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In England war es ein Jahr ohne Sommer gewesen. Ein rauer Herbst hatte unmerklich den verregneten Frühling abgelöst. Monatelang zeigte sich der Himmel in einheitlichem Grau. Manchmal regnete es, aber meistens war es nur trübe; ein Land ohne Schatten. Es war, als lebte man in einer Tupperdose. Und hier blendete die Sonne plötzlich in ihrer ganzen Intensität. Iowa schäumte über vor Farbe und Licht. Die Scheunen am Straßenrand erstrahlten in leuchtendem Rot, der Himmel in tiefem, hypnotisierendem Blau. Vor mir erstreckten sich senffarbene und grüne Felder, und über der Straße tanzten flimmernde Flecken. Hier und da traf das Sonnenlicht auf einen Getreideheber in der Ferne – die Kathedralen des Mittleren Westens, die Schiffe im Meer der Prärie – und wurde als reines Weiß zurückgeworfen. In der ungewohnten Helligkeit blinzelnd, folgte ich dem Highway nach Otley. Ich wollte die Strecke zurückverfolgen, die mein Vater immer zum Haus meiner Großeltern in Winfield gefahren war – über Prairie City, Pella, Oskaloosa, Hedrick, Brighton, Coppock, Wayland und Olds. Diese Reihenfolge hatte sich tief in mein Gedächtnis eingeprägt. Früher hatte ich nur als Passagier im Auto gesessen, ohne der Straße besondere Aufmerksamkeit zu schenken. Jetzt nahm ich erstaunt die Kurven und unerwarteten Kreuzungen wahr, an denen ich mal links, mal rechts und nach ein paar Meilen wieder links abbiegen musste. Es wäre wesentlich einfacher gewesen, über den Highway 92 nach Ainsworth und dann weiter in Richtung Süden nach Mount Pleasant zu fahren. Es war mir unbegreiflich, was meinen Vater veranlasst hatte, sich für diese Strecke zu entscheiden. Dass ich das nun natürlich nicht mehr erfahren würde, erschien mir bedauerlich. Es war umso unbegreiflicher, da meinem Vater fast nichts so viel Spaß gemacht hatte, wie den Esszimmertisch mit Landkarten zu bedecken und ausführlich Vor- und Nachteile von möglichen Fahrtrouten abzuwägen. Darin unterschied er sich nicht von den meisten Menschen im Mittleren Westen. Richtungen spielen in ihrem Leben eine wichtige Rolle. Sie haben das angeborene Bedürfnis, sich zu orientieren. Dieses Bedürfnis kommt selbst in ihren Anekdoten zum Vorschein. Erzählt jemand aus dem Mittleren Westen eine Geschichte, schweift er irgendwann unweigerlich ab, um sich in einem Dickicht aus inneren Monologen zu verlieren. Das geht ungefähr so: »Das Hotel, in dem wir wohnten, lag acht Blocks nordöstlich des Kapitols. Wenn ich es mir recht überlege, war es nordwestlich. Und ich glaube, es waren wahrscheinlich doch eher neun Blocks. Und diese Frau ohne Kleider, nackt wie am Tag ihrer Geburt mit Ausnahme einer Kappe aus Waschbärfell auf dem Kopf, kam aus Südwesten auf uns zu gerannt... oder war es Südosten?« Befindet sich jemand unter den Zuhörern, der die Begebenheit ebenfalls beobachtet hat und auch aus dem Mittleren Westen stammt, kann man die Anekdote getrost vergessen, denn beide werden den Rest des Nachmittages damit verbringen, sich über die Himmelsrichtungen zu streiten, und auf die ursprüngliche Geschichte nicht mehr zu sprechen kommen. In Europa kann man ein Paar aus dem Mittleren Westen unschwer daran erkennen, dass sie stets über einen im Wind flatternden Stadtplan gebeugt auf der Verkehrsinsel einer belebten Kreuzung stehen und sich darüber streiten, wo Westen liegt. Europäische Städte mit ihrem ungeordneten Straßengewirr können Menschen aus dem Mittleren Westen verrückt machen.
