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Ich war auf dem Weg nach Nebraska. Der Staat Nebraska muss der langweiligste aller Staaten sein (ein Satz, von dem ich nur hoffen kann, ihn nicht allzu oft benutzen zu müssen). Verglichen mit Nebraska ist Iowa ein Paradies. Iowa ist wenigstens fruchtbar und grün und besitzt einen Berg. Nebraska ist nichts als ein 75 000 Quadratmeilen großes, kahles Stück Erde. Mitten durch den Staat fließt der Platte River, der zeitweise auf eine Breite von zwei, drei Meilen anschwillt. Er beeindruckt jedoch nur so lange, bis man merkt, dass er ganze zehn Zentimeter tief ist. Man könnte ihn in einem Rollstuhl durchqueren. In einer so vollkommen flachen Landschaft liegt der Platte einfach nur da wie ein über einen Tisch verschüttetes Getränk. Und er ist noch das Aufregendste, das dieser Staat zu bieten hat.
Als ich älter wurde, habe ich mich oft gefragt, wieso sich überhaupt Menschen in Nebraska niedergelassen haben. Was ich sagen will: Die ersten Siedler sind mit ihren Planwagen quer durch Amerika gezogen und müssen auch durch Iowa gekommen sein, durch das grüne, fruchtbare Iowa, in dem es, wie gesagt, sogar einen Berg gibt. Und was tun sie? Kurz bevor sie das grüne, fruchtbare Colorado erreicht haben, durch das sich eine ganze Gebirgskette zieht, lassen sie sich ausgerechnet in dieser platten, braunen, stoppeligen Gegend voller Präriehunde nieder. Das will mir einfach nicht in den Kopf. Wissen Sie, woraus die ersten Siedler ihre Häuser bauten? Aus getrocknetem Schlamm. Und was passierte mit diesen Schlammhäusern, sobald die alljährliche Regenzeit losbrach? Genau, sie wurden geradewegs in den Platte River gespült.
Lange Zeit war ich mir im Unklaren, ob die ersten Siedler in Nebraska verrückt oder einfach nur dumm waren. Dann erlebte ich an einem Samstag ein Footballstadion voller Fans der University of Nebraska und begriff, dass sie wohl beides gewesen sein müssen. Vielleicht bin ich darin nicht mehr auf dem Laufenden, aber als ich Amerika verließ, spielte die University of Nebraska weniger Football – sie veranstaltete vielmehr allwöchentlich ein rituelles Schlachtfest, bei dem sie ihre glücklosen Gegner mit Punkteständen wie 58:3 in Grund und Boden stampfte. Die meisten Schulen schicken dagegen einen Trupp magerer Erstsemester aufs Spielfeld, sobald sie ihre Führung ausgebaut haben. Sie lassen sie in ihrem blitzsauberen Mannschaftsdress ein bisschen über das Feld rennen, zum einen, damit auch sie ein wenig schmutzig werden, vor allem aber, um den Verlierern die Chance zu geben, ihr Punktekonto auf einen erträglichen Endstand zu bringen. Das nennt man Fair Play.
Nicht so in Nebraska. Die University of Nebraska würde Flammenwerfer einsetzen, wenn es erlaubt wäre. Nebraska beim Footballspielen zuzusehen war, als würde man Hyänen dabei beobachten, wie sie über eine Gazelle herfielen. Es war anstößig und unsportlich. Und natürlich konnten die Fans nicht genug davon bekommen. Bei einem Spielstand von 66:0 mitten unter ihnen zu sitzen und mitzuerleben, wie sie nach immer mehr Blut schrien, war äußerst beängstigend, vor allem, wenn man bedenkt, dass vermutlich viele dieser Leute beim Strategic Air Command in Omaha arbeiteten. Sollte der Staat Iowa jemals den Zorn Nebraskas auf sich ziehen, wäre ich ganz und gar nicht überrascht, wenn sie mit Atomwaffen auf uns losgingen. All das ging mir an diesem Morgen durch den Kopf und beunruhigte mich doch ziemlich, wie ich zugeben muss.
Ich war wieder unterwegs. On the road again. Es war kurz nach 7.30 Uhr an einem strahlenden, wenn auch noch recht winterlichen Montagmorgen im April. Ich verließ Des Moines in Richtung Westen über die Interstate 80, um durch die Westhälfte von Iowa zu brausen und mich dann in den Staat Nebraska hineinzuwagen. Doch noch konnte ich Nebraska nicht betreten, nicht so früh am Morgen. Also fuhr ich bei De Soto, nur fünfzehn Meilen westlich von Des Moines, von der Interstate ab und juckelte über die Nebenstraßen. Innerhalb kürzester Zeit hatte ich mich verfahren, was mich nicht im Geringsten wunderte. Schließlich sind wir Brysons darauf spezialisiert, uns zu verfahren.
