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In meiner Vorstellung bestand New England aus Ahornbäumen, weißen Kirchen und alten Männern in karierten Hemden, die in ländlichen Gemischtwarenläden um eiserne Öfen hockten, sich Geschichten erzählten und in die Keksdose spuckten. Doch was das südliche New Hampshire betraf, war ich offensichtlich falsch informiert. Dort gab es nichts als elenden, modernen Kommerz – Einkaufszentren, Tankstellen, Motels. Hier und da stand eine weiße Kirche oder ein Schindelhaus inmitten von Burger Kings und Texaco-Tankstellen. Doch statt die Hässlichkeit zu mildern, verstärkten sie sie nur, denn zu eindringlich erinnerten sie daran, was wir zu Gunsten von Drive-thru-Restaurants und billigem Benzin geopfert haben.
Bei Salisbury fuhr ich auf die alte Route 1. Ihr wollte ich die Küste hinauf durch Maine folgen. Wie der Name vermuten lässt, ist die Route 1 die Mutter aller amerikanischen Highways, die erste Bundesstraße. Sie verläuft über 2500 Meilen von der kanadischen Grenze bis zu den Florida Keys und war vierzig Jahre lang der meistbefahrene Highway entlang der Ostküste. Sie verbindet die großen Städte des Nordens – Boston, New York, Philadelphia, Baltimore, Washington – mit den Stränden und Zitrushainen des Südens. In den dreißiger und vierziger Jahren muss eine Autofahrt von Maine nach Florida herrlich gewesen sein – durch all die wunderbaren Städte, über die Hügel von Virginia und die grünen Berge der Carolinas, und mit jeder Meile wurde es wärmer. Bis in die sechziger Jahre hatte der Verkehr auf der Route 1 dann so stark zugenommen, dass sie unrentabel wurde – ein Drittel aller Amerikaner lebt innerhalb von zwanzig Meilen im Umkreis der Straße. Damit der Verkehr entlang der Küste wieder ins Rollen kam, baute man die Interstate 95, die durch eine fast gleichförmige Landschaft führt. Heute gibt es die Route 1 noch immer, doch eine Fahrt über ihre gesamte Länge würde Wochen dauern. Sie ist inzwischen zu einer verstädterten Nahverkehrsstraße geworden, zu einer endlosen Meile von Einkaufszentren.
Ich hatte gehofft, hier, im ländlichen New England, hätte sich die Route 1 noch etwas von ihrem ursprünglichen Charme bewahrt, doch das schien nicht der Fall zu sein. Ich fuhr durch den Nieselregen dieses kühlen Morgens und fragte mich, ob ich das wahre New England jemals finden würde. Bei Portsmouth, einem kleinen Städtchen, das man getrost vergessen kann, überquerte ich eine eiserne Brücke über den grauen Piscataqua River. Am anderen Ufer lag Maine. Durch das rhythmische Auf und Ab der Scheibenwischer betrachtet, machte auch Maine nicht gerade einen vielversprechenden Eindruck. Hier wie anderswo wucherten Einkaufszentren und graue Wohnsiedlungen.
Hinter Kennebunkport lösten schließlich Wälder die Vorstadtlandschaft ab. Stellenweise ragten gewaltige braune Felsbrocken aus dem Boden und erinnerten an unterirdisch lebende Kreaturen, die an die Erdoberfläche kamen, um Luft zu schnappen. Gelegentlich erhaschte ich einen Blick vom Meer – eine graue Ebene, die kalt und trostlos dalag. Ich fuhr und fuhr und rechnete jeden Augenblick damit, das sagenhafte Maine vor mir zu erblicken, das Maine der Hummerfangkörbe, der umbrandeten Küsten und einsamen Leuchttürme auf granitenen Felsen. Doch an meinem Weg lagen nur Städte, die ebenso nichts sagend und eintönig waren wie die von Wäldern bedeckte Landschaft. Irgendwann hinter Falmouth führte die Straße dann für etwa eine Meile an einer silbrigen Bucht entlang, über die sich eine lange Brücke in eine von idyllisch gelegenen Farmen übersäte Hügellandschaft spannte, und ich schöpfte neue Hoffnung. Doch es war blinder Alarm. Kurz darauf zeigte sich die Landschaft wieder von ihrer langweiligsten Seite. Das wahre Maine blieb mir verborgen. Es war immer irgendwo dahinten, wie die Vergnügungsparks, die mein Dad zu umkreisen pflegte, ohne sie jemals zu erreichen.
