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Mit einem Gefühl der Leere fuhr ich weiter nach Mount Pleasant, wo ich eine Kaffeepause einlegte. Ich hatte die Sonntagsausgabe der New York Times dabei. Dass man die New York Times nun auch in einem so entlegenen Teil der Welt wie Iowa am Erscheinungstag vom Automaten beziehen konnte, war eine der bedeutendsten Neuerungen, die mir seit meiner Ankunft aufgefallen waren; eine wahre Meisterleistung des Vertriebs. Wie ich die Sonntagsausgabe dieser Zeitung liebe! Ich zog mich in eine ruhige Ecke zurück und breitete sie vor mir aus. Von ihren zahlreichen Tugenden als Zeitung einmal abgesehen, vermittelt schon allein ihr Umfang ein angenehmes Gefühl der Sicherheit. Diese vor mir liegend Ausgabe muss wohl an die zehn bis zwölf Pfund gewogen haben. Sie hätte eine aus einer Entfernung von zwanzig Metern abgefeuerte Kugel aufhalten können. Ich habe einmal gelesen, dass für die Produktion einer Sonntagsausgabe der New York Times das Holz von 75 000 Bäumen benötigt wird. Jede einzelne Seite ist den Aufwand wert. Und was, wenn unseren Enkeln kein Sauerstoff zum Atmen bleibt? Zum Teufel mit ihnen.

Am liebsten lese ich in der Times jene Seiten, die so langweilig und unklar sind, dass sie eine Art einschläfernde Faszination auslösen – zum Beispiel die Kolumne »Wie verschönere ich mein Heim« (»Alles Wissenswerte über Schrauben und Verschlüsse«) oder die Briefmarkenrubrik (»Jubiläumsmarken zum 25-jährigen Bestehen der Luftfahrtedition«). Vor allem liebe ich die beiliegenden Werbeprospekte. Würde ein Bulgare von mir wissen wollen, wie es sich in Amerika leben lässt, würde ich ihm ohne Zögern raten, in einem Stoß Reklamebeilagen der New York Times zu blättern. Sie dokumentieren ein Leben in Reichtum und Vielfalt, das die wildesten Träume der meisten Ausländer in den Schatten stellt. Wie zur Illustration meines Standpunktes enthielt die vor mir liegende Ausgabe einen Geschenkkatalog der Zwingle Company of New York mit einer Riesenauswahl von Produkten aus der Schublade Überflüssiger-geht’s-nicht – musikalische Schuhspanner, Regenschirme mit im Griff installiertem Transistorradio, elektrische Nagelzwicker. Welch ein großartiges Land! Am besten gefiel mir eine kleine, elektrische Heizplatte für den Schreibtisch, auf der man seinen Kaffee warm halten kann. Für Leute mit Gehirnschaden müssen diese Dinge ein wahrer Segen sein. Ebenso dankerfüllt dürften sich die Epileptiker im ganzen Land fühlen. (»Sehr geehrte Zwingle Company: Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie oft mich nach einem epileptischen Anfall die Angst gequält hat, mein Kaffee könnte kalt geworden sein.«) Im Ernst, wer kauft diese Sachen – silberne Zahnstocher, Unterhosen mit Monogramm oder einen Spiegel mit der Aufschrift »Mann des Jahres«? Wäre ich Geschäftsführer einer dieser Firmen, würde ich eine Tafel aus poliertem Mahagoniholz auf den Markt bringen, die auf einem Messingschild die Aufschrift trüge: »Na, wie findet ihr mich? Ich habe 22,95 Dollar für dieses absolut nutzlose Stück Scheiße bezahlt.« Ich bin sicher, die Dinger würden weggehen wie warme Semmeln.