Wenn mein Vater hinterm Steuer saß, irrte er fast immer hilflos durch die Gegend. Meistens hatte er nur etwas die Orientierung verloren, aber sobald wir uns unserem Ziel näherten, verfuhr er sich hoffnungslos. Im Allgemeinen dauerte es eine Stunde, bis er einsah, dass er nicht mehr nur ohne Orientierung durch die Gegend eierte, sondern sich ganz und gar verfranzt hatte. Eine Stunde lang kurvte er dann in der fremden Stadt herum, bog unversehens rechts, dann wieder links ab, wurde angehupt, weil er in Einbahnstraßen in die falsche Richtung fuhr oder zögernd mitten auf belebten Kreuzungen stehen blieb. Währenddessen machte meine Mutter immer wieder vorsichtig den Vorschlag, wir sollten doch anhalten und jemanden nach dem Weg fragen. Eine Anregung, die mein Vater geflissentlich überhörte. Stattdessen kurvte er nur noch verbissener durch die Straßen, in diesem fast zwanghaften Geisteszustand, in den Väter leicht verfallen, wenn die Dinge nicht so laufen, wie sie sollen.
Nachdem er dann so oft in der falschen Richtung durch ein und dieselbe Einbahnstraße gefahren war, dass die Händler in die Türen ihrer Läden traten, um das Geschehen zu verfolgen, hielt Dad endlich am Straßenrand und verkündete ernst: »Es hat keinen Zweck. Wir sollten jemanden nach dem Weg fragen.« Er sagte es in einem Ton, als hätte er die ganze Zeit nichts lieber getan als das.
Wir atmeten erleichtert auf. Leider war es nur selten mehr als ein halber Durchbruch. Denn nun würde entweder meine Mom aus dem Wagen steigen, sich an einen unverkennbar ortsfremden Passanten wenden – für gewöhnlich eine Nonne aus Costa Rica, die im Rahmen eines Austauschprogramms die Stadt besuchte – und mit einer hoffnungslos verworrenen Wegbeschreibung zurückkommen, oder mein Vater würde aus dem Wagen steigen und überhaupt nicht zurückkommen. Mein Vater war nämlich ein großer Schwätzer, was bei Leuten, die sich häufig verfahren, zu einem Problem werden kann. Auf der Suche nach jemandem, der ihm den Weg zum Giant Fungus State Park beschreiben konnte, würde er in ein Café gehen, in aller Ruhe eine Tasse Kaffee trinken und mit dem Besitzer ein Schwätzchen halten. Oder der Besitzer würde ihn in seinen Keller führen, um ihm seinen neuen Klärbehälter oder Ähnliches zu zeigen. In der Zwischenzeit saßen wir im langsam vor sich hin schmorenden Auto, wo uns nichts anderes zu tun übrig blieb, als zu schwitzen und zu warten und teilnahmslos einem Fliegenpärchen zuzusehen, das auf dem Armaturenbrett kopulierte.
Irgendwann tauchte mein Vater dann wieder auf, wischte sich ein paar Krümel vom Mund und sah richtig munter aus. »Verflixt nochmal«, würde er durchs offene Autofenster zu meiner Mutter sagen, »da drin sammelt einer falsche Zähne. Er hat über 700 in seinem Keller. Der war so froh, dass er sie mal jemandem zeigen konnte, dass ich unmöglich Nein sagen konnte. Und dann wollte seine Frau unbedingt, dass ich ein Stück Blaubeertorte esse und mir die Fotos von der Hochzeit ihrer Tochter ansehe. Den Giant Fungus State Park kennen sie auch nicht, aber der Mann sagte, sein Bruder in der Conoco-Tankstelle an der Ampel dahinten wüsste bestimmt Bescheid. Der sammelt übrigens Keilriemen und hat die größte Sammlung von Keilriemen aus der Vorkriegszeit im nördlichen Mittleren Westen. Da gehe ich mal eben hin.« Und bevor einer von uns ihn daran hindern konnte, war er schon verschwunden. Als wir ihn dann endlich wieder zu Gesicht bekamen, kannte mein Vater die halbe Stadt, und die Fliegen auf dem Armaturenbrett hatten einen Wurf Junge zur Welt gebracht.