Diese geographische Manie hängt vermutlich damit zusammen, dass im Herzen Amerikas Orientierungspunkte fehlen. Ich hatte ganz vergessen, wie flach und leer das Land ist. Stellt man sich irgendwo in Iowa auf zwei Telefonbücher, kann man immer das ganze Umland überblicken. Dort, wo ich jetzt stand, breitete sich ein Areal etwa von der Größe Belgiens vor mir aus. In dieser Weite war jedoch nichts zu entdecken, abgesehen von ein paar verstreuten Farmen, vereinzelten Baumgruppen und zwei Wassertürmen, die silbrig schimmerten und von der Existenz unbekannter Städte in der Ferne kündeten. In mittlerer Entfernung jagte auf einer Schotterstraße eine Staubwolke hinter einem Auto her. Nur die Getreideheber stachen von der Landschaft ab. Aber auch sie glichen sich wie ein Ei dem anderen. Es gab kaum einen Anhaltspunkt, um eine Aussicht von einer anderen zu unterscheiden.
Und still ist es hier. Außer dem unaufhörlichen Rauschen der Kornfelder dringt kein Laut an die Ohren. Würde jemand in einem drei Meilen entfernten Haus niesen, so könnte man es hören (»Gesundheit!« »Danke!«). Es muss einen kirre machen, ein Leben so ohne jeglichen Anreiz zu führen. Kein Flugzeug, das den Blick auf sich lenkt, keine Autohupen. Die Zeit schleppt sich ganz langsam vorwärts, und halb erwartet man, dass die Menschen hier noch immer gebannt Ozzie and Harriet im Fernsehen angucken, und wäre nicht erstaunt, wenn sie bei den Wahlen für Eisenhower stimmten. (»Ich weiß nicht, wie weit ihr da oben in Des Moines schon seid, wir hier in Fudd County sind jedenfalls im Jahr 1958.«)
Mit unverwechselbaren Kennzeichen sind alle Kleinstädte gleichermaßen schlecht ausgestattet. Ihre Namen sind so ungefähr das Einzige, was sie unterscheidet. In jeder Kleinstadt gibt es eine Tankstelle, ein Lebensmittelgeschäft, einen Getreideheber, einen Laden für landwirtschaftliche Geräte und Düngemittel und etwas so Unglaubliches wie einen Händler für Mikrowellenherde oder eine chemische Reinigung, so dass man sich unterwegs mit der Frage beschäftigen kann, was die Leute in Fungus City wohl mit einer chemischen Reinigung anfangen. Jede vierte oder fünfte Gemeinde ist eine Bezirksstadt. Alle wurden sie rund um einen Platz angelegt, an dessen einer Seite ein ansehnliches Gerichtsgebäude aus Backstein mit einer Kanone aus dem Bürgerkrieg und einem Denkmal für die Toten von mindestens zwei Kriegen steht, während sich entlang seiner übrigen Seiten ein Geschäft an das andere reiht: ein Billigkaufhaus, eine Imbissstube, zwei Banken, eine Eisenwarenhandlung, eine christliche Buchhandlung, mehrere Friseursalons, ein Herrenfriseur, ein Herrenausstatter mit jener Art Kleidung, wie sie nur in sehr kleinen Provinzstädten getragen wird. Mindestens zwei der Geschäfte heißen Vern’s. In der Mitte des Platzes befindet sich stets ein kleiner Park mit dicken Bäumen, einem Musikpavillon, einem Mast mit der amerikanischen Flagge und mehreren Bänken, auf denen alte Männer mit John-Deere-Mützen sitzen und über die alten Zeiten reden, als sie noch anderes zu tun hatten, als auf Parkbänken zu sitzen und über alte Zeiten zu reden. In diesen Orten scheint die Zeit zu kriechen.