Obwohl ich tief in meinem Innersten wusste, dass ich es bereuen würde, habe ich in einem Augenblick geistiger Verwirrung selbst einmal etwas aus einem dieser Kataloge bestellt. Es handelte sich um eine kleine Leselampe, die man an sein Buch klemmt, um die an seiner Seite schlummernde Frau nicht zu stören. In dieser Beziehung war die Lampe ein voller Erfolg, denn sie hat kaum funktioniert. Ihr absurd schwacher Lichtstrahl erreichte lediglich die ersten beiden Zeilen einer Seite. Im Katalog sah sie aus wie ein Scheinwerfer, mit dem man auf hoher See hätte Notsignale geben können. Nach ungefähr vier Minuten begann der Strahl zu flackern und erlosch. Ich habe die Lampe nie wieder benutzt. Die Sache ist die, dass ich von vornherein wusste, wie die Geschichte enden würde, nämlich mit einer bitteren Enttäuschung. Sollte ich jemals eine dieser Firmen leiten, würde ich den Leuten eine leere Kiste und die folgenden Zeilen schicken: »Um Ihnen die Enttäuschung zu ersparen, haben wir beschlossen, Ihnen die bestellte Ware nicht zu liefern, denn – wie Sie sehr wohl wissen – funktionieren die Dinger sowieso nicht. Lassen Sie sich dies eine Lehre sein.«

Ich legte den Zwingle-Katalog beiseite und befasste mich mit der Werbung für Lebensmittel und Haushaltsartikel. Da gab es haufenweise verlockende Hochglanzabbildungen von neuen, aufregenden Produkten – Produkten mit Namen wie Hunk o’ Meat Beef Stew ’n’ Gravy (»mit herzhaften, natürlichen und naturidentischen Rindfleischfasern«) und Sniffa-Snax (»Der aufregende, neuartige Snack, den man durch die Nase zu sich nimmt!«) und Country Sunshine Honey-Toasted Wheat Nut ’n’ Sugar Bits Breakfast Cereal (»Jetzt mit vitaminreichem, schokoladenüberzogenem Rosinenersatz!«). Diese neuartigen Produkte faszinierten mich maßlos. Hersteller und Konsumenten amerikanischen Junkfoods haben vor einiger Zeit auf der Suche nach immer neuen Gaumenkitzeln gemeinsam die Grenze des guten Geschmacks überschritten. Nun erinnern sie ein wenig an verzweifelte Fixer, die bereits jede bekannte Droge ausprobiert haben und jetzt so tief gesunken sind, dass sie sich WC-Reiniger in die Adern spritzen, um ihren Rausch zu steigern. In ganz Amerika sieht man zahllose schwammige Gestalten, die die Regale der Supermärkte nach neuen Genüssen absuchen in der Hoffnung, auf ein bisher unerprobtes Produkt zu stoßen, das in ihren Mündern ein Prickeln erzeugen und ihre lädierten Geschmacksknospen erregen könnte, wenn auch nur für einen kurzen Moment.

Der Konkurrenzkampf in dieser Branche ist gewaltig. Die Werbeprospekte für Nahrungsmittel lockten nicht nur mit Preisnachlässen von 50 Cents und dergleichen, die Hersteller honorierten die Rücksendung von zwei oder drei Etiketten ihres Markenzeichens zudem mit einem Hunk-o’-Meat-Badetuch, einem Country-Sunshine-Set, bestehend aus Schürze und Topflappen oder einer Sniffa-Snax-Heizplatte, die den Kaffee warm hält, während man auf Grund eines zu hohen Blutzuckerspiegels gelegentlich das Bewusstsein verliert. Interessanterweise unterschied sich diese Werbung kaum von der Werbung für Hundefutter, nur dass man hier im Allgemeinen auf den Zusatz von Schokoladenaroma verzichtete. Tatsächlich versprach jedes einzelne Produkt – vom WC-Reiniger mit Zitronenduft bis zur parfümierten Mülltüte – einen kurzen, berauschenden Glückszustand. Es ist also kein Wunder, dass man so viele Amerikaner trifft, die einen aus glasigen Augen anblicken. Sie sind ganz und gar mit Schadstoffen voll gepumpt.