Schließlich fand ich, wonach ich gesucht hatte: Winterset, der Geburtsort von John Wayne. Nun musste ich nur noch sein Haus ausfindig machen. Das Städtchen ist jedoch so klein, dass ich schon eine Minute später davorstand. Ich besah es mir vom Auto aus. Es war winzig, und die Farbe blätterte ab. Wayne – Marion Morrison, wie er damals hieß – lebte dort nur ungefähr ein Jahr lang, dann siedelte seine Familie nach Kalifornien um. Inzwischen ist das Haus ein Museum, das allerdings an jenem Tag geschlossen war. Das überraschte mich nicht sonderlich, denn in Winterset war so ziemlich alles geschlossen, und zwar zum Teil endgültig, wie mir schien. Das Iowa Movie Theater war eindeutig nicht mehr in Betrieb. Auf seiner Anzeigetafel herrschte gähnende Leere. Und auch viele Geschäfte wirkten verlassen und aufgegeben. Ein deprimierender Anblick, denn Winterset mit seinem Gerichtsgebäude und den langen, von viktorianischen Häusern gesäumten Straßen war ein wirklich hübsches kleines Städtchen. Jede Wette, dass es hier, wie in Winfield, vor fünfzehn oder zwanzig Jahren noch ganz anders ausgesehen hat. Mit einem Gefühl der Leere fuhr ich zum Highway zurück.
In jeder Stadt, durch die ich kam, bot sich mir dasselbe Bild – abblätternde Farbe, verlassene Geschäfte, Totenstille. Es war nicht zu übersehen, dass der Südwesten Iowas von jeher der ärmste Teil des Staates war. Ich fuhr durch, ohne anzuhalten, denn es gab nichts, das das Anhalten lohnte. Ich entdeckte nicht einmal ein Lokal, in dem ich eine Tasse Kaffee hätte trinken können. Schließlich fand ich mich ganz unerwartet auf einer Brücke über dem Missouri wieder, und dann war ich in Nebraska City, in Nebraska. Und was ich sah, gefiel mir. Es war sogar ausgesprochen nett – viel angenehmer als in Iowa, wie ich beschämt gestehen muss. Die Städte wirkten wohlhabender und gepflegter, und überall standen Sträucher am Straßenrand, aus denen eine verschwenderische Fülle cremefarbener Blüten hervorquoll. Es war alles wirklich hübsch, allerdings auf eine ziemlich eintönige Art und Weise. Genau das ist das Problem in Nebraska. Was es auch ist, es nimmt kein Ende, so dass auch die angenehmen Dinge bald langweilig werden. Ich fuhr stundenlang – vorbei an Auburn, Tecumseh, Beatrice (eine Stadt mit knapp 10 000 Einwohnern, die immerhin zwei Hollywoodstars hervorgebracht hat: Harold Lloyd und Robert Taylor), Fairbury, Hebron, Deshler, Ruskin.
In Deshler legte ich eine Kaffeepause ein und war überrascht, wie kalt es war. Was das Wetter angeht, vereint der Mittlere Westen die Schattenseiten beider Hemisphären. Im Winter weht ein schneidender Wind aus der Arktis herüber. Er heult und wirbelt ums Haus und rüttelt an den Fensterläden. Er bringt haufenweise Schnee und eisige Kälte. Von November bis März muss man sich so sehr gegen den Wind stemmen, dass man sich nur in einem Winkel von zwanzig Grad vornüber gebeugt vorwärts bewegen kann. Man verbringt seine Zeit damit, das Auto aus Schneewehen freizuschaufeln oder Eis von den Fenstern zu kratzen, das mit Sekundenkleber am Glas zu haften scheint, und dann dauert es noch Stunden, bis es im Inneren des Wagens halbwegs warm wird. Und eines Tages kommt der Frühling. Der Schnee schmilzt, man läuft in Hemdsärmeln herum und hält das Gesicht in die Sonne. Und plötzlich ist der Frühling vorbei, und der Sommer ist da, einfach so, als hätte der liebe Gott im himmlischen Kraftwerk auf einen Knopf gedrückt. Nun strömt das Klima aus der anderen Richtung herüber; aus den Tropen im weit entfernten Süden, und es ist, als pralle man gegen eine Wand aus Hitze. Sechs Monate steht die Hitze über dem Land. Der Schweiß rinnt aus allen Poren. Das Gras verdorrt. Und die Hunde sehen aus, als würden sie am liebsten sterben. Läuft man durch Downtown, spürt man, wie die Glut des Asphalts durch die Schuhsohlen dringt. Wenn man dann meint, es nicht mehr aushalten zu können, ist es plötzlich Herbst, und für zwei oder drei Wochen zeigt sich die Natur von ihrer freundlichen Seite. Und dann kommt der Winter, und der Kreislauf beginnt von vorn. Und du denkst: »Wenn ich groß bin, gehe ich weit, weit fort von hier.«
