allein unterwegs ist, misst man solchen Dingen enorme Bedeutung bei. Verdrießlich fuhr ich in die Stadt und setzte mich in ein billiges Restaurant, um zu Abend zu essen. Die Kellnerin ließ lange auf sich warten, bevor sie meine Bestellung aufnahm. Sie war auf ordinäre Weise aufgetakelt und hatte die störende Angewohnheit, alles zu wiederholen, was ich ihr sagte.
»Ich hätte gern das Hühnchensteak.«
»Sie hätten gern das Hühnchensteak?«
»Ja. Und dazu bitte Pommes frites.«
»Und dazu Pommes frites?«
»Ja. Und dazu hätte ich gern einen Salat mit Thousand-Island-Dressing.«
»Und dazu einen Salat mit Thousand-Island-Dressing?«
»Ja. Und eine Cola, bitte.«
»Und eine Cola?«
»Entschuldigen Sie, Miss, aber ich hatte heute einen schlechten Tag, und wenn Sie nicht sofort aufhören, alles zu wiederholen, was ich sage, dann werde ich diese Ketchup-Flasche nehmen und den Inhalt über ihre Bluse spritzen.«
»Sie werden diese Ketchup-Flasche nehmen und den Inhalt über meine Bluse spritzen?«
Ich habe ihr nicht wirklich mit Ketchup gedroht – es war ja immerhin möglich, dass sie einen starken Freund hatte, der mich dann verprügeln würde; außerdem hat mir einmal eine Kellnerin erzählt, dass sie, jedes Mal wenn ein Gast ihr frech kommt, in die Küche geht und in sein Essen spuckt. Seitdem behandele ich Kellnerinnen immer mit ausgesuchter Höflichkeit und lasse nie Essen zurückgehen, auch nicht, wenn es noch nicht gar ist (dann spuckt nämlich der Koch hinein, wissen Sie) –, aber ich war in einer so schlechten Stimmung, dass ich meinen Kaugummi in den Aschenbecher warf, ohne ihn vorher in ein Stück Serviette zu wickeln, wie meine Mutter es mich gelehrt hat. Ich drückte ihn mit dem Daumen fest an, damit er nicht von selbst herausfallen würde, wenn sie den Aschenbecher leeren wollten. Sie mussten ihn schon mit einer Gabel herauskratzen. Danach fühlte ich mich besser.
Am nächsten Morgen fuhr ich von Sonora über den Highway 49 in Richtung Norden und fragte mich, was dieser Tag wohl bringen würde. Ich wollte die Sierra Nevada durchqueren und weiter nach Osten fahren, doch viele der Pässe waren noch gesperrt. Wie sich herausstellte, schlängelte sich der Highway 49 kurvenreich durch eine reizvolle Hügellandschaft. Kleine Wäldchen und Pferdekoppeln säumten die Straße, und gelegentlich kam ich an einem alten Bauernhaus vorbei. Kaum ein Anzeichen verriet jedoch, dass die Gegend landwirtschaftlich genutzt wurde. Die Ortschaften entlang der Straße – Tuttletown, Melones, Angel’s Camp – waren einst die Schauplätze des kalifornischen Goldrausches. Als 1848 ein Mann namens James Marshall im Sutter Creek unweit der Straße einen Klumpen Gold fand, drehten die Leute durch. Fast über Nacht strömten 40 000 Goldsucher in den Staat, und innerhalb von gut zehn Jahren, zwischen 1847 und 1860, stieg die Bevölkerung Kaliforniens von 15 000 auf annähernd 400 000 Einwohner. Einige der Städte wurden in dem Zustand jener Jahre konserviert – in dieser Hinsicht hat auch Sonora seine Qualitäten –, dennoch ist nicht viel geblieben, das noch von dem größten Goldrausch der Geschichte zeugt. Das mag vor allem daran liegen, dass die meisten Leute damals in Zelten gelebt haben, mit denen sie weiterzogen, sobald die Goldadern versiegt waren. Nun boten die Städtchen fast durchweg das gewohnte Bild – Tankstellen, Motels und Hamburger-Ketten. Es war Anywhere, USA.
