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Am nächsten Morgen fuhr ich wieder auf den Highway 127 South. Auf meiner Karte war dieser Teil der Straße als landschaftlich schöne Strecke verzeichnet. In diesem Fall sollte die Karte Recht behalten. Die Straße führte durch eine reizvolle, flaschengrüne Hügellandschaft, durchsetzt von offenbar gut gehenden Farmen, von Eichen- und Buchenwäldern – schöner als alles, was ich je von Illinois gesehen hatte. Obwohl ich Richtung Süden fuhr, hatte der Herbst das Laub der Bäume hier schon stärker verfärbt als anderswo. Die Hänge leuchteten in Senfgelb, in mattem Orange und blassem Grün. Ein bezaubernder Anblick, dem der klare, sonnige Tag eine angenehme Frische verlieh. Hier, zwischen diesen Hügeln, könnte ich leben, dachte ich.
Es dauerte eine Weile, bis ich merkte, was in dieser Landschaft fehlte. Es waren die Reklametafeln. In meiner Kindheit standen neun mal viereinhalb Meter große Reklametafeln in den Feldern entlang jeder Straße. In Staaten wie Iowa und Kansas waren sie so ungefähr das Einzige, das dem Auge Abwechslung bot. Während einer dieser albernen Kampagnen, für die sich Präsidentengattinnen zu engagieren pflegen, ließ Lady Bird Johnson in den sechziger Jahren im Rahmen eines Highway-Verschönerungsprogramms die meisten der Werbeflächen entfernen. Inmitten der Rocky Mountains war das zweifellos eine gute Sache, doch hier draußen, im einsamen Herzen des Landes, leisteten Reklametafeln praktisch einen Dienst an der Allgemeinheit. Schon aus einer Meile Entfernung zogen sie die Aufmerksamkeit auf sich. Gebannt verfolgte man, wie sie näher rückten, und wollte wissen, was auf ihnen geschrieben stand. Je eintöniger die Landschaft entlang der Straße wurde, desto mehr gewannen sie an Bedeutung. Es war ungefähr wie mit den kleinen Windmühlen in Pella: besser als gar nichts.
Aufwendigere Reklametafeln schmückten sich mit einem dreidimensionalen Element. Warb man für ein Milchprodukt, ragte der Kopf einer Kuh aus der Tafel. Handelte es sich um Werbung für eine Kegelbahn, hoben sich eine Bowlingkugel und die verstreut herumliegenden Kegel räumlich von der Fläche ab. Manchmal kündigten die Tafeln auch nahende Attraktionen an. Über Worten wie BESUCHEN SIE DIE SPUKHÖHLEN! OK-LAHOMAS GROSSE FAMILIENATTRAKTION! NUR 69 MEILEN! schwebte dann vielleicht eine Geistergestalt. Wenige Meilen später wurde ein weiteres Schild verkünden: GEBÜHRENFREIE PARKPLÄTZE AN DEN SPUKHÖHLEN! NUR 67 MEILEN! So ging es weiter. Schild für Schild versprach man einen so aufregenden und lehrreichen Nachmittag, wie ihn sich eine Familie – zumindest in Oklahoma – nur wünschen konnte. All diese Versprechungen waren illustriert mit Darstellungen von unterirdischen Kammern, unheimlich beleuchtet und so groß wie Kathedralen, in denen Stalaktiten und Stalagmiten auf wunderbare Weise die Gestalt von Hexenhäusern, brodelnden Kesseln, Fledermäusen und von Caspar, dem Freundlichen Geist, angenommen hatten. Alles machte einen äußerst vielversprechenden Eindruck, so dass wir Kinder auf dem Rücksitz bald begannen, uns mit Nachdruck dafür einzusetzen, dort anzuhalten und die Sache aus der Nähe zu betrachten. Einer nach dem anderen flehte aufs Ergreifendste: »Oh, bitte, Dad, oh, biiiitte.«