In Wiscasset, nach einem Drittel der Strecke die Küste hinauf nach New Brunswick, verlor ich den Mut. Einem Schild am Ortseingang entnahm ich, dass ich mich nun im hübschesten Dorf im Staate Maine befand, was für den Rest des Staates nicht viel zu hoffen übrig ließ. Ich will nicht sagen, dass Wiscasset hässlich war. Es hatte eine von Kunstgewerbeläden und anderen Yuppie-Geschäften gesäumte Hauptstraße, die steil abfallend zu einer friedlichen Bucht führte, in der zwei alte Holzschiffe vor sich hin faulten. Wiscasset war nicht übel, aber eine vierstündige Autofahrt lohnte es nicht.
Spontan beschloss ich, die Route 1 zu verlassen und mich zu den dichten Kiefernwäldern im Herzen Maines aufzumachen, um dann auf Umwegen die White Mountains anzusteuern. Schon nach wenigen Meilen spürte ich, wie sich die Stimmung des Landes zu verändern begann. Die Wolken hingen tiefer und zogen nun konturlos über den Himmel, das Tageslicht wurde spärlicher. Der Winter stand vor der Tür. Ich befand mich nur ungefähr siebzig Meilen von Kanada entfernt, und man sah es dem Land an, dass die Winter hier lang und streng waren. Es war an dem brüchigen Asphalt der Straßen und den riesigen Stapeln Feuerholz vor jeder einsamen Hütte abzulesen. Viele Schornsteine stießen bereits winterliche Rauchwölkchen aus. Der Oktober hatte kaum begonnen,: doch hier herrschte schon diese kalte, leblose Atmosphäre, die einen den Kragen hochschlagen lässt und die Sehnsucht nach dem heimischen Herd weckt.
Gleich hinter Gilead überquerte ich die Staatsgrenze von New Hampshire, und die Landschaft wurde interessanter. Groß und mächtig und so grau wie Holzasche stiegen die White Mountains vor mir auf. Ihren Namen verdanken sie vermutlich den Birken, die ihre Hänge bedecken. Über den leeren Highway fuhr ich durch Wälder zitternden Laubes. Der Himmel war auch jetzt noch niedrig, und die Luft war kalt, doch zumindest hatte ich die Eintönigkeit der Wälder von Maine hinter mir gelassen. Die Straße hob und senkte sich wie ein zusammengeschobener Teppich und schlängelte sich am Rand einer mit Felsblöcken übersäten Schlucht entlang. Zwar bot die Landschaft nun einen weitaus reizvolleren Anblick, aber farblos war sie noch immer. Von den strahlenden Gold- und Rottönen des Herbstes, von denen ich so viel gelesen hatte, war weit und breit nichts zu sehen. Vom Erdboden bis zum Himmel präsentierte sich alles in glanzlosem, leichenblassem Grau.
Ich fuhr am Mount Washington vorbei, dem höchsten Gipfel im Nordosten der USA (1917 Meter – für die, die es genau wissen wollen). Doch die eigentliche Besonderheit dieses Berges ist nicht seine Höhe, sondern sein außerordentlich raues Klima. Sein Gipfel ist der stürmischste Ort der Vereinigten Staaten. Hier wurde die höchste jemals auf dieser Erde festgehaltene Windgeschwindigkeit gemessen, nämlich im April 1934, als eine Böe mit 371 Stundenkilometern um den Berg pfiff. Für die Meteorologen, die da oben gearbeitet haben, muss das ein unvergessliches Erlebnis gewesen sein. Können Sie sich vorstellen, jemandem einen solchen Sturm zu beschreiben? »Ja, es war, weißt du, es war wirklich ... stürmisch. Ich meine, wirklich stürmisch. Verstehst du, was ich meine?« Es muss frustrierend sein, etwas wirklich Einzigartiges erlebt zu haben.