Ich fuhr weiter über den Highway 218 in Richtung Süden nach Keokuk. Dieser Teil der Straße war auf meiner Karte als landschaftlich schöne Strecke gekennzeichnet – ein allerdings ziemlich relativer Begriff. Mit den landschaftlich schönen Strecken im Südosten Iowas ist es wie mit einem guten Barry-Manilow-Album: Man muss gewisse Abstriche machen. Verglichen mit einem Nachmittag in einem düsteren Zimmer, war die Fahrt recht nett. Aber verglichen mit, sagen wir, der Küstenstraße entlang der Halbinsel Sorrentine, wirkte diese Strecke doch eher ein wenig fade. Sie erschien mir weder reizvoller noch reizloser als die übrigen Straßen, über die ich an jenem Tag gefahren war. Keokuk ist eine Stadt am Mississippi River und befindet sich in einer breiten Biegung des Flusses, in der sich Iowa, Illinois und Missouri gegenüberliegen. Ich fuhr in Richtung Hannibal in Missouri und hoffte, auf dem Weg zur Brücke im Süden etwas von der Stadt sehen zu können. Doch ehe ich mich’s versah, befand ich mich auf einer Brücke, die in Richtung Osten nach Illinois führte. Das brachte mich so aus der Fassung, dass ich nur einen flüchtigen Blick auf den Fluss warf. Kaum hatte ich den schmierig braun glänzenden Strom wahrgenommen, war ich auch schon in Illinois. Ich hatte mich wirklich darauf gefreut, den Mississippi wiederzusehen. Ihn zu überqueren, war für mich als Kind jedes Mal ein Abenteuer. Dad rief dann immer »Hier ist der Mississippi, Kinder«, und wir drängelten uns am Fenster und fanden uns fast in den Wolken wieder. Die Brücke war so hoch, dass uns der Atem stockte, und der silbrige Fluss tief, tief unter uns zog majestätisch und gelassen seiner Wege. Man konnte meilenweit sehen – in Iowa eine ganz neue Erfahrung. Man sah Frachtkähne, Inseln und kleine Städte an den Ufern. Es war ein wundervoller Anblick. Und plötzlich war man in Illinois, und das Land war wieder flach und voller Kornfelder. Schweren Herzens wurde einem klar, dass das Abenteuer zu Ende war. Das musste als optische Stimulation bis auf weiteres genügen. Nun galt es aufs Neue, Hunderte von Meilen öder Kornfelder hinter sich zu bringen, bevor auch nur ein Hauch von Vergnügen zu erwarten war.

Nun war ich also in Illinois, im platten, langweiligen, kornbestandenen Illinois. Eine kindliche Stimme in mir schrie: »Wann sind wir endlich da? Ich langweile mich. Lasst uns nach Hause fahren. Wann sind wir endlich da?« Voller Zuversicht, bei dieser Etappe der Reise in Missouri angelangt zu sein, hatte ich im Autoatlas schon die Missouri-Seite aufgeschlagen. Missgelaunt hielt ich am Straßenrand und nahm eine Kurskorrektur vor. Direkt vor mir verkündete ein Schild ANSCHNALLEN. DAS IST PFLICHT, IN ILLINOIS. Gegen die Gesetze der Interpunktion zu verstoßen, gilt offensichtlich nicht als Straftat. Ich vertiefte mich in meine Straßenkarten. Wenn ich in Hamilton von diesem Highway abzweigen würde, könnte ich am Ostufer des Flusses entlangfahren und in Quincy die Staatsgrenze von Missouri überqueren. Die Straße war sogar als landschaftlich schöne Strecke gekennzeichnet. Vielleicht würde meine Schussligkeit doch noch zu etwas nütze sein.

Ich folgte der Straße durch Warsaw, ein kleines, heruntergekommenes Städtchen am Ufer des Mississippi. Ein Hügel fiel zum Fluss hin steil ab, um dann flacher und flacher zu werden – und wieder bekam ich den Mississippi nur für einen flüchtigen Moment zu Gesicht. Unvermittelt verwandelte sich die Landschaft in eine weite, angeschwemmte Ebene. Die Sonne stand schon tief am Himmel. Zu meiner Linken erstreckte sich eine Hügelkette, deren vereinzelte Bäume einen ersten Hauch ihrer Herbstfarben zeigten. Rechts der Straße war das Land so flach wie eine Tischplatte. Auf den Feldern wirbelten Mähdrescher Staubwolken auf und waren von früh bis spät damit beschäftigt, die Ernte einzubringen. In weiter Ferne fingen Getreideheber die bleichen Sonnenstrahlen auf und erstrahlten in grellem Weiß, als würden sie von innen erleuchtet. Irgendwo dahinten und immer unsichtbar lag der Fluss.