Im Laufe der folgenden sechzig Meilen würde die Haltung meines Vaters in dieser Angelegenheit die verschiedensten Stadien durchlaufen. Es begann gewöhnlich mit einer schlichten Weigerung und der abgedroschenen Begründung, es sei bestimmt sehr teuer, und überhaupt hätten wir uns seit dem Frühstück so unmöglich benommen, dass derartige Extra-Vergnügungen nicht zu rechtfertigen seien, bis er dann dazu übergehen würde, unser Flehen geflissentlich zu überhören (diese Phase konnte bis zu elf Minuten dauern). Anschließend würde er sich diskret an meine Mutter wenden, sie leise nach ihrer Meinung fragen, eine unbestimmte Antwort erhalten und uns erneut ignorieren, augenscheinlich in der Hoffnung, wir würden die ganze Geschichte vergessen und endlich aufhören zu quengeln (eine Minute, zwölf Sekunden). Anschließend würde er sagen, dass er vielleicht dorthin führe, wenn wir uns dazu entschließen könnten, uns von nun an anständig zu benehmen, und zwar möglichst ein für alle Mal, um dann wiederum zu behaupten, er fahre definitiv nicht dorthin, da wir uns ja schon wieder zankten, und das, obwohl wir noch nicht einmal am Ziel seien. Aber irgendwann war es dann so weit, und er kapitulierte. Mal schreiend vor Wut, mal mit ersterbender Stimme würde er verkünden: »Also gut, fahren wir hin!« Wir wussten immer, wann wir Dad so weit hatten, denn kurz bevor er unserem Drängen nachgab, verfärbte sich sein Hals rot. Es war immer dasselbe. Immer setzten wir am Ende unseren Willen durch. Ich habe nie verstanden, warum er nicht von vornherein unser Flehen erhörte und sich auf diese Weise einen dreißigminütigen Nervenkrieg ersparte. Stets fügte er eilig hinzu: »Aber wir bleiben nur eine halbe Stunde. Und es wird nichts gekauft. Ist das klar?« Wahrscheinlich gab ihm das das Gefühl zurück, die Dinge unter Kontrolle zu haben.
Während der letzten zwei, drei Meilen warb alle paar Hundert Meter ein Schild für die Spukhöhlen, und wir gerieten in fieberhafte Aufregung. Endlich tauchte eine Werbewand von der Größe eines Schlachtschiffes auf, und ein gigantischer Pfeil zeigte uns an, dass wir nun rechts abbiegen und weitere achtzehn Meilen fahren müssten. »Achtzehn Meilen!«, würde Dad aufschreien. Die Adern auf seiner Stirn schwollen an, und das Unvermeidliche nahm seinen Lauf. Nach achtzehn Meilen Geholper über eine unbefestigte Straße mit knietiefen Wagenspuren würde es kein Hinweisschild zu den Spukhöhlen mehr geben. Tatsächlich würde die Straße nach neunzehn Meilen an einer einsamen, unbeschilderten Kreuzung enden, und Dad würde sich verfahren. Hatten wir die Spukhöhlen dann schließlich doch irgendwie gefunden, würden sie sich als völlig heruntergekommen und absolut uninteressant erweisen. Die feuchten, kaum beleuchteten und nach Pferdekadavern stinkenden Höhlen waren so groß wie eine Garage, und die Stalaktiten und Stalagmiten hatten nicht die geringste Ähnlichkeit mit Hexenhäusern und Caspar, dem Geist. Sie sahen eher aus wie – na ja, wie Stalaktiten und Stalagmiten. Es war ein riesengroßer Reinfall. Um uns über die Enttäuschung hinwegzutrösten, gab es nur eine Möglichkeit: Dad musste jedem von uns im angrenzenden Souvenirladen ein Bowie-Messer aus Gummi und eine Tüte mit Plastikdinosauriern kaufen. Meine Schwester und ich warfen uns zu Boden und stießen weinerliche Klagelaute aus, um ihn daran zu erinnern, welch einen Schaden übermächtiger Schmerz bei einem Kind anrichten kann, wenn man nicht sofort etwas dagegen unternimmt.