Ich erreichte Bretton Woods, das ich mir immer als malerisches kleines Städtchen vorgestellt hatte. Aber da war keine Stadt. Da war ein Hotel und ein Skilift und sonst gar nichts. Das riesige Hotel sah aus wie eine mittelalterliche Festung mit hellrotem Dach, wie eine Kreuzung zwischen dem Monte Cassino und einer Pizza Hut. In seinen Mauern haben sich im Jahre 1944 Wirtschaftswissenschaftler und Politiker aus achtundzwanzig Nationen zusammengesetzt und die Gründung des Internationalem Weltwährungsfonds und der Weltbank beschlossen. Sicherlich ein geeigneter Ort, um dort Wirtschaftsgeschichte zu schreiben. Wie formulierte es John Maynard Keynes seinerzeit in einem Brief an seinen Bruder Milton? »Es war eine äußerst zufriedenstellende Woche. Der Umgangston während der Verhandlungen war höflich, das Essen ist vorzüglich, und die Kellner sind ganz allerliebst.«
Die Nacht wollte ich in Littleton verbringen – wie der Name schon sagt, eine kleine Stadt unweit der Staatsgrenze von Vermont. Ich hielt vor dem Littleton Motel an der Hauptstraße. An der Tür des Büros verkündete ein Schild: »Eis und gute Ratschläge nur bis 18.30 Uhr. Ich führ die Frau zum Essen aus. (›Das wird aber auch mal Zeit! – die Frau‹).« Drinnen saß ein alter Mann. Er erläuterte mir, dass ich großes Glück hätte, denn es wäre nur ein Zimmer frei, und zwar für 42 Dollar zuzüglich Steuern. Als er merkte, dass ich geradewegs wieder hinausgehen wollte, fügte er eilig hinzu: »Es ist wirklich ein hübsches Zimmer. Mit einem nagelneuen Fernseher, schönen Teppichen und einer netten kleinen Dusche. Wir haben die saubersten Zimmer in der ganzen Stadt. Dafür sind wir berühmt.« Mit dem Arm strich er über eine Sammlung von Gästeempfehlungen, die auf dem Empfangstresen unter Glas ausgestellt waren. »Unser Zimmer war bestimmt das sauberste in der ganzen Stadt!« – A. K., Aardvark Falls, Ky. »Mein Gott, war unser Zimmer sauber! Und so schöne Teppiche!« – Mr. und Mrs. J. F., Spotweld, Ohio. Und dergleichen mehr.
An der Richtigkeit dieser Beteuerungen hatte ich so meine Zweifel. Da ich jedoch zu erschöpft war, um nochmal ins Auto zu steigen, trug ich mich seufzend ins Gästebuch ein. Ich nahm den Schlüssel und einen Eimer voller Eis (für 42 Dollar zuzüglich Steuern wollte ich mich auch aller Leistungen dieses Hauses erfreuen) und begab mich auf mein Zimmer. Und wirklich, es war das sauberste Zimmer der ganzen Stadt. Der Fernseher war nagelneu, und der Teppich war außerordentlich elegant. Das Bett war bequem, und die Dusche war ein wahres Schmuckstück. Augenblicklich schämte ich mich für die Anschuldigungen, die ich im Stillen gegen den Inhaber des Motels erhoben hatte, und nahm all meine Unterstellungen zurück. (»Ich war ein aufgeblasener kleiner Idiot, Ihre Worte in Zweifel zu ziehen.« – Mr. B. B., Des Moines, Iowa.)