In Jackson fand ich heraus, dass der Highway 88 durch die Berge geöffnet war – die erste offene Straße durch die Sierra Nevada seit fast 300 Meilen. Ich nutzte meine Chance. Ich hatte befürchtet, erst über den vorletzten Pass, den berüchtigten Donner Pass, über die Berge zu kommen. 1846 saß eine Gruppe von Siedlern während eines Schneesturms wochenlang auf dem Donner Pass fest. Sie konnten nur überleben, weil sie sich von ihren Toten ernährt hatten, was damals großes Aufsehen erregte. Der Anführer der Gruppe hieß Donner. Ich weiß nicht, was aus ihm geworden ist, aber ich wette, er musste derbe Sprüche über sich ergehen lassen, wann immer er danach ein Restaurant betrat. Wie dem auch sei, sein Name steht auf allen Landkarten. Durch den Donner Pass führte auch die erste transkontinentale Eisenbahn, die Southern Pacific, und der erste transkontinentale Highway, die alte Route 40, der Lincoln Highway, auf der 3000 Meilen langen Strecke von New York nach San Francisco. Wie die Route 66 im Süden wurde auch die Route 40 erbarmungslos aufgerissen und in einen öden Interstate Highway verwandelt, und ich war froh, eine offene Nebenstrecke durch die Berge gefunden zu haben.
Die Fahrt war sehr angenehm. Ich fuhr durch Kiefernwälder, die manchmal für längere Zeit den Blick auf menschenleere Täler freigaben, überquerte den Mokelumne Peak (2844 Meter) und steuerte auf Lake Tahoe und Carson City zu. Die Straße führte steil bergauf, so dass es fast den ganzen Nachmittag dauerte, bis die rund hundert Meilen bis zur Grenze von Nevada hinter mir lagen. In der Nähe von Woodfords erreichte ich den Toiyabe National Forest oder was von ihm noch übrig war. Meile für Meile sah ich nichts als verkohltes Land, mit Baumstümpfen übersäte Berghänge aus toter Erde. Hin und wieder kam ich an einem unbeschadeten Haus vorbei, um das man eine Feuerschneise gegraben hatte. In diesem Meer von schwarzen Stümpfen war ein Haus mit einer Schaukel und einem Plantschbecken ein seltsamer Anblick. Vor etwa einem Jahr mussten sich seine Bewohner noch für die glücklichsten Menschen auf Erden gehalten haben, weil sie in den Wäldern dieser Berge leben konnten, umgeben von Schatten spendenden, duftenden Kiefern. Und nun lebten sie in einer Mondlandschaft. Bald würde man damit beginnen, den Wald wieder aufzuforsten, und sie könnten für den Rest ihres Lebens zusehen, wie er Zentimeter für Zentimeter wächst.
Eine Verwüstung von solchem Ausmaß hatte ich noch nicht gesehen. Und ich konnte mich nicht erinnern, von diesem Waldbrand gehört zu haben. Aber so ist das in Amerika. Das Land ist so groß, dass es Katastrophen einfach absorbiert. Sie werden von der Weite geschluckt. Immer wieder hatte ich auf dieser Reise Berichte über Unglücksfälle gesehen, die sich anderswo als grauenhafte Tragödien in den Schlagzeilen wiedergefunden hätten – bei einer Überschwemmung im Süden kamen zwölf Menschen ums Leben, in Texas starben zehn Menschen, als das Dach eines Restaurants einstürzte, im Osten forderte ein Schneesturm zweiundzwanzig Menschenleben –, und jeder dieser Berichte wurde kurz und knapp als unterhaltsame Abwechslung zwischen Werbespots für Hämorrhoidensalben und Hüttenkäse gesendet. Zum einen liegt das sicherlich an der forsch-fröhlichen Oberflächlichkeit, die die Nachrichtensprecher lokaler Fernsehsender an den Tag legen, vor allem aber liegt es an der Weite des Landes. In Kalifornien schenkt man Katastrophenmeldungen aus Florida dieselbe Aufmerksamkeit, wie man sie in Großbritannien Katastrophenmeldungen aus Italien entgegenbringt – sie haben einen morbiden Unterhaltungswert und sind schnell vergessen. Die Tragödien sind zu weit entfernt, um persönliche Betroffenheit auszulösen.