Die angenehmste Bezirksstadt in Iowa ist Pella, vierzig Meilen südöstlich von Des Moines. Pella wurde von holländischen Immigranten gegründet. So findet denn auch heute noch alljährlich im Mai ein großes Tulpenfest statt, für das man eigens eine so bedeutende Persönlichkeit wie den Bürgermeister von Den Haag einfliegt und ihn ein Loblied auf die Tulpenzwiebeln singen lässt. Als ich klein war, mochte ich Pella, denn viele seiner Bürger hatten kleine Windmühlen in ihren Vorgärten aufgestellt, was das Städtchen irgendwie interessant machte. Ich würde nicht sagen, außerordentlich interessant, doch ich hatte schon in jungen Jahren gelernt, die wenigen Annehmlichkeiten zu schätzen, die mir während einer Reise durch Iowa begegneten. Außerdem befand sich am Stadtrand von Pella eine Filiale von Dairy Queen. Hier hielt mein Vater manchmal an und kaufte uns mit Schokolade überzogene Eiskremtüten. Schon allein deshalb empfand ich immer eine besondere Zuneigung für diesen Ort und war sehr erfreut, in so manchem Vorgarten noch Windmühlen zu entdecken, als ich an diesem schönen Septembermorgen in Pella ankam. Am Platz im Herzen des Städtchens stieg ich aus, um mir die Beine zu vertreten. Es war Sonntag. Die alten Männer von den Parkbänken hatten also heute frei – sie verbrachten den Tag schlafend vor dem Fernseher –, aber ansonsten erwies sich Pella als ebenso vollkommen, wie ich es in Erinnerung hatte. Der Park strotzte vor Bäumen und Beeten mit Salbei und Ringelblumen in den leuchtendsten Farben. In einem Winkel stand fast maßstabsgetreu eine stattliche, grüne Windmühle mit weißen Flügeln. Die Läden rund um den Platz präsentierten sich in der für Läden im Mittleren Westen typischen Getreidesilobauweise, waren aber mit Lebkuchengesimsen und anderem lustigen Zierrat versehen. Jedes Geschäft hatte einen soliden, Vertrauen erweckenden holländischen Namen: Pardekooper’s Drug Store, Jaarsma Bakery, Van Gorp Insurers, Gosselink’s Christian Book Store, Vander Ploeg Bakery. Natürlich waren alle Läden geschlossen. In Orten wie Pella hält man sich auch heute noch strikt an die Sonntagsruhe. Die ganze Stadt war von einer unheimlichen Stille durchdrungen, einer Art Totenstille, die eine entsprechend überempfindliche Natur zu der Überlegung verleitet, ob vielleicht alle Einwohner des Nachts von einem aus einer undichten Stelle strömenden, geruchlosen Gas vergiftet worden seien, das Pella in so etwas wie das Pompei der Prärie verwandelt habe und sich auch jetzt noch heimtückisch des eigenen zentralen Nervensystems bemächtigen könne. Für einen Augenblick tauchte in mir das Bild von Menschen auf, die von überall her kamen, um sich die Opfer der Katastrophe anzusehen, und von dem jungen Mann auf dem Platz im Herzen der Stadt – der mit der Brille und der besorgten Miene – besonders angetan waren, ihm endgültig den Hals umdrehten und sich an seiner Autotür zu schaffen machten. Doch dann bemerkte ich am entfernteren Ende des Platzes einen Mann, der mit seinem Hund spazieren ging, und begriff, dass jewede Gefahr vorüber war.
Eigentlich hatte ich nicht die Absicht, länger in Pella zu bleiben, doch es war ein so herrlicher Morgen, dass ich begann, gemächlich eine Straße in der Nähe des Platzes entlangzuschlendern, vorbei an gepflegten Holzhäusern mit Kuppeln, Giebeln und Veranden, auf denen Schaukeln leise im Wind quietschten. Ein anderes Geräusch war nicht zu hören, das Rascheln meiner Schritte im trockenen Laub ausgenommen. Mit dem Ende der Straße erreichte ich das kleine, von der Dutch Reformed Church geleitete Central College und seinen von roten Backsteingebäuden umstandenen Campus. Über den Campus führte ein gewundener Weg und eine gewölbte Fußgängerbrücke aus Holz. Die Szenerie wirkte so beruhigend wie eine doppelte Dosis Valium. Das College sah aus wie eines dieser ordentlichen, freundlichen, sittsamen Institute, in denen Clark Kent sich wohlgefühlt hätte. Ich überquerte die Brücke und stieß an der gegenüberliegenden Seite des Campus auf einen weiteren Beweis dafür, dass es außer mir noch andere lebende Personen in Pella gab. Aus dem offenen Fenster eines Studentenwohnheims schmetterte für einen Moment Musik aus einem viel zu laut aufgedrehten Radio – irgendetwas von Frankie Goes to Hollywood, glaube ich –, und augenblicklich ertönte aus undefinierbarer Richtung eine dröhnende Stimme: »Wenn du nicht sofort das Scheißding ausmachst, komme ich rüber und schlage dir die Birne ein!