Ich lutschte vierzehn Eiswürfel und sah mir im Fernsehen die Nachrichten an. Auf die Nachrichten folgte eine uralte Episode aus Gilligan’s Island, die der Sender gewiss nur deshalb ins Programm genommen hatte, um seine nicht-hirngeschädigten Zuschauer von den Fernsehgeräten zu vertreiben und sie dadurch zu etwas Sinnvollerem anzuregen. Also erhob ich mich und ging hinaus, um mir die Stadt anzusehen. Ich hatte mich für Littleton als Nachtquartier entschieden, weil es in meinem Reiseführer als malerisches Städtchen beschrieben wurde. Wie ich jedoch feststellen musste, zeichnete sich Littleton eher durch seinen einzigartigen Mangel an pittoresker Beschaulichkeit aus – wenn es sich überhaupt durch irgendetwas auszeichnete. Das Städtchen bestand im Großen und Ganzen aus einer langen Straße mit Gebäuden von zumeist durchschnittlichem Reiz. Dazu gesellte sich auf halber Höhe ein Supermarkt mit Parkplatz und, ein paar Meter weiter, die Überreste von dem, was einmal eine Tankstelle gewesen war. Unter einem malerischen Städtchen, und ich denke, da sind wir uns alle einig, verstehe ich etwas anderes. Glücklicherweise hatte Littleton andere Tugenden. Es entpuppte sich nämlich als die freundlichste Kleinstadt, die ich je gesehen habe. Als ich das Restaurant Topic of the Town betrat, lächelten mich alle Gäste an, die Dame an der Kasse zeigte mir, wo ich meine Jacke lassen konnte, und die Kellnerin, eine rundliche kleine Lady mit Grübchen, las mir jeden Wunsch von den Lippen ab. Es kam mir fast so vor, als stünden sie alle unter der Wirkung einer wundersamen Droge. Die Kellnerin brachte mir die Speisekarte, und ich machte den Fehler, mich dafür zu bedanken. »You’re welcome«, sagte sie. Wenn man einmal damit anfängt, nimmt es kein Ende. Sie kam und wischte den Tisch mit einem feuchten Lappen ab. »Thank you«, sagte ich. »You’re welcome«, sagte sie. Sie brachte das in eine Papierserviette gewickelte Besteck. Ich zögerte, konnte aber nicht anders und sagte »Thank you.« »You’re welcome«, sagte sie. Nun brachte sie ein Set mit dem Topic-of-the-Town-Schriftzug, dann ein Glas Wasser, dann einen sauberen Aschenbecher und schließlich einen Korb mit in Cellophan verpackten Kräckern, und jedes Mal tauschten wir unsere Höflichkeitsfloskeln aus. Ich bestellte Brathähnchen. Während ich darauf wartete, wurde mir unangenehm bewusst, dass mich die Leute am Nachbartisch beobachteten und auf eine schwachsinnige Art und Weise zu mir herüberlächelten. Von der Küchentür aus beobachtete mich auch die Kellnerin. Das Ganze war ziemlich entnervend. Ständig kam sie an meinen Tisch, um mein Wasserglas aufzufüllen und mir mitzuteilen, dass mein Essen in einer Minute fertig sei.
»Thank you«, sagte ich.
»You’re welcome«, sagte sie.
Schließlich trat sie mit einem Tablett von der Größe einer Tischplatte aus der Küche und begann, Teller und Schüsseln vor mir abzusetzen – Suppe, Salat, die Hähnchenplatte, einen Korb mit dampfenden Brötchen. Alles sah köstlich aus. Erst jetzt merkte ich, was für einen Bärenhunger ich hatte.
»Kann ich Ihnen sonst noch etwas bringen?«, fragte sie. »Nein danke. Alles bestens«, antwortete ich, Messer und Gabel schon in den Fäusten, bereit, mich auf das Essen zu stürzen.
»Möchten Sie Ketchup?«
»Nein danke.«
»Vielleicht noch ein bisschen Salatdressing?«
»Nein danke.«
»Haben Sie genug Soße?«
Auf meinem Teller schwamm so viel Soße, dass ein Pferd darin baden konnte. »Mehr als genug, danke.«
»Wie wär’s mit einer Tasse Kaffee?«
»Wirklich, ich habe alles, was ich brauche.«
»Sind Sie sicher, dass ich nichts mehr für Sie tun kann?«
»Na ja, Sie könnten endlich verschwinden und mich in Ruhe essen lassen«, wollte ich schon sagen, tat es aber natürlich nicht, sondern lächelte nur brav und bejahte dankend. Sie zog sich zurück, blieb aber mit einem Krug eisgekühlten Wassers in Sichtweite stehen und ließ mich während der ganzen Mahlzeit nicht aus den Augen. Nahm ich einen Schluck Wasser, erschien sie sofort und füllte das Glas wieder bis zum Rand. Als ich einmal nach dem Pfefferstreuer griff, missdeutete sie meine Absicht und setzte sich schon mit dem Wasserkrug in Bewegung, musste dann aber den Rückzug antreten. Wenn ich von nun an das Besteck aus den Händen legte, aus welchen Gründen auch immer, machte ich ihr mit stummen Gesten verständlich, was ich zu tun beabsichtigte (»Ich werde mir jetzt Butter aufs Brötchen streichen.«), damit sie nicht mehr an meinen Tisch gestürzt kam, um Wasser nachzuschenken. Unterdessen sahen mir die Leute vom Nachbartisch unentwegt beim Essen zu und lächelten. Ich hatte nur noch eins im Sinn – sobald wie möglich zu verschwinden.