Als die Sonne über dem braunen, flachen Oklahoma unterging und Dad, um Stunden hinter seinen Zeitplan zurückgeworfen, sich mit der schier unlösbaren Aufgabe herumschlug, ein Zimmer für die Nacht zu finden (wobei er tatkräftig von meiner Mutter unterstützt wurde, die die Karten falsch las und fast jedes näher kommende Gebäude als potenzielles Motel identifizierte), vertrieben wir Kinder uns die Zeit mit geräuschvollen, grauenhaften Messerstechereien auf dem Rücksitz, die wir von Zeit zu Zeit unterbrachen, um zu heulen und von erlittenen Verletzungen zu berichten oder über Hunger, Langeweile und volle Blasen zu klagen. Es war die Hölle. – Heute säumen kaum noch Reklametafeln die Highways. Welch ein schmerzlicher Verlust.
Ich nahm Kurs auf Cairo, das man hier Kay-ro ausspricht. Ich weiß nicht, warum. Im Süden und im Mittleren Westen hört man das häufig. In Kentucky sprechen sie Athens wie AY-thens und Versailles wie Vur-SAYLES aus. Bolivar, Missouri, ist BAW-liv-er. Madrid, Iowa, ist MAD-rid. Ich weiß nicht, ob die Leute die Namen ihrer Städte so aussprechen, weil sie rückständig und ungebildet sind und es nicht besser wissen, oder ob sie es besser wissen, sich aber nicht darum kümmern, dass alle Welt denkt, sie seien rückständig und ungebildet. Auf Fragen dieser Art wird man von den Betreffenden selbst wohl kaum eine Antwort erhalten. Trotzdem fragte ich an einer Tankstelle in Cairo den alten Mann, der den Tank meines Wagens füllte, warum sie hier den Namen ihrer Stadt so ungewöhnlich aussprachen.
»Weil das der Name ist«, erklärte er mir, als hätte er es mit einem Idioten zu tun.
»Aber das Kairo in Ägypten wird Kei-ro ausgesprochen.«
»Das habe ich auch gehört«, stimmte der Mann zu.
»Und die meisten Leute denken an Kei-ro, wenn sie den Namen lesen, oder?«
»Nicht in Kay-ro«, sagte er und wurde ein wenig heftig.
Da es sinnlos erschien, dieses Gespräch fortzusetzen, beließ ich es dabei. Ich weiß bis heute nicht, warum die Leute ihr Cairo wie Kay-ro aussprechen. Ebenso rätselhaft ist mir, wie Bürger eines freien Landes sich dazu entschließen können, in einem solchen Kaff zu leben, wie immer man seinen Namen auch ausspricht. Cairo liegt an der Stelle, an der der Ohio River, selbst eine der bedeutenden Arterien des Landes, in den Mississippi River mündet und dessen ohnehin imposante Breite verdoppelt. Man möchte meinen, dass am Zusammenfluss zweier so gewaltiger Flüsse eine ebenso gewaltige Stadt entstehen müsse, doch Cairo ist lediglich ein mittelloses Städtchen mit gerade mal 6000 Einwohnern. Verfallende Häuser und Mietskasernen, die nie einen Anstrich gesehen hatten, säumten die Zufahrtsstraße, und auf den Veranden saßen alte schwarze Männer in morschen Sofas oder Schaukelstühlen und warteten auf den Tod oder das Abendessen, je nachdem, was sie zuerst ereilte.
Das mit den Schwarzen überraschte mich. Mietskasernen und von Schwarzen bevölkerte Veranden findet man im Mittleren Westen im Allgemeinen nur in Großstädten wie Chicago und Detroit. Doch dann wurde mir klar, dass ich eigentlich schon nicht mehr im Mittleren Westen war. Die Mundart des südlichen Illinois hat mehr mit dem Dialekt des Südens gemein als mit dem des Mittleren Westens. Ich befand mich schon fast auf der Höhe von Nashville. Mississippi war ganze 160 Meilen entfernt. Und von Kentucky trennte mich nur noch der Fluss, den ich nun auf einer langen, hohen Brücke überquerte. Von hier bis hinunter nach Louisiana ist der Mississippi ungeheuer breit. Er wirkt friedlich und träge, steckt aber voller Gefahren. Alljährlich fordert er Hunderte von Menschenleben. Ein Farmer, der auf den Fluss hinausfährt, um zu fischen, starrt das Wasser an und denkt: Ich möchte wissen, was passiert, wenn ich meinen kleinen Zeh da reinstecke, und das Nächste, was man von ihm hört, ist, dass seine aufgedunsene Leiche – noch im-mer mit seltsam gleichmütigem Gesichtsausdruck – im Golf von Mexiko treibend aufgefunden wurde. Der Mississippi ist heimtückisch und wild. Als er 1927 über die Ufer trat, überschwemmte er ein Gebiet von der Größe Schottlands. Das nennt man einen ernst zu nehmenden Fluss.