« Es war die Stimme eines beleibten Menschen – vielleicht jemand mit dem Spitznamen Moose. Die Musik verstummte sofort, und Pella verfiel wieder in tiefen Schlaf. Ich fuhr weiter in Richtung Osten, durch Oskaloosa, Fremont, Hedrick, Martinsburg. Die Namen klangen vertraut, doch die Städte selbst riefen kaum Erinnerungen wach. Bis zu dieser Etappe der Fahrt hatte ich bei den meisten unserer früheren Reisen ein Stadium der Apathie erreicht und jammerte im 15-Sekunden-Takt: »Wie lange noch? Wann kommen wir endlich an? Ich langweile mich. Mir ist schlecht. Wie lange noch? Wann sind wir endlich da?« An der Straße in der Nähe von Coppock glaubte ich, eine Kurve wiederzuerkennen, in der wir einmal vier Stunden in einem Schneesturm festsaßen und auf den Schneepflug warten mussten. Auch andere Stellen kamen mir von früheren Zwangspausen her irgendwie bekannt vor. Wir hielten oft an, weil meine Schwester sich übergeben musste, zum Beispiel an einer Tankstelle in Martinsburg. Dort stürzte sie aus dem Wagen und erbrach sich ausgiebig über die Füße des Tankwarts (meine Güte, konnte der Mensch tanzen!). In Wayland hätte mein Vater mich einmal fast am Straßenrand stehen lassen, nachdem er entdeckt hatte, dass ich aus lauter Langeweile während der Fahrt alle Nieten von der Verschalung einer der hinteren Türen gelöst hatte. Das erlaubte mir zwar interessante Einblicke in den Schließmechanismus, leider waren dadurch jedoch sowohl Fenster als auch Tür ein für alle Mal hinüber. Doch erst kurz hinter Olds, an der Abzweigung nach Winfield, also an der Stelle, an der mein Vater gewöhnlich im Freudentaumel verkündete, dass wir unser Ziel so gut wie erreicht hätten, erkannte ich plötzlich alles wieder. Ich hatte diese Straße mindestens ein Dutzend Jahre nicht gesehen, dennoch waren mir die Hügel und verstreuten Farmen so vertraut wie mein linkes Bein. Mein Herz jubilierte. Es war, als würde die Zeit zurückgedreht: Ich verwandelte mich wieder in einen kleinen Jungen.
Unsere Ankunft in Winfield war jedes Mal überwältigend. Dad bog vom Highway 78 ab, holperte mit viel zu hoher Geschwindigkeit über eine unebene Schotterstraße, wirbelte weiße Staubwolken hinter uns auf, um dann zum Entsetzen meiner Mutter wie wahnsinnig auf einen unbeschrankten Bahnübergang in einer unübersichtlichen Kurve zuzusteuern und dabei mit ernster Miene zu bemerken: »Hoffentlich kommt kein Zug.« Erst Jahre später fand meine Mutter heraus, dass auf dieser Strecke nur zwei Züge täglich verkehrten, und zwar mitten in der Nacht. Hinter den Bahnschienen stand eine viktorianische Villa mitten auf einer verwilderten Wiese. Sie sah aus wie das Haus in den Cartoons von Charles Addams im New Yorker und war seit Jahrzehnten unbewohnt. Trotzdem stand sie voller Möbel, die mit feuchten Laken abgedeckt waren. Meine Schwester, mein Bruder und ich kletterten manchmal durch ein zerbrochenes Fenster hinein und durchstöberten die muffigen Kleider in den Schränken, alte Collier’s-Magazine und Fotografien von seltsam besorgt aussehenden Menschen. Im oberen Stockwerk befand sich ein Schlafzimmer, in dem, wie mein Bruder zu berichten wusste, die verschrumpelte Leiche der letzten Hausbewohnerin lag – eine Frau, die an gebrochenem Herzen gestorben war, nachdem ihr Liebster sie vor dem Altar hatte sitzen lassen. Dieses Schlafzimmer betraten wir nie. Nur einmal – ich muss ungefähr vier Jahre alt gewesen sein – schielte mein Bruder durch das Schlüsselloch, schrie auf und brüllte: »Sie kommt!«, um dann Hals über Kopf die Treppe hinunter zu stürzen. Ich folgte ihm wimmernd und machte mir bei jedem Schritt in die Hose. Hinter der Villa breitete sich eine große Wiese aus, auf der schwarzweiße Kühe grasten, und jenseits dieser Wiese stand weiß und hübsch, unter einem Dach aus Bäumen, das Haus meiner Großeltern, mit einer großen, roten Scheune und hektarweise Rasen. Meine Großeltern erwarteten uns immer am Tor. Ich weiß nicht, ob sie uns kommen sahen und dann eilig ihre Stellung einnahmen oder ob sie dort Stunde um Stunde auf uns warteten. Vermutlich trifft Letzteres zu, denn seien wir ehrlich – viel zu tun hatten sie nicht. Es folgten vier oder fünf herrliche Tage. Mein Großvater fuhr einen Model-T-Ford, mit dem er uns Kinder, zum Schrecken der Hühner und älteren Frauen, im Hof herumkurven ließ. Im Winter hängte er einen Schlitten an den Wagen und unternahm mit uns im Schlepptau lange Ausflüge über verschneite Straßen. Abends spielten wir am Küchentisch Karten und gingen spät zu Bett. Im Haus meiner Großeltern war immer Weihnachten oder Thanksgiving oder der Vierte Juli, oder irgendwer feierte Geburtstag. Jedenfalls waren es immer glückliche Tage.