Als ich mit dem Essen fertig war, erschien die Kellnerin wieder und bot mir Nachspeisen an. »Wie wär’s mit einem Stück Obsttorte? Wir haben Erdbeer-, Brombeer-, Himbeer-, Heidelbeer-, Blaubeer-, Kirsch- und Stachelbeertorte.«
»Oje, nein danke. Ich kann nicht mehr«, seufzte ich und legte mir die Hände auf den Bauch. Ich sah aus, als hätte ich mir ein Kopfkissen unters Hemd gestopft.
»Dann vielleicht ein Eis? Wir haben Schokoladensplittereis, Schokoladencremeeis, Schokoladenvanillecremeeis, Schokoladennusscremeeis, Schokoladenmarshmallowcremeeis, Schokoladenminteis mit Cremesplittern und Cremenüssen mit oder ohne Splittersahne.«
»Haben Sie auch ganz einfaches Schokoladeneis?«
»Nein, ich fürchte, das hat noch niemand bestellt.«
»Ich glaube, dann nehme ich gar nichts mehr.«
»Nicht vielleicht doch noch ein Stück Kuchen? Wir haben –«
»Nein danke, wirklich nicht.«
»Eine Tasse Kaffee?«
»Nein danke.«
»Sind Sie sicher?«
»Ja danke.«
»O.k., dann bring ich Ihnen jetzt noch ein bisschen Wasser.«
Und weg war sie, ohne dass ich Gelegenheit hatte, sie um die Rechnung zu bitten. Die Leute am Nachbartisch beobachteten die Szene mit Interesse und lächelten ein Lächeln, das zu sagen schien: »Wir haben vollkommen den Verstand verloren, und wie geht’s Ihnen heute?«
Anschließend machte ich einen Stadtbummel – das heißt, ich spazierte die eine Straßenseite hinauf und die andere wieder hinunter. Im Verhältnis zu seiner Größe hatte Littleton allerhand zu bieten – zwei Buchhandlungen, eine Gemäldegalerie, einen Souvenirladen, ein Kino. Jeder, der mir unterwegs begegnete, lächelte mich an, was mich allmählich zu beunruhigen begann. So freundlich sind nicht einmal Amerikaner. Was wollten die von mir? Am anderen Ende der Straße entdeckte ich eine BP-Tankstelle, die erste, die mir in Amerika auffiel. Da ich ein wenig Heimweh nach Blighty verspürte, zog es mich dorthin. Ich sah mir die Tankstelle an und stellte enttäuscht fest, dass sie nichts ausgesprochen Britisches an sich hatte. Der Mann an der Kasse trug nicht einmal einen Turban. Als er merkte, dass ich ihn durch das Fenster betrachtete, lächelte er zu mir herüber. Es war dasselbe beunruhigende Lächeln. Plötzlich wusste ich, was es damit auf sich hatte. Es war das Lächeln von Außerirdischen. So seltsam und boshaft lächelten nur Angehörige interplanetarer Rassen, nachdem sie auf dem Weg zur Herrschaft über die Erde erst einmal die Macht über eine Kleinstadt in der Mitte von Nirgendwo an sich gerissen hatten. Ich habe das oft genug im Kino gesehen. Es ist kaum zu glauben, ich weiß, aber es sind schon verrücktere Dinge passiert. Halten Sie sich nur einmal vor Augen, wer gerade im Weißen Haus das Sagen hat! Auf dem Rückweg zum Motel schenkte jedenfalls auch ich jedermann ein schauriges Lächeln und hoffte, dass sich die Einwohner von Littleton weiterhin von ihrer friedlichen Seite zeigen würden. »Und wer weiß, vielleicht eröffnen sich für einen Mann mit deinen Qualitäten ganz neue Perspektiven, wenn die den Planeten erst mal erobert haben«, murmelte ich leise vor mich hin.