Zehn Meilen südlich des Lake Tahoe passierte ich die Staatsgrenze von Nevada. Las Vegas steckte mir noch so sehr in den Knochen, dass ich keine Lust verspürte, mich in den nächsten Sündenpfuhl zu stürzen. Später erfuhr ich jedoch, dass Tahoe ausgesprochen hübsch sein soll, nicht zu vergleichen mit Las Vegas. Das werde ich nun wohl nicht mehr herausfinden. Dafür habe ich entdeckt, dass Carson City so ungefähr die nichtssagendste Kleinstadt ist, in die ich je meinen Fuß gesetzt habe. Es ist die Hauptstadt von Nevada, besteht aber aus nicht viel mehr als aus Pizza Huts, Tankstellen und schäbigen Kasinos.
Ich verließ Carson City über die US 50 und fuhr, vorbei an Virginia City, in Richtung Silver Springs. Nun befand ich mich mehr oder weniger auf dem Teil der Landkarte, der im Vorspann von Bonanza immer in Flammen aufgeht. Sie entsinnen sich? Ich habe die Serie seit Jahren nicht mehr gesehen, aber ich kann mich gut daran erinnern, dass Pa und Hoss und Little Joe und der mürrische Typ, dessen Namen ich vergessen habe, in einer fruchtbaren, üppigen Gegend lebten. Doch diese Landschaft bestand aus zementfarbenen Ebenen und kargen Hügeln, in denen ich kaum eine menschliche Behausung entdeckte. Vom Himmel bis zum Erdboden war alles grau. Und mit einer solchen Landschaft würde ich es die nächsten zwei Tage zu tun haben.
Sich einen noch gottverlasseneren und freudloseren Staat als Nevada vorzustellen, ist nicht leicht. Auf einem Gebiet, so groß wie Großbritannien und Irland zusammen, leben lediglich 800 000 Menschen. Fast die Hälfte der Einwohner verteilt sich auf die Städte Las Vegas und Reno. Der Rest des Staates steht zum großen Teil ganz einfach leer. Im gesamten Staat gibt es ganze siebzig Städte – zum Vergleich: auf den britischen Inseln sind es 40 000 –, und viele dieser Städte liegen fernab jeglicher Zivilisation. Eureka beispielsweise, eine Stadt mit 1200 Einwohnern in der Mitte des Staates, befindet sich in jeder Richtung 100 Meilen von der nächsten Stadt entfernt. Das Eureka County, ein Gebiet von mehreren Tausend Quadratmeilen, verfügt über nur drei Städte und eine Gesamtbevölkerung von weniger als 2500 Einwohnern.
Eine Weile zuckelte ich durch die beängstigende Leere. Ab Fallon folgte ich einer Nebenstraße bis in eine Gegend, die auf der Karte den Namen Humboldt Sink trug. Dort fuhr ich dankbar auf die Interstate 80. Das war zwar feige, schien mir aber sicherer, denn seit ein paar Tagen gab der Wagen hin und wieder merkwürdige Geräusche von sich – so etwas wie ein schwaches poch-poch-oh-Gott-hilf-mir-poch-ich-sterbeoh-Gott-oh-Gott-poch-Geräusch. Ein Geräusch jedenfalls, das im Kapitel »Fehlerbeseitigung« des Chevette-Handbuchs nicht erwähnt wurde. Mir graute davor, in dieser staubigen Gegend eine Panne zu haben und tagelang in einem gottverlassenen Nest festzusitzen und auf Ersatzteile warten zu müssen, die mit dem wöchentlichen Greyhound-Bus aus Reno geliefert würden. Der Highway 50, die nächstgelegene Alternativroute zur Interstate, hätte einen Umweg von 150 Meilen über Utah bedeutet. Ich wollte eine nördlichere Route durch Montana und Wyoming – das Land des »Big Sky« – nehmen. Also fuhr ich mit einiger Erleichterung auf die Interstate, die allerdings ebenfalls erstaunlich leer war – im Allgemeinen sah ich gerade ein Auto weit vor mir und ein anderes weit hinter mir –, wenn man bedenkt, dass es sich um die Hauptverkehrsader von der Ost- an die Westküste Amerikas handelte. Mit einem entsprechend großen Benzintank und einer ebenso großen Blase könnte man tatsächlich die ganze Strecke von New York bis nach San Francisco durchfahren, ohne auch nur einmal anzuhalten.