Ich fuhr weiter. Kein Hinweisschild wies mir den Weg. Schlecht oder gar nicht ausgeschilderte Straßen sind in Amerika alles andere als eine Seltenheit. Besonders auf Landstraßen, die von Nirgendwo nach Nirgendwo führen, muss man sich auf seinen Orientierungssinn verlassen – ein Umstand, der mich, das wollen wir hier nicht vergessen, erst vor wenigen Stunden in den falschen Staat gebracht hatte. Nach meinen Berechnungen musste die Sonne rechts von mir liegen, solange ich in Richtung Süden fuhr (eine Schlussfolgerung, bei der mir die Vorstellung zu Hilfe kam, ich würde in einem winzigen Auto über eine große Amerikakarte steuern). Doch die Straße wand und krümmte sich, so dass die Sonne mal vor mir, mal rechts oder links neben mir auftauchte, als wollte sie mich an der Nase herumführen. Zum ersten Mal an diesem Tag wurde mir wieder bewusst, dass ich mich am Ende der Welt befand, mitten auf einem riesigen Kontinent.

Ohne Vorwarnung verwandelte sich der Highway in eine Schotterpiste. Mit beängstigendem Getöse schlugen Gipssteinchen wie Pfeilspitzen gegen die Unterseite des Wagens. Visionen von zerborstenen Schläuchen und aus allen Ritzen spritzendem, heißem Öl stiegen in mir auf. Mich selbst sah ich schon neben einem qualmenden, zischenden Auto am Rand einer verlassenen Straße stehen. Die Sonne hatte inzwischen den Horizont erreicht und tauchte den Himmel in ein blasses Rosa. Mit einem unbehaglichen Gefühl in der Magengegend fuhr ich weiter und stellte mich darauf ein, die Nacht unter den Sternen zu verbringen, in Gesellschaft von hundeähnlichen Tieren, die an meinen Füßen schnüffelten, und Schlangen, die es sich auf meinem Hosenbein gemütlich machten. Vor mir auf der Straße nahm ein näher kommender Staubsturm die Gestalt eines Pick-up-Trucks an. Er raste mit höllischer Geschwindigkeit an mir vorbei, schleuderte steinerne Geschosse gegen meinen Wagen, die an die Seiten und gegen die Fenster prasselten, und ließ mich dann in einer Staubwolke treibend zurück.

Hilflos in den Dunst starrend, holperte ich weiter. Gerade rechtzeitig, um zu erkennen, dass gute fünf Meter vor mir eine Kreuzung mit Stoppschild lag, wurde die Sicht wieder klar. Ich fuhr mit einer Geschwindigkeit von fünfzig Meilen pro Stunde, hatte also auf einer Schotterstraße einen Bremsweg von ungefähr drei Meilen. Ich trat mit aller Kraft in die Bremsen und kreischte wie Tarzan, wenn er eine Liane verfehlt. Der Wagen geriet ins Schleudern, rutschte am Stoppschild vorbei auf einen asphaltierten Highway und kam dort mit sanftem Schaukeln zum Stehen. In diesem Augenblick ertönte die gewaltige Hupe eines gigantischen Sattelschleppers, der mit viel Getöse und Lichthupe an mir vorbeisauste und den Wagen erneut zum Schaukeln brachte. Wäre ich drei Sekunden früher auf den Highway geschlittert, hätte der Truck mich und den Wagen zu einem Etwas von der Größe eines Brühwürfels zermalmt. Ich stieg aus, um den Schaden zu begutachten. Es sah aus, als wäre das Auto im Sturzflug mit Mehl bombardiert worden. An einigen Stellen war der Lack abgesprungen, und das blanke Metall schimmerte durch. Ich dankte Gott, dass meine Mutter ein gutes Stück kleiner war als ich. Ich seufzte und fühlte mich plötzlich allein und weit weg von zu Hause. Dann bemerkte ich ein Straßenschild, das den Weg nach Quincy anzeigte. Der Wagen war in der richtigen Richtung zum Stehen gekommen. Wenigstens etwas.