In Red Cloud, der Heimatstadt von Willa Cather, fuhr ich auf die US 281 in Richtung Kansas. Gleich hinter der Staatsgrenze liegt Smith Center, die Heimatstadt von Dr. Brewster M. Higley, aus dessen Feder Home on the Range stammt. Wer hätte gedacht, dass Home on the Range von jemandem mit dem Namen Brewster M. Higley verfasst worden ist? Man kann sich die Blockhütte ansehen, in der er es geschrieben hat. Doch ich hatte etwas viel Aufregenderes im Sinn. Ich war auf dem Weg zum geografischen Zentrum der Vereinigten Staaten. Man erreicht es über eine Nebenstraße, die direkt hinter dem Städtchen Lebanon vom Highway abzweigt und etwa eine Meile durch Weizenfelder zu einem verlassenen, kleinen Park führt. Neben einer Reihe von Picknicktischen befindet sich in diesem Park ein steinernes Monument, gekrönt von einer windgepeitschten Fahne und bestückt mit einer Tafel, auf der geschrieben steht, dass dies der Mittelpunkt des Festlands der Vereinigten Staaten ist. Ein geschlossenes Motel neben dem Park verstärkte den Eindruck der Verlassenheit. Anscheinend hatte man es in der Hoffnung gebaut, die Leute würden gern in dieser einsamen Gegend übernachten und ihren Freunden von dort Postkarten mit den Worten »Du errätst nie, wo wir gerade sind!« schicken. Kein Zweifel, der Besitzer des Motels hatte sich gründlich verrechnet.
Ich kletterte auf einen der Picknicktische und konnte meilenweit über die wogenden Felder blicken. Der Wind toste mit der Lautstärke eines Güterzugs um meine Ohren. Es kam mir vor, als wäre seit Jahren niemand mehr an diesem Ort gewesen. Ich stand genau in der Mitte der Vereinigten Staaten, inmitten von 230 Millionen Menschen – ein sonderbares Gefühl. Sollten jetzt von allen Seiten feindliche Truppen in Amerika einmarschieren, wäre ich der letzte, den sie gefangen nähmen. Dies war er, der letzte Gefechtsstand. Als ich vom Tisch sprang und zurück zum Wagen ging, hatte ich ein schlechtes Gewissen, ihn so unbewacht zurückzulassen.
Ich fuhr in die Abenddämmerung. Über den Himmel jagten tief hängende Wolken. Die Landschaft war von seltsamem Reiz, ein Meer aus weißem Gras, so fein wie das Haar eines Kindes. Als ich Russen erreichte, war es schon dunkel, und es regnete. Die Scheinwerfer trafen auf ein Schild mit der Aufschrift WELCOME TO BOB DOLE COUNTRY. Russell ist die Heimatstadt von Bob Dole, der sich damals um die Nominierung zum Präsidentschaftskandidaten der Republikaner bewarb. Ich hielt an und suchte mir ein Zimmer. Sollte Dole zum Präsidenten gewählt werden, könnte ich meinen Kindern erzählen, dass ich einmal in seiner Heimatstadt übernachtet habe. Vielleicht würde ihnen das ein wenig mehr Respekt vor mir einflößen. Außerdem könnte ich jedes Mal, wenn Russell im Laufe der folgenden vier Jahre im Fernsehen gezeigt wurde, mit Ausrufen wie »Hey, da war ich auch schon mal!« alle im Raum zum Schweigen bringen und für einen Moment die Aufmerksamkeit auf mich lenken. Leider schied Dole zwei Tage später aus dem Rennen aus, was in erster Linie daran lag, dass ihn niemand ausstehen konnte, abgesehen von seiner Familie und einigen Bürgern von Russell. Die Stadt hatte ihre Chance vertan, berühmt zu werden. Leider.
Der nächste Tag begann vielversprechend. Die Sonne lachte, und die Luft war klar. Insekten explodierten farbenprächtig auf der Windschutzscheibe – im Mittleren Westen ein sicheres Anzeichen für den Frühling. Im Sonnenschein betrachtet, schien Kansas ein angenehmes Fleckchen Erde zu sein, was mich ein wenig erstaunte. Ich hatte immer angenommen, nach Kansas versetzt zu werden wäre so ungefähr das Schlimmste, was einem Menschen passieren kann. Kansas nennt sich selbst »der Weizenstaat«, womit auch schon fast alles gesagt ist. Wer verzichtet bei einem so verlockenden Namen nicht liebend gern auf einen Trip nach Barbados? Aber Kansas war eigentlich auch nicht schlecht. Die Städte an meinem Weg machten einen netten, wohlhabenden und typisch amerikanischen Eindruck. Das war auch nicht anders zu erwarten, schließlich gilt Kansas – die Heimat von Superman und von Dorothy aus Der Zauberer von Oz – als der typischste aller amerikanischen Staaten. Alle Städte, die ich sah, hatten etwas Gemütliches und Zeitloses an sich. Es schienen Orte zu sein, in denen die Lebensmittel noch von einem Jungen auf einem Fahrrad ausgeliefert wurden und wo die Leute noch Redewendungen benutzten wie »By golly« »Potztausend!«) und »Gee willickers« (»Mensch Meier!«).