In Winnemucca legte ich eine Pause ein. Ich ließ den Wagen volltanken, trank eine Tasse Kaffee und rief meine Mutter an, um ihr mitzuteilen, dass ich noch am Leben war und noch genügend saubere Unterwäsche hatte – eine der ständigen Sorgen meiner Mutter. Nachdem ich sie in dieser Hinsicht beruhigt hatte, versicherte sie mir, ihr Geld nicht leichtfertig dem International Guppy Institute oder einer ähnlichen Einrichtung vermacht zu haben (ich hätte das gern überprüft!). So konnte jeder von uns leichten Herzens den Rest des Tages verbringen.
In der Telefonzelle hing ein Plakat mit dem Foto einer jungen Frau. Darüber stand: »Haben Sie dieses Mädchen gesehen?« Sie war attraktiv und wirkte jugendlich und glücklich. Auf dem Plakat hieß es, sie wäre neunzehn Jahre alt und hätte sich kurz vor Weihnachten auf der Heimreise von Boston nach San Francisco befunden, als sie verschwand. Unterwegs hatte sie ihre Eltern aus Winnemucca angerufen und ihnen mitgeteilt, dass sie am Nachmittag des folgenden Tages bei ihnen eintreffen würde. Seitdem hatte niemand mehr etwas von ihr gehört. Mit ziemlicher Sicherheit lag sie irgendwo da draußen tot in der großen, leeren Wüste. Einen Mord zu begehen ist in Amerika entsetzlich einfach. Man bringt einen Fremden um, lässt die Leiche irgendwo liegen, wo sie nie jemand findet und ist schon 2000 Meilen weit weg, bevor das Opfer auch nur vermisst wird. Schätzungen zufolge laufen im ganzen Land Tag für Tag durchschnittlich zwölf bis fünfzehn Serienmörder frei herum. Sie ziehen von einem Ort zum anderen, greifen sich wahllos ihre Opfer und verschwinden wieder. Sie hinterlassen kaum Spuren und verraten und keine Motive. Als einige Jahre zuvor an einem Sonntagnachmittag in Downtown Des Moines ein paar Jugendliche das Büro eines ihrer Väter sauber machten, kam plötzlich ein Fremder herein, zerrte die Jungs in ein Hinterzimmer und schoss jedem von ihnen einmal in den Kopf. Ohne jeden Grund. Dieser Kerl wurde zufällig gefasst; ebenso gut hätte er sich aber auch in einen anderen Staat davonmachen und seine Tat dort wiederholen können. Jahr für Jahr bleiben in Amerika 5000 Morde unaufgeklärt.
Ich übernachtete in Wells, Nevada – die jämmerlichste, zwielichtigste, schäbigste Stadt, die ich je gesehen habe. Die wenigsten Straßen waren asphaltiert, und zumeist standen verbeulte Wohnwagen zu beiden Seiten. Jedermann in der Stadt schien alte Autos zu sammeln. In jedem Garten rosteten sie vor sich hin. Scheinbar alles in dieser Stadt existierte am Rande des Verfalls. Die paar Gewerbebetriebe, die Wells aufzuweisen hatte, lebten von dem Durchgangsverkehr auf der Interstate 80. Doch auch von den wenigen Truck Stops und Motels waren viele geschlossen, und die, die noch in Betrieb waren, standen offensichtlich kurz vor dem Bankrott. Fast an jedem Motelschild fehlten mehrere Buchstaben, so las ich »Lone St r Mot 1 – V can y«. Vor dem Abendessen machte ich einen Bummel durch das Geschäftsviertel. Es bestand überwiegend aus aufgegebenen Geschäften. Nur ein Drugstore, eine Tankstelle, ein Trailways-Omnibusdepot und das Overland Hotel – nein, H tel – hatten den Betrieb noch nicht eingestellt. Und es wimmelte von Hunden. Sie schnüffelten in den Türeingängen herum und pinkelten an so ziemlich alles, was ihnen in die Quere kam. Außerdem war es kalt. Die Sonne ging gerade hinter den fernen, kantigen Gipfeln der Jackson Mountains unter, und eine durchdringende Kühle lag in der Luft. Ich schlug meinen Kragen hoch und trottete zu der eine halbe Meile entfernten Kreuzung von Interstate und US 93, um die sich ein paar florierende Truck Stops gruppiert hatten und eine Insel aus Licht in der rötlichen Dämmerung bildeten.