Genug für heute. Es war höchste Zeit für eine Pause. An der Straße lag ein Städtchen, das ich aus Angst, seine Bürger könnten sich in meinen Erzählungen wiedererkennen und mich vor Gericht bringen oder mir einen Besuch abstatten, um mich mit ihren Baseballkeulen zu traktieren, vorsorglich Dullard nennen werde. Am Stadtrand stand ein betagtes Motel. Es sah zwar ziemlich schäbig aus, aber da sich in seinem Vorgarten keine verkohlten Möbelstücke türmten, konnte ich davon ausgehen, dass es sich um eine nicht ganz so miese Absteige handelte, wie mein Dad sie gewählt hätte. Ich bog in die mit Kies bestreute Auffahrt und ging hinein. An der Rezeption saß eine Frau von etwa fünfundsiebzig Jahren. Sie trug eine schmetterlingsförmige Brille und eine Bienenkorbfrisur und war in eines dieser Bücher vertieft, in dem man aus Unmengen von Buchstaben Wörter zusammenstellen musste. Ich glaube, es hieß »Wörterpuzzle für Schwachköpfe«.

»Ja, bitte?«, murmelte sie ohne aufzusehen.

»Ich hätte gern ein Zimmer für die Nacht.«

»Das macht achtunddreißig Dollar und fünfzig Cents«, antwortete sie gierig und ließ ihren Stift auf das Wort YUP fallen.

Ich war verblüfft. Zu meiner Zeit kostete ein Motelzimmer so um die zwölf Dollar. »Ich will das Zimmer nicht kaufen«, erklärte ich. »Ich will nur eine Nacht darin schlafen.«

Über den Rand ihrer Brille hinweg sah sie mich ernst an. »Das Zimmer kostet achtunddreißig Dollar und fünfzig Cents. Pro Nacht. Plus Steuern. Wollen Sie es, oder wollen Sie es nicht?« Sie hatte einen unangenehmen Akzent und verlängerte jedes Wort um eine zusätzliche Silbe.

Wir wussten beide, dass das nächste Motel meilenweit entfernt war. »Ich nehme es«, sagte ich zerknirscht, trug mich ins Gästebuch ein und stapfte über den Kiesweg zu meiner suite du nuit. Anscheinend war ich der einzige Gast. Ich betrat das Zimmer und sah mich um. Da stand ein Schwarzweißfernseher, der offensichtlich nur einen Kanal empfangen konnte, und an einer Stange hingen drei verbogene Kleiderbügel. Der Badezimmerspiegel hatte einen Sprung, und der Duschvorhang passte nicht. An der Toilettenbrille hatte man einen Papierstreifen mit der Aufschrift »Zu Ihrem Schutz desinfiziert« angebracht, doch im Becken darunter schwamm ein Zigarettenstummel in einer Nikotinlache. Dad hätte sich hier wohlgefühlt.

Ich duschte – besser gesagt, ich ließ Wasser aus einer Düse in der Wand auf meinen Kopf tröpfeln – und verließ das Zimmer, um die Stadt zu erkunden. In einem Restaurant mit dem passenden Namen Chuck’s bestellte ich Knorpel und gebackene Klöße. Ich hätte es nicht für möglich gehalten, irgendwo im Mittleren Westen vollkommen ungenießbares Essen vorgesetzt zu bekommen, doch Chuck belehrte mich eines Besseren. Es war das schlechteste Essen, das ich jemals zu mir genommen hatte, und das, obwohl ich in England lebte. Das Gericht wies alle Eigenschaften von Kaugummi auf, nur von Wohlgeschmack konnte keine Rede sein. Sogar jetzt noch, wenn ich rülpse, spüre ich es wieder auf der Zunge.

Anschließend machte ich einen Bummel durch die Stadt. Es gab nicht viel zu sehen. Dullard bestand im Großen und Ganzen aus einer Straße mit einem Getreidesilo und Bahngleisen an ihrem einen und meinem Motel am anderen Ende. Dazwischen lagen ein paar Tankstellen und Lebensmittelläden. Jeder hier betrachtete mich mit äußerstem Interesse. Vor Jahren, in der Blüte meiner Jugend, als ich noch leicht zu beeindrucken war, hatte ich einmal eine beunruhigende Geschichte von Richard Matheson gelesen. Sie handelte von einem abgelegenen Dorf, dessen Einwohner Jahr für Jahr darauf warteten, dass sich ein einsamer Fremder zu ihnen verirrte, den sie dann anlässlich ihres alljährlichen Barbecues rösten konnten. Die Leute hier musterten mich mit Barbecue-Augen.