Am nächsten Morgen stand ich sehr früh auf. Der Tag versprach, herrlich zu werden. Durch das Fenster meines Motelzimmers sah ich, wie rosarot die Sonne aufging. Ich zog mich schnell an und saß schon hinterm Steuer, als Littleton noch in tiefem Schlaf lag. Nach wenigen Meilen überquerte ich die Staatsgrenze. Vermont machte einen wesentlich grüneren und gepflegteren Eindruck als New Hampshire. Die Berge wölbten sich so massig und so sanft gerundet wie ein schlafendes Tier. Die vereinzelten Farmen wirkten hier deutlich wohlhabender. Wiesen erstreckten sich weit auf die Berghänge hinauf und verliehen den Tälern etwas von dem Flair der Alpen. Schon bald stand die Sonne hoch und wärmend am Himmel. Auf einem Kamm mit Blick auf dunstverschleierte Gebirgsausläufer erblickte ich ein Schild mit der Aufschrift PEACHAM, GEGRÜNDET 1776. Dahinter ein Dorf. Ich parkte vor einem roten Gemischtwarenladen und stieg aus dem Wagen. Weit und breit war keine Menschenseele zu sehen. Vermutlich hatten die Leute aus Littleton die Einwohner bei Nacht und Nebel auf den Planeten Zog verschleppt.
Auch am Peacham Inn, einem weißen Schindelhaus mit grünen Fensterläden, waren keine Anzeichen von Leben zu entdecken. Ich schlenderte einen Hügel hinauf, vorbei an einer weißen Kongregationalisten-Kirche und malerischen Häusern. Auf dem Hügel befand sich ein alter Friedhof und daneben ein breiter Park mit einem Obelisken und einer an einem hohen Mast gehissten Fahne, mit der der Wind seine Späße trieb. Jenseits eines weitläufigen Tals zu Füßen des Hügels wogten blassgrüne und braune Berge wie Wellen auf hoher See bis zum Horizont. Hinter mir schlug die Kirchturmuhr zur vollen Stunde, doch ansonsten drang kein Laut an meine Ohren. Ein so perfektes Fleckchen Erde hatte ich noch nie gesehen. Ich sah mir den Obelisken an. ZUM GEDENKEN AN DIE SOLDATEN VON PEACHAM 1869 stand darauf geschrieben, und für diesen Landstrich typische Namen wie Elijah W. Sargent, Lowell Sterns, Horace Rowe waren darunter in den Stein gehauen. Insgesamt waren es fünfundvierzig Namen, sicherlich zu viele für ein kleines Dorf in den Bergen. Dann fiel mir auf, dass auch der Friedhof neben dem Park für ein solches Dorf viel zu groß war. Er bedeckte den gesamten Hang. Die vielen stattlichen Grabmäler deuteten daraufhin, dass dies einst ein wohlhabender Ort gewesen sein muss.
Ich trat durch das Tor und sah mich um. Mein Blick fiel auf einen besonders schönen Stein – eine von einer granitenen Kugel gekrönte, achteckige Marmorsäule. Auf dieser Säule waren die zahlreichen Todesfälle der Familie Hurd und ihrer nahen Verwandten verzeichnet, angefangen mit Capt. Nathan Hurd im Jahre 1818 bis zu Frances H. Bement 1889. An der Rückseite stand auf einer kleinen Tafel:
Nathan H., gestorben am 24. Juli
1852,
4 Jahre und einen Monat
Joshua F., gestorben am 31. Juli
1852,
ein Jahr und elf Monate
Kinder von J. & C. Pitkin.