Ich ging in das Lokal, das mir das beste zu sein schien. Unter seinem Dach beherbergte es einen Souvenirladen, ein Restaurant, ein Kasino und eine Bar. Das kleine Kasino bestand aus nur einem Raum mit mehreren Dutzend Spielautomaten, meistens für Fünfcentstücke. Das Restaurant war überfüllt und verraucht. Stimmengewirr erfüllte den Raum, und aus der Musikbox drang das Geklimper von Hawaiigitarren. Abgesehen von ein paar Frauen war ich der einzige unter den Gästen, der keinen Cowboyhut trug.
Ich setzte mich in eine Nische und bestellte Brathähnchen. Die Kellnerin war wirklich freundlich, aber ihre Hände und Arme waren mit kleinen, offenen Wunden übersät, und sie hatte nur ungefähr drei Zähne. Ihre Schürze sah aus, als hätte sie den ganzen Nachmittag Ferkel geschlachtet, was mir, ehrlich gesagt, ein wenig den Appetit verdarb. Und dann brachte sie mein Abendessen, und mein Appetit war vollends dahin.
Es war mit Abstand das schlechteste Essen, das man mir in Amerika jemals vorgesetzt hat. Schlechter als das Essen in Krankenhäusern, Tankstellen und Flughafenrestaurants. Noch miserabler als das Essen in Greyhound-Busbahnhöfen und der Mittagstisch bei Woolworth. Es war sogar noch ungenießbarer als das Gebäck, das man an den Automaten im Register and Tribune Building in Des Moines ziehen konnte, und das schmeckte schon, als hätte sich jemand darüber erbrochen. Dieses Essen war einfach grauenhaft, und dennoch schaufelten die übrigen Gäste es in sich hinein, als gäbe es kein morgen. Ich stocherte eine Weile darin herum – schwabbeliges Brathähnchen, Kopfsalat mit schwarzen Adern, Pommes frites, die wie Albinoschnecken aussahen – und gab dann auf. Ich schob den Teller beiseite und bereute, das Rauchen aufgegeben zu haben. Als sie sah, wie viel ich übrig gelassen hatte, fragte mich die Kellnerin, ob sie mir den Rest einpacken solle.
»Nein danke«, sagte ich und lächelte schwach, »ich glaube nicht, dass ich einen Hund finden würde, der das frisst.«
Wenn ich es mir recht überlege, kann ich mich doch an ein kulinarisches Erlebnis erinnern, das noch entmutigender war als mein Abendessen in Wells, nämlich das Mittagessen im Speisesaal der Callanan Junior High School in Des Moines. Der Speisesaal im Callanan erinnerte an die Kulisse eines Gefängnisfilms. In langen Reihen schlurften wir schweigend zur Essensausgabe, wo man unsere Näpfe mit formlosen Klumpen füllte. Die Frauen an der Essensausgabe sahen aus wie Insassen einer psychiatrischen Anstalt, die man freigestellt hatte, damit sie in öffentlichen Schulen das Essen vergifteten. Das Essen war nicht nur unansehnlich, es war undefinierbar. Hinzu kam die ständige Anwesenheit des stellvertretenden Rektors, Mr. Snoyd, der stets um uns herumschlich und nur darauf wartete, dass er einen von uns seinem Tischnachbarn zuflüstern hörte: »Sag mal, was ist das heute wieder für ein Fraß?«, damit er ihn am Kragen packen und in sein Büro abführen konnte. Eine Mahlzeit im Callanan war, als ließe man sich den Magen im Rückwärtsgang auspumpen. Hungrig und höchst unzufrieden ging ich zum Motel zurück, sah ein wenig fern und las. Schließlich fiel ich in diesen unruhigen Schlaf, der einen überkommt, wenn der ganze Körper schläfrig ist und nur der Magen rebelliert: »WO ZUM TEUFEL IST MEIN ABENDESSEN? HEY, BILL, HÖRST DU MICH? WO ZUM TEUFEL BLEIBT MEINE ABENDRATION AN NÄHRWERTEN?«