Mutig betrat ich eine finstere Spelunke namens Vern’s Tap und setzte mich an die Bar: Abgesehen von dem einbeinigen alten Mann hinten in der Ecke war ich der einzige Gast. Die Bardame war freundlich. Sie trug eine schmetterlingsförmige Brille und eine Bienenkorbfrisur. Ich sah auf den ersten Blick, dass ich eine Prostituierte vor mir hatte – das Freudenmädchen von Dullard, im Dienst seit ungefähr 1931. Mit unsichtbaren Lettern stand »Ready for Sex« auf ihrem Gesicht geschrieben, doch ihr Körper warnte »Aber die Kotztüte nicht vergessen«. Irgendwie hatte sie es geschafft, ihr dickes Hinterteil in hautenge, knallrote Torerohosen zu zwängen und eine knappe Bluse über ihren Busen zu streifen. Sie sah aus, als hätte sie versehentlich in den Kleiderschrank ihrer Enkelin gegriffen. Sie war etwa sechzig. Es war wirklich scheußlich. Ich verstand, warum sich der Einbeinige in die hinterste Ecke verzogen hatte.

Ich fragte sie, womit sich die Leute in Dullard so die Zeit vertrieben. »Denkst du an was Bestimmtes, Honey?«, erwiderte sie und warf mir aufreizende Blicke zu. Die »Ready for Sex«-Signale flackerten. Eine Situation, die mich verunsicherte. Ich war nicht daran gewöhnt, von Frauen umworben zu werden. Doch irgendwie habe ich immer geahnt, dass eines Tages der Moment kommen würde, und ich wusste: Wenn es so weit war, würde es an einem Ort wie diesem geschehen irgendwo in der tiefsten Provinz von Illinois mit einer sechzig Jahre alten Großmutter. »Na ja, vielleicht gibt es hier so was wie ein Theater oder gelegentlich ein internationales Schachturnier«, krächzte ich. Nachdem wir damit geklärt hatten, dass meine Liebe zu ihr nur rein platonischer Natur sein konnte, wurde sie ziemlich vernünftig« und sogar noch liebenswerter. Offen und in allen Einzelheiten erzählte sie mir aus ihrem Leben, das aus einer Schwindel erregenden Aneinanderreihung von Ehen mit Typen zu bestehen schien, die entweder im Gefängnis saßen oder bei Schießereien ums Leben gekommen waren. Sie machte atemberaubend ehrliche Enthüllungen wie: »Also, Jimmy hat seine Mutter getötet. Ich weiß bis heute nicht, warum. Aber Curtis hat nie jemanden umgebracht. Nur einmal aus Versehen. Da überfiel er gerade eine Tankstelle und sein Gewehr ging los. Und Floyd – er war mein vierter Mann – hat auch noch nie jemanden umgebracht. Er brach den Leuten immer nur den Arm, wenn sie ihm auf die Nerven gingen.«

»Bei dir muss es ja interessante Familientreffen geben«, wagte ich höflich zu bemerken.

»Ich weiß nicht, was aus Floyd geworden ist«, fuhr sie fort. »Er hatte genau hier am Kinn so eine kleine Falte. Mit der sah er aus wie Kirk Douglas. Er war wirklich süß, aber er konnte ganz schön wütend werden. Hier auf dem Rücken habe ich eine sechzig Zentimeter lange Narbe. Da hat er mich mal mit ’nem Eispickel erwischt. Wülste sehen?« Sie begann, ihre Bluse hochzuziehen, was ich gerade noch verhindern konnte. Sie erzählte und erzählte. Hin und wieder grinste der Alte in der Ecke, der uns offensichtlich belauschte, zu mir herüber und zeigte seine großen, gelben Zähne. Ich schätze, Floyd hat ihm das Bein ausgerissen, als ihm sein Gegrinse auf die Nerven ging. Am Ende unserer Unterhaltung fragte mich die Bardame mit einem Seitenblick, als hätte ich mich heimlich über sie lustig gemacht: »Sag mal, Honey, wo kommst du eigentlich her?«

Ich hatte keine Lust, ihr meine Lebensgeschichte zu erzählen, und sagte nur: »Aus Großbritannien«.