In Great Bend stellte ich den Wagen neben dem Barton County Courthouse ab und sah mich um. Ich fühlte mich in eine andere Zeit versetzt. In diesem Städtchen schien sich seit 1965 rein gar nichts verändert zu haben. Das Crest Movie Theater war noch in Betrieb. Daneben befand sich das Gebäude der Great Bend Daily Tribune und der Brass Buckle Clothing Store, über dessen Eingang ein Schild mit der Aufschrift FOR GUYS AND GALS hing. Potztausend. Ein Mann und seine Frau kamen mir auf dem Gehsteig entgegen. Sie wünschten mir einen guten Morgen, als wären wir alte Bekannte. Der Mann lüftete sogar seinen Hut. Aus einem Auto drang Musik der Everly Brothers. Das war schon fast zu unheimlich. Ich dachte, jeden Moment müsse Rod Serling hinter einem Baum hervortreten und sagen: »Bill Bryson weiß es nicht, aber er ist an einem Ort gelandet, der weder im Raum noch in der Zeit existiert. Er befindet sich auf einer Einbahnstraße in die ... Twilight Zone.«
Ich betrachtete das Schaufenster einer Apotheke, die gleichzeitig ein Laden für Geschenkartikel war. Unter den ungewöhnlichen Auslagen entdeckte ich einen Rollstuhl, einen Stapel saugfähiger Einwegunterhosen (ein Geschäft, das sich um die Bedürfnisse von Kunden mit Blasenschwäche kümmert, ist wirklich eine Seltenheit), Teddybären, Kaffeebecher mit flotten Sprüchen wie World’s Best Grandma, Glückwunschkarten für jede Gelegenheit und eine Vielzahl von Porzellantieren. In einer Ecke des Fensters hing ein Plakat, das ein Konzert von Paul Revere and the Raiders ankündigte. Ja, ist denn das zu fassen? Da hingen sie wirklich. Wie in den Tagen meiner Kindheit sprangen sie in Soldatenuniformen herum und grinsten. In zwei Wochen würden sie im Civic Auditorium in Dodge City auftreten. Eintrittskarten ab 10,75 Dollar. Mir war das alles nicht geheuer. Schnell ging ich zum Auto zurück und fuhr in Richtung Dodge City, das wenigstens absichtlich unwirklich ist.
Irgendwo auf der siebzig Meilen langen Strecke zwischen Great Bend und Dodge City endet der Mittlere Westen, und der Westen beginnt. Die Leute in den Städten tragen keine Baseballmützen mehr, sondern Cowboyhüte und Cowboystiefel. Sie latschen nicht mehr beschränkt durch die Gegend, wie es für den Mittleren Westen so typisch ist, sondern schreiten festen Schrittes und sehen dabei irgendwie misstrauisch und wachsam aus, als wären sie stets bereit, gleich jemanden zu erschießen, wenn es nötig sein sollte. Die Leute im Westen schießen ausgesprochen gern. Die ersten, die sich dort niederließen, schossen auf Büffel. (Viele Leute werden Ihnen sagen, dass es sich hier nicht um Büffel, sondern um Bisons handelt. Büffel, so die Leute, leben in China und anderen entlegenen Ländern dieser Erde und gehören einer ganz anderen Rasse an. Es sind dieselben Leute, die ihnen weismachen wollen, dass man Geranien nicht Geranien, sondern Pelargonien nennt. Hören Sie einfach nicht hin.) Bis die Bewohner des Westens begannen, sie abzuschlachten, lebten in der Prärie 70 Millionen Büffel. Büffel sind nichts anderes als Kühe mit großen Köpfen. Wer einmal einer Kuh in die Augen geschaut und das unerschütterliche Vertrauen und die unbeschreibliche Dummheit darin erblickt hat, wird sich vorstellen können, welch eine große Heldentat es gewesen sein muss, die Büffel aufzustöbern und abzuknallen. Bis 1895 hatten sie ganze 800 Büffel übrig gelassen. Die meisten gehörten zu Zoos und umherziehenden Wildwestshows. Als es keine Büffel mehr gab, die sie töten konnten, gingen die Westmänner dazu über, auf Indianer zu schießen und reduzierten ihre Zahl zwischen 1850 und 1890 von zwei Millionen auf 90 000. Gottlob haben sich sowohl die Indianer als auch die Büffel zahlenmäßig wieder erholt. Heute leben in Amerika 30 000 Büffel und 300 000 Indianer. Da es inzwischen gesetzlich verboten ist, auf sie zu schießen, bleibt den Leuten nichts anderes übrig, als sich gegenseitig abzuknallen oder Straßenschilder als Zielscheiben zu missbrauchen, was sie denn auch zur Genüge tun. So weit der geschichtliche Abriss über den amerikanischen Westen.