Gleich nach unserer Ankunft tippelte meine Großmutter in die Küche und holte etwas Frischgebackenes aus dem Ofen. Immer kam etwas Ungewöhnliches zum Vorschein. Meine Großmutter war der einzige Mensch, den ich jemals kennen gelernt hatte – vermutlich der einzige Mensch auf Erden –, der sich an die Rezepte auf den Rückseiten der Lebensmittelverpackungen hielt. Die Gerichte hatten Namen wie »Rice Krispies ’n’ Banana Chunks Upside-Down Cake« oder »Del Monte Lima Bean ’n’ Pretzels Party Snacks«. Meistens waren die eigenen Produkte des jeweiligen Herstellers unter den Zutaten verdächtig stark vertreten und erschienen in Zusammenstellungen, auf die man selbst – wenn überhaupt – nur im Fall einer besonders großen Hungersnot gekommen wäre. Für diese Gerichte sprach lediglich ihre Originalität. Ein Stück Torte oder ein dampfendes Stück Kuchen aus der Hand meiner Großmutter enthielt so ziemlich alles von Niblets Mais, Schokoladensplittern; Frühstücksfleisch und gewürfelten Karotten bis zu Erdnussbutter. Im Allgemeinen befanden sich auch Reiskrispies darin. Meine Großmutter hatte eine Schwäche für Reiskrispies und fügte grundsätzlich jedem Gericht ein paar Löffel bei, selbst wenn sie laut Rezept nicht hineingehörten. Sie war eine so schlechte Köchin, wie man es nur sein kann, ohne seine Mitmenschen ernstlich zu gefährden.
Heute scheint alles schon so lange her zu sein. Und das ist es wohl auch. Es ist so lange her, dass meine Großeltern noch ein Kurbeltelefon an der Wand hängen hatten, dessen Kurbel man drehen musste und dann sagen konnte: »Mabel, gib mir Gladys Scribbage. Ich möchte sie fragen, wie sie ihre Frosted Flakes ’n’ Cheez Whiz Party Nuggets macht.« Dann würde sich herausstellen, dass Gladys Scribbage schon in der Leitung war und heimlich mithörte, oder jemand anders hörte heimlich mit und wusste, wie man Frosted Flakes ’n’ Cheez Whiz Party Nuggets macht. Denn eigentlich hörte jeder heimlich mit. Wenn sie sich langweilte, hörte sich auch meine Großmutter die Telefongespräche anderer Leute an. Dann deckte sie mit einer Hand die Sprechmuschel ab und berichtete allen im Raum Anwesenden lebhaft von verstopften Dickdärmen, Schwangerschaftskomplikationen, Ehemännern, die sich mit der Bardame aus Vern’s Uptown Tavern and Supper Club nach Burlington abgesetzt hatten und von anderen Krisen aus dem Leben in einer kleinen Stadt. Während dieser Sitzungen durften wir keinen Ton von uns geben, was ich nie so recht verstanden habe, denn schließlich mischte sich meine Großmutter selbst gelegentlich ein, sobald die Dinge eine pikante Wendung nahmen. »Also, ich glaube, Merle ist ein ausgewachsener Schweinehund«, sagte sie dann. »Ja, wirklich. Hier spricht Maude Bryson, und ich wollte nur sagen, dass er ein absoluter Mistkerl ist, der armen Pearl das anzutun. Ach, übrigens, Mabel, weißt du, dass diese Stütz-BHs in Columbus Junction einen Dollar billiger sind?« Ungefähr 1962 kam die Telefongesellschaft und installierte im Haus meiner Großmutter – vermutlich auf nachdrücklichen Wunsch der übrigen Bürger von Winfield – ein normales Telefon ohne Gemeinschaftsanschluss. Das riss ein großes Loch in ihr Leben – ein Verlust, von dem sie sich nie wieder ganz erholen sollte.