»Also das muss man dir lassen, Honey. Für einen Ausländer sprichst du richtig gut Englisch.«

Anschließend zog ich mich mit einem Sixpack in mein Motelzimmer zurück. Dort machte ich die Entdeckung, dass erst vor kurzem ein Pferd in meinem Bett gelegen haben musste. Der Geruch und eine ungeheure Mulde in der Matratze führten mich zu dieser Erkenntnis. Das Bett war dermaßen durchgelegen, dass ich den Fernseher am Fußende nur sehen konnte, wenn ich meine Beine so weit wie möglich spreizte. Es kam mir vor, als läge ich in einer Schubkarre. Die Nacht war heiß, und die altersschwache Klimaanlage im Fenster trug, obwohl sie wie ein Stahlwerk lärmte, zur Senkung der Zimmertemperatur nur noch vereinzelte, äußerst klägliche Schnaufer kühler Luft bei. So gut wie bewegungsunfähig, legte ich mir den Sixpack auf die Brust und trank ein Bier nach dem anderen. Im Fernsehen lief eine Talkshow unter der Leitung eines geschniegelten Lackaffen mit Blazer, dessen Namen ich vergessen habe. Er war einer dieser Typen, die der Pflege ihrer Haartracht oberste Priorität einräumen. Er schäkerte dümmlich mit dem Bandleader, der natürlich einen silbergrauen Spitzbart trug, und wandte sich dann der Kamera zu, um feierlich zu verkünden: »Scherz beiseite, Leute. Wer jemals ein wirkliches Problem oder Ärger im Büro hatte, oder wer mit dem Leben einfach nicht zurande kommt, der wird sich ganz sicher sehr dafür interessieren, was unser erster Gast heute Abend zu sagen hat. Ladys and Gentlemen: Dr. Joyce Brothers.

Als die Band eine muntere Melodie anstimmte und Joyce Brothers die Bühne betrat, saß ich schlagartig so senkrecht, wie man in diesem Bett nur sitzen konnte, und schrie »Joyce! Joyce Brothers!«, als wäre sie eine alte Freundin von mir. Ich konnte es nicht fassen. Ich hatte Joyce Brothers seit Jahren nicht gesehen. Sie hatte sich kein bisschen verändert. Nicht ein Haar auf ihrem Kopf sah anders aus als bei ihrem Vortrag über die Menstruationsblutung, bei dem ich sie 1962 zuletzt gesehen hatte. Es wirkte, als hätte man sie fünfundzwanzig Jahre lang in einer Kiste aufbewahrt. So unmittelbar würde ich eine Reise durch die Zeit wohl nie wieder erleben. Ich schaute zu, wie sie und Mr. Lackaffe über Penisneid und Eileiter plauderten, und erwartete gespannt, dass er zu ihr sagen würde: »Und nun eine Frage, Joyce, von der ganz Amerika wollte, dass ich sie dir stelle: Welche Präparate benutzt du, um dir dein jugendliches Aussehen zu bewahren? Und wann gedenkst du, diese Frisur zu ändern? Und wie erklärst du es dir, dass Talkshow-Typen wie ich dich nach wie vor wieder und wieder in ihre Shows in ganz Amerika einladen?« Die Antwort liegt auf der Hand, denn offen gesagt ist Joyce Brothers ziemlich langweilig. Schaltet man die Johnny Carson Show ein und sie befindet sich unter den Gästen, dann ist klar, dass die ganze Stadt auf einer Riesenparty oder einer Premiere versammelt sein muss. Joyce Brothers ist wie das Fleisch und Blut der tiefsten Provinz von Illinois.

Doch wie von den meisten ganz und gar langweiligen Dingen ging auch von ihr etwas wunderbar Tröstliches aus. Ihr heiteres Antlitz in der Flimmerkiste am Fußende meines Bettes strahlte eine eigenartige Wärme aus und versetzte mich in einen Zustand von Einklang und Frieden mit der Welt. In diesem lausigen Motel hier draußen, inmitten einer weiten, leeren Ebene, begann ich zum ersten Mal, mich zu Hause zu fühlen. Irgendwie wusste ich, dass ich nach dem Erwachen dieses fremdartige Land in einem anderen, aber seltsam vertrauten Licht sehen würde. Glücklich schlief ich ein und träumte vom schönen Illinois, vom wogenden Mississippi River und von Dr. Joyce Brothers. Und auch das hört man nicht oft jemanden sagen.