Wenn sie nicht gerade wild um sich schossen, gaben sich die Leute im Wilden Westen in Städten wie Dodge City den verschiedensten Lustbarkeiten hin. In ihrer Blütezeit war Dodge City die größte Viehtreiberstadt und das sündigste Pflaster im Westen. Es wimmelte von Taugenichtsen, Viehtreibern, Büffeljägern und jener Sorte Frauen, die nur ein Cowboy attraktiv finden konnte. Aber ein so heißes und gefährliches Pflaster, wie es uns all die vielen Filme über Bat Masterson und Wyatt Earp glauben machen wollen, ist die Stadt nie gewesen. Zehn Jahre lang war sie der größte Viehmarkt der Welt, nicht mehr und nicht weniger.
In all den Jahren sind auf dem Boot-Hill-Friedhof nur vierunddreißig Menschen beigesetzt worden. Bei den meisten handelte es sich um Landstreicher, die man erfroren im Schnee gefunden hatte, oder um Personen, die eines natürlichen Todes gestorben waren. Das erfuhr ich, als ich 2,75 Dollar investierte, um Boot Hill und die benachbarte »Historic Front Street« zu besichtigen. Letztere präsentierte sich wie in den Tagen, als Dodge City noch eine Grenzstadt und Bat Masterson und Wyatt Earp noch ihre Sheriffs waren. Einen Matt Dillon hat es nie gegeben, wie ich bekümmert feststellen musste. Dafür waren Bat Masterson und Wyatt Earp umso realer. Ich erfuhr, dass Bat Masterson als Sportredakteur des New York Morning Telegraph starb und dass Wyatt Earp ursprünglich aus Pella stammte, der kleinen Stadt mit den vielen Windmühlen in Iowa. Ist das nicht interessant?
Fünfzig Meilen von Dodge City entfernt liegt Holcomb, Kansas, das als Schauplatz der in Truman Capotes Roman Kaltblütig detailliert geschilderten Morde traurige Berühmtheit erlangte. 1959 brachen zwei Schmalspurganoven in das Haus eines wohlhabenden Ranchers namens Herb Clutter ein, weil sie in dessen Safe jede Menge Geld vermuteten. Als sie feststellen mussten, dass der Safe leer war, vergaßen sie sich vor Wut, fesselten Clutters Frau und seine zwei Kinder an die Betten, schleppten ihn in den Keller und brachten die ganze Familie um. Sie schlitzten Clutter die Kehle auf (Capote beschrieb diese Szene beunruhigend genüsslich) und töteten Frau und Kinder mit Kopfschüssen aus nächster Nähe. Da Clutter auf staatspolitischer Ebene eine bekannte Persönlichkeit war, widmete die New York Times dem Verbrechen einen kurzen Artikel. Als Capote den Artikel in die Hände bekam, war er so fasziniert, dass er fünf Jahre lang alle Hauptbeteiligten befragte – Freunde, Nachbarn, Verwandte, die ermittelnden Polizeibeamten und die Mörder selbst. Das Buch erschien 1965 und galt sofort als Klassiker, was vor allem daran lag, dass Capote es als solchen vermarktete. Auf jeden Fall hatte das Buch genug Format, um nachhaltig zu beeindrucken, wie wir damals auf dem College meinten. Mir kam die Idee, es noch einmal zu lesen, bevor ich nach Holcomb fuhr, um vor Ort treffende Beobachtungen über Kriminalität und Gewalt in Amerika anzustellen.