Was mag es gewesen sein, das diese beiden kleinen Brüder im Abstand von nur einer Woche hinweggerafft hat? Ein Fieber? Unwahrscheinlich im Juli. Ein Unfall, bei dem der eine starb und der andere schwer verletzt wurde? Oder standen die beiden Tode nicht miteinander in Zusammenhang? Ich stellte mir vor, wie die Eltern um Joshua F.s Bett hockten und zusehen mussten, wie sein Leben erlosch, wie sie zu Gott beteten, er möge ihnen wenigstens diesen Sohn lassen, und wie ihre Hoffnungen zunichte gemacht wurden. Ist das Leben nicht beschissen? Wo ich auch hinsah, überall dokumentierten die Steine Enttäuschung und Leid: »Joseph, Sohn von Ephraim und Sarah Carter, gestorben am 18. März 1846, 18 Jahre alt«, »Alma Foster, Tochter von Zadock und Hannah Richardson, gestorben am 22. Mai 1847, 17 Jahre alt«. So viele waren so jung. Mich überkam eine unbeschreibliche Melancholie, während ich allein zwischen diesen Hunderten von verstummten Seelen wandelte, zwischen diesen Reihen erloschener Träume und geleerter Leben. Welch ein trauriger Ort. Da stand ich in der milden Oktobersonne und war voller Mitleid für all diese glücklosen Menschen und ihre verlorenen Leben. Schwermütig sann ich über die Endlichkeit nach und dachte an meine eigene Familie im fernen England. Doch dann schickte ich den Trübsinn zum Teufel und marschierte den Hügel hinab zum Auto.
Auf dem Weg quer durch Vermont in Richtung Westen erreichte ich die Green Mountains. Zu Füßen der dunklen, rundlichen Berge breiteten sich üppige Täler aus. Hier schien das Licht weicher, schläfriger und herbstlicher zu sein. Und überall war Farbe – senfgelbe und rostrote Bäume, goldfarbene und grüne Wiesen, blendend weiße Scheunen und tiefblaue Seen. Gelegentlich tauchten Stände am Straßenrand auf, an denen Kürbisse und andere Früchte des Herbstes angeboten wurden. Es war wie ein Ausflug ins Paradies. Während ich über die Nebenstraßen zuckelte, fiel mir auf, wie ärmlich einige der erstaunlich vielen kleinen Häuser wirkten. Wovon lebten die Menschen hier? In einer Gegend wie Vermont konnte es nicht viele Arbeitsplätze geben. Der Staat verfügt weder über nennenswerte Städte noch über Industrie. Die größte Stadt, Burlington, hatte gerade 37 000 Einwohner. In der Nähe von Groton hielt ich vor einem Café, bestellte einen Kaffee und lauschte zusammen mit den drei übrigen Gästen einer dicken jungen Frau mit zwei vernachlässigten Kindern, die sich mit der Frau hinterm Tresen lautstark über ihre finanziellen Probleme unterhielt. »Die zahlen mir immer noch ganze vier Dollar die Stunde«, sagte sie. »Harvey ist nun schon drei Jahre bei Fibberts und hat gerade seine erste Lohnerhöhung gekriegt. Weißt du, was er jetzt verdient? Vier Dollar und fünfundsechzig Cents die Stunde. Ist das nicht zum Heulen? Ich hab zu ihm gesagt: ›Harvey, die nutzen dich nur aus.‹ Aber der lässt sich ja alles gefallen.« Hier brach sie ab, um mit dem Handrücken einem ihrer Kinder übers Gesicht zu fahren. »WIE OFT HABE ICH DIR SCHON GESAGT, DU SOLLST MICH NICHT UNTERBRECHEN, WENN ICH MICH UNTERHALTE?«, wollte sie von dem kleinen Kerl wissen und wandte sich dann mit ruhigerer Stimme wieder der Frau hinterm Tresen zu, um ihr Harveys sonstige Schwächen aufzulisten, die übrigens recht zahlreich waren.
Erst am Tag zuvor hatte ich in einem McDonald’s Restaurant in Maine ein Schild gesehen, auf dem eine Arbeitskraft für einen Anfangslohn von 5 Dollar pro Stunde gesucht wurde. Harvey muss tatsächlich ein außergewöhnlich unfähiger Trottel gewesen sein, wenn er nicht einmal in der Lage war, mit einem sechzehnjährigen Burgerjockey von McDonald’s Schritt zu halten. Armer Kerl! Und obendrein war er mit einer Frau verheiratet, die nicht nur schlampig und indiskret war, sondern noch dazu ein Hinterteil so breit wie ein Scheunentor hatte. Ich hoffte nur, dass der gute Harvey, zumindest die natürliche Schönheit zu schätzen wusste, mit der der Herrgott seinen Heimatstaat so überreichlich gesegnet hatte, wenn er selbst bei seinem Segen schon zu kurz gekommen war. Selbst seine Kinder waren hässlich. Als ich hinausging, hätte ich einem von ihnen beinahe eine Ohrfeige verpasst. Irgendetwas in seinem frechen kleinen Gesicht erweckte in mir den Wunsch, ihm eine runterzuhauen.