Ich habe nicht wirklich erwartet, meine Großeltern am Tor wartend vorzufinden, zumal sie beide schon vor vielen Jahren gestorben sind. Doch vermutlich fuhr ich mit der vagen Hoffnung dorthin, dass heute ein anderes liebenswürdiges, altes Ehepaar dort leben und an meinen Erinnerungen Anteil nehmen würde. Vielleicht würden sie mich wie einen Enkel aufnehmen. Zumindest bin ich jedoch davon ausgegangen, dass das Haus meiner Großeltern noch genauso aussehen würde, wie ich es zuletzt gesehen hatte.
Es kam ganz anders. Die Straße zum Haus war noch immer mit leuchtend weißen Gipskieseln bestreut und wirbelte nach wie vor befriedigende Staubwolken auf, doch die Eisenbahnschienen waren verschwunden. Es gab nicht ein Anzeichen dafür, dass sie jemals existiert hatten. Auch die viktorianische Villa war nicht mehr da. An ihrer Stelle stand ein Bungalow, in dessen Garten Autos und Propangasflaschen wie Kinderspielzeug herumstanden. Weitaus schlimmer war, dass sich die Kuhweide in eine Fertighaussiedlung verwandelt hatte. Früher stand das Haus meiner Großeltern ein gutes Stück außerhalb der Stadt, eine Insel von Bäumen in einem Ozean von Wiesen. Nun wurde es von allen Seiten von kleinen Billighäusern bedrängt. Mit Entsetzen stellte ich fest, dass die Scheune nicht mehr stand. Irgendein Idiot hatte meine Scheune abgerissen! Und das Haus selbst – eine Bruchbude. Von Farbe war nicht mehr viel zu sehen. Die Sträucher hatte man entwurzelt, die Bäume gefällt. Das Gras stand hoch und war mit Hausabfällen übersät. Ich hielt mitten auf der Straße den Wagen an und starrte mir die Augen aus dem Kopf. Ich kann den Verlust, den ich empfand, nicht beschreiben. Die Hälfte meiner Erinnerungen befand sich in diesem Haus. Kurz darauf erschien eine enorm übergewichtige Frau in pinkfarbenen Shorts in der Tür. Sie sprach in ein Telefon mit einem anscheinend endlosen Kabel und erwiderte erstaunt meinen starrenden Blick.
Ich machte mich auf den Weg in die Stadt. Damals gab es entlang der Main Street von Winfield alles, was man in einer blühenden Kleinstadt erwarten durfte: zwei Lebensmittelgeschäfte, einen Kramladen, eine Kneipe, eine Billardhalle, eine Zeitung, eine Bank, einen Friseur, ein Postamt und zwei Tankstellen. Jeder kaufte hier, was er zum Leben brauchte, und jeder kannte jeden. Von den Läden waren nun nur noch eine Kneipe und ein Geschäft für landwirtschaftliche Geräte übrig geblieben. Dazwischen lagen ein halbes Dutzend leerer, von Gras überwucherter Grundstücke, auf denen man die alten Gebäude abgerissen hatte, ohne sie durch neue zu ersetzen. Die meisten der noch stehenden Häuser wirkten finster und waren mit Brettern vernagelt. Die ganze Szenerie erinnerte an eine vor langer Zeit verlassene und dem Verfall preisgegebene Filmkulisse.
Ich konnte mir nicht erklären, was sich hier abgespielt hatte. Die Leute mussten nun wohl dreißig Meilen fahren, nur um einen Laib Brot zu kaufen. Vor der Kneipe hing eine Gruppe jugendlicher Motorradrowdies herum. Ich wollte gerade anhalten, um sie zu fragen, was mit ihrer Stadt geschehen sei, da bemerkte mich einer von ihnen und zeigte mir den Finger. Ganz ohne Grund. Er war ungefähr vierzehn. Abrupt gab ich Gas und fuhr zurück in Richtung Highway 78, vorbei an den verstreuten Farmen und den Hügeln, die mir so vertraut waren wie mein eigenes, linkes Bein. Zum ersten Mal in meinem Leben kehrte ich einem Ort den Rücken und wusste, dass ich ihn nie wiedersehen würde. Es war alles sehr traurig, aber ich hätte es besser wissen müssen. Wie ich immer zu Thomas Wolfe zu sagen pflegte, gibt es drei Dinge im Leben, die unmöglich sind. Es ist unmöglich, aus einem Streit mit der Telefongesellschaft als Sieger hervorzugehen; es ist unmöglich, einen Kellner auf sich aufmerksam zu machen, solange der einen nicht bemerken will; und es ist unmöglich heimzukehren.