Das hätte ich mir sparen können. Mir wurde bald klar, dass an den Clutter-Morden nichts Besonderes war. Sie würden heute ebenso schockieren wie damals. Auch Capotes Buch hatte nichts Herausragendes. Im Großen und Ganzen war es nichts weiter als eine grausige, sensationslüsterne Mordgeschichte, die auf eine raffiniert ehrbare Weise an die niederen Instinkte ihrer Leser appellierte. Bei einer Fahrt nach Holcomb würde nicht viel mehr herauskommen, als dass mir beim Anblick eines Hauses, in dem vor langer Zeit eine Familie sinnlos niedergemetzelt worden war, ein Schauer des Entsetzens über den Rücken lief. Aber was will man schließlich mehr vom Leben? Zumindest versprach das Mordhaus interessanter zu sein als die Historic Front Street in Dodge City.
Capote stellte Holcomb als staubiges Kaff dar, dessen durch und durch anständige Bürger nicht rauchten, nicht tranken, nicht logen, nicht fluchten und keinen Gottesdienst versäumten, als einen Ort, in dem außerehelicher Sex eine Todsünde und vorehelicher Sex undenkbar war, in dem Kinder unter zwanzig Jahren an jedem Samstagabend punkt elf zu Hause zu sein hatten, in dem Katholiken und Methodisten möglichst jeden Umgang mieden, in dem alle Türen stets unverschlossen blieben und in dem elf- oder zwölfjährige Kinder Autos fahren durften. Aus irgendeinem Grund fand ich die Vorstellung, dass dort Kinder hinterm Steuer saßen, besonders erstaunlich.
In Capotes Buch lag die nächste Stadt, Garden City, fünf Meilen entfernt. Offensichtlich hatte sich seither vieles verändert. Holcomb und Garden City waren inzwischen mehr oder weniger zusammengewachsen, verbunden durch eine Nabelschnur aus Tankstellen und Fastfood-Restaurants. Holcomb war noch immer staubig, aber kein Kaff mehr. Am Stadtrand stand eine riesige Highschool. Sie war unverkennbar jüngeren Datums. Rund um die Highschool gruppierten sich kleine billige Häuschen, ebenfalls Neubauten, in deren Vorgärten barfüßige mexikanische Kinder spielten. Ich fand das Clutter-Haus ohne große Mühe. Während es im Roman hieß, es stünde außerhalb von Holcomb an einer Allee, waren die Baumreihen heute langen Häuserzeilen gewichen. Das Clutter-Haus schien nicht bewohnt zu sein. Die Gardinen waren zugezogen. Ich zögerte lange, trat dann doch vor die Haustür, klopfte an und war erleichtert, als niemand öffnete. Was hätte ich auch sagen sollen? Hallo, ich bin ein Fremder auf der Durchreise und komme, getrieben von einem morbiden Interesse an Aufsehen erregenden Morden, und will wissen, wie es sich in einem Haus lebt, in dem einmal mehreren Menschen das Gehirn aus dem Kopf geblasen wurde? Denken Sie manchmal noch daran, zum Beispiel beim Essen?
Ich stieg wieder ins Auto und machte mich auf die Suche nach Orten, die in Capotes Buch erwähnt wurden. Doch die Geschäfte und Cafés waren entweder verschwunden oder hatten ihre Namen geändert. Vor der Highschool hielt ich an. Der Haupteingang war verschlossen – es war vier Uhr nachmittags –, doch auf dem Sportplatz entdeckte ich einige Schüler beim Leichtathletiktraining. Zwei standen untätig auf dem Gelände herum. Ich ging auf sie zu und fragte sie, ob ich mit ihnen über die Clutter-Morde sprechen könnte. Ich merkte sofort, dass sie nicht wussten, wovon die Rede war.
»Ich meine die Morde aus dem Roman Kaltblütig«, half ich ihnen auf die Sprünge. »Das Buch von Truman Capote.
Sie sahen mich verständnislos an.
»Habt ihr noch nie von Kaltblütig gehört? Oder von Truman Capote?« Sie kannten weder Buch noch Autor. Ich konnte es kaum glauben. »Aber von den Clutter-Morden habt ihr doch sicher gehört? Eine ganze Familie wurde damals getötet. In einem Haus da drüben, hinter dem Wasserturm.«
Einem der beiden ging ein Licht auf. »Oh, yeah«, sagte er. »’ne ganze Familie einfach ausgelöscht. Das war, you know, richtig unheimlich.«
»Lebt heute jemand in dem Haus?«
»Keine Ahnung«, antwortete er. »Da hat mal jemand drin gewohnt, glaube ich. Aber heute wohnen die da, glaube ich, nicht mehr drin. Weiß nicht genau.« Reden war wohl nicht gerade seine starke Seite. Verglichen mit dem zweiten war er allerdings ein wahrer Cicero. Ich überlegte, ob mir jemals zwei so ungebildete junge Männer begegnet waren, doch dann sprach ich drei andere Schüler an, und keiner von ihnen kannte Kaltblütig. Bei der Stabhochsprunganlage fand ich den Trainer, einen sympathischen jungen Lehrer der Sozialwissenschaften. Er hieß Stan Kennedy und beaufsichtigte gerade drei junge Athleten, die mit langen Stangen in den Händen über eine Aschenbahn rannten und dann mit ihren Köpfen und Schultern gegen eine etwa 1,50 Meter hohe, horizontale Latte krachten. Wenn es in Kansas als sportliche Disziplin galt, mit aller Kraft eine horizontale Latte zu rammen, waren diese Jungs vermutlich die Champions. Ich fragte Kennedy, was er davon hielt, dass so viele Schüler nichts über Kaltblütig wussten.