Ich fuhr weiter und dachte, wie seltsam es doch sei, dass gerade in den wirklich schönen Gegenden Amerikas – in den Smoky Mountains, in Appalachia und nun in Vermont – die ärmsten und ungebildetsten Menschen lebten. Und dann kam ich nach Stowe und begriff, was für ein Depp ich bin, wenn es darum geht, Dinge zu verallgemeinern. Stowe war alles andere als arm. Es war eine reiche Kleinstadt, voller schicker Boutiquen und teurer Skihütten. Als ich während der folgenden Stunden auf dem Weg durch die Green Mountains von einem Wintersportort zum anderen fuhr, traf ich fast ausschließlich auf Reichtum und Schönheit – reiche Leute, luxuriöse Häuser, dicke Autos, feudale Ferienorte, schöne Landschaft. Beeindruckt ließ ich die Green Mountains hinter mir zurück und nahm Kurs auf den – ebenfalls außerordentlich schönen Lake Champlain, um die Fahrt dann entlang der Staatsgrenze von New York an der Westseite von Vermont fortzusetzen.
Südlich des Lake Champlain wurde die Landschaft offener, welliger, als wären die Ausläufer der Berge geebnet worden, als hätte jemand glättend darüber gestrichen wie über die krause Tagesdecke eines Bettes. Einige der Städtchen und Dörfer waren auffallend hübsch. Beispielsweise Dorset, ein um eine ovale Grünanlage angelegtes Städtchen mit schönen, weißen Schindelhäusern, einer Freilichtbühne, einer alten Kirche und einem großen Gasthaus. Und dennoch – irgendetwas störte mich an diesen Orten. Sie waren zu perfekt, zu reich, zu yuppiehaft. In Dorset gab es einen Bilderladen, der hieß Dorset Framery. Ein paar Meilen weiter, in Bennington, kam ich an einem Restaurant mit Namen Publyk House vorbei. Jedes Gasthaus und jede Herberge hatte einen ausgefallenen, bildhaften Namen – das Black Locust Inn, das Hob Knob, das Blueberry Inn, das Old Cutter Inn –, und ein hölzernes Schild baumelte vor jeder Tür. Über allem und jedem lag ein Hauch von gekünstelter Niedlichkeit, der nach einer Weile seltsam bedrückend auf mich wirkte. Ich begann, mich nach ein bisschen Neon zu sehnen, nach einem Restaurant mit einem guten, alten Familiennamen – Ernie’s Chop House, Zweiker’s New York Grille – und blinkenden Bierreklamen in den Fenstern. Auch eine Kegelbahn oder ein Drive-in-Kino wären mir mehr als recht gewesen. Das hätte der ganzen Szenerie etwas Wirkliches verliehen. Doch so sah alles aus, als hätte man es in Manhattan entworfen und dann hierher verfrachtet. Eines dieser Dörfer hatte nur vier oder fünf Geschäfte. Eins davon war ein Ralph Lauren Polo Shop. Was gibt es Schlimmeres, als in einem Dorf zu wohnen, in dem man sich zwar für 200 Dollar ein Polohemd, aber nicht eine einzige Dose Bohnen kaufen kann? Aber dann fielen mir doch einige Dinge ein, die weitaus schlimmer waren als das – jede Folge einer Fernsehserie mit Joan Collins über sich ergehen zu lassen, mehr als zweimal im Jahr in einem Burger Chef essen zu müssen, mitten in der Nacht nach einem Glas Wasser zu greifen und dann festzustellen, dass man aus dem Glas mit dem Gebiss der Großmutter getrunken hat, und so weiter. Ich denke, Sie verstehen mich.