»Als ich vor acht Jahren hier anfing, hat mich das auch gewundert«, sagte er. »Schließlich war es das Aufregendste, das die Stadt je erlebt hat. Man muss aber bedenken, dass die Leute hier das Buch gehasst haben. Sie haben es sogar aus der öffentlichen Bücherei verbannt, und auch heute noch ist das Thema für viele tabu.«
Ich staunte. Wenige Wochen zuvor hatte ich noch in einem alten Life-Magazin gelesen, wie sehr die Bürger von Holcomb Truman Capote in ihr Herz geschlossen hatten, obwohl er schwul war und lispelte und außerdem noch komische Mützen trug. Nun zeigte sich, dass sie ihn verachteten, und zwar nicht nur, weil er schwul war, sondern weil er sich als außenstehender Großstädter in ihre privaten Tragödien eingemischt hatte, um daraus Profit zu schlagen. Die meisten Leute wollten die ganze Geschichte einfach vergessen und wussten zu verhindern, dass ihre Kinder sich dafür interessierten. Als Kennedy in seiner aufgewecktesten Klasse einmal nachfragte, wie viele Schüler das Buch gelesen hatten, stellte sich heraus, dass drei Viertel nicht einmal einen Blick hineingeworfen hatten.
Das überraschte mich. Wäre ich in einem Ort aufgewachsen, in dem etwas Aufsehenerregendes passiert ist, würde ich darüber lesen wollen. »Mir ginge es genauso«, meinte Kennedy. »Wahrscheinlich würden die meisten unserer Generation mehr darüber erfahren wollen. Aber die Kids von heute sind anders. Viele von ihnen können kaum lesen. Man kann ihnen einfach nichts beibringen. Sie sind für nichts zu begeistern. Es sieht so aus, als wären sie nach all den Jahren, die sie vorm Fernseher verbracht haben, völlig abgestumpft. Einige von ihnen bringen nicht mal einen zusammenhängenden Satz zu Stande.
Wir waren uns einig: Das ist, you know, richtig unheimlich.
Viel mehr gibt es über den äußersten Westen von Kansas nicht zu berichten. Die vereinzelten Städte sind klein und die Highways meistens leer. Alle zehn Meilen zweigt eine Seitenstraße ab, und in jeder Seitenstraße wartet ein alter Pick-up-Truck vor einem Stoppschild. Man sieht sie schon von weitem in der Sonne glänzen – in Kansas sieht man alles schon von weitem. Zuerst denkt man, das Fahrzeug hätte eine Panne oder sei verlassen; ist man dann aber bis auf etwa zehn Meter herangekommen, gibt der Fahrer plötzlich Gas und fährt auf den Highway, so dass man gezwungen ist, die eigene Geschwindigkeit von sechzig Meilen auf zwölf Meilen pro Stunde zu drosseln und das Lenkrad mit der Stirn auf seine Stabilität zu überprüfen. Das Ganze wiederholt sich mit sturer Regelmäßigkeit. Neugierig, wer es wagt, mir in der Mitte von Nirgendwo solche Unannehmlichkeiten zu bereiten, setze ich zum Überholen an und erblicke einen kleinen, alten Mann von siebenundachtzig Jahren am Steuer des Wagens. Er trägt einen Cowboyhut, der ihm drei Nummern zu groß ist, und starrt angestrengt auf die leere Straße vor sich, als würde er ein Flugzeug durch ein Unwetter manövrieren. Dass er von einem anderen Fahrzeug überholt wird, nimmt er natürlich nicht wahr. In Kansas gibt es mehr solcher Autofahrer als in jedem anderen Staat dieses Landes. Es sind zu viele, als dass man sie demographisch erfassen könnte. Es hat fast den Anschein, als würden andere Staaten ihre Alten nach Kansas schicken. Vielleicht versprechen sie ihnen einen kostenlosen Cowboyhut, wenn sie sich dort niederlassen.