In Kentucky begrüßten mich überall riesige Schilder mit der Aufschrift FEUERWERKSKÖRPER! In Illinois sind private Feuerwerke per Gesetz verboten, in Kentucky nicht. Wer also in Illinois lebt und sich die Finger verbrennen will, fährt über den Fluss nach Kentucky. Früher sah man viel mehr Schilder dieser Art. War in einem Staat die Verkaufs steuer auf Zigaretten niedriger als in einem Nachbarstaat, installierten alle Tankstellen und Cafés im Grenzgebiet große Schilder auf ihren Dächern mit den Worten STEUERFREIE ZIGARETTEN! EINE PACKUNG 40 CENTS! KEINE STEUERN!, und alle Leute aus dem Nachbarstaat kamen und beluden ihre Autos mit Zigaretten zu Schleuderpreisen. Als in Wisconsin zum Schutz der einheimischen Milchbauern der Verkauf von Margarine verboten war, strömten sämtliche Bürger von Wisconsin, die Milchbauern inbegriffen, nach Iowa, wo allerorten große Schilder verkündeten: MARGARINE ZU VERKAUFEN! Später strömten sämtliche Bürger von Iowa nach Illinois, weil es dort keine Verkaufssteuern gab, oder nach Missouri, weil man dort eine um fünfzig Prozent niedrigere Verkaufssteuer auf Benzin erhob. Ein weiteres Phänomen war die unterschiedliche Handhabung der Sommerzeit. So konnte es passieren, dass im Sommer die Uhren in Illinois zwei Stunden früher als in Iowa und eine Stunde später als in Indiana anzeigten. Alles war auf irgendeine Weise verrückt. Dieses Durcheinander veranschaulichte jedoch eindrucksvoll, inwiefern die Vereinigten Staaten tatsächlich aus fünfzig selbstständigen Ländern bestanden (damals achtundvierzig). Seitdem scheint sich vieles geändert zu haben, und ich sah mich mit weiteren schmerzlichen Verlusten konfrontiert.
Ich fuhr durch Kentucky und dachte über schmerzliche Verluste nach, als mir schlagartig der schmerzlichste aller Verluste bewusst wurde – die Burma-Shave-Schilder. Burma Shave war eine Rasiercreme in der Tube. Ich weiß nicht, ob sie überhaupt noch produziert wird. Eigentlich kenne ich niemanden, der sie jemals benutzt hat. Jedenfalls stellte die Herstellerfirma vor Jahren raffinierte Schilder entlang den Highways auf. Sie standen geschickt verteilt in Fünfergruppen beieinander und lasen sich im Vorbeifahren wie kleine Gedichte: IF HARMONY / IS WHAT YOU CRAVE / THEN GET / A TUBA / BURMA SHAVE. Oder: BEN MET / ANNA / MADE A HIT / NEGLECTED BEARD / BEN-ANNA SPLIT. Bereits in den fünfziger Jahren gehörten die Burma-Shave-Schilder schon fast der Vergangenheit an. Verteilt auf all die Tausenden von Meilen, die wir damals zurückgelegt haben, kann ich mich nur an etwa ein halbes Dutzend dieser Schilder erinnern. Inmitten der eintönigen Landschaft waren sie von unschätzbarem Unterhaltungswert und zehnmal besser als Reklametafeln und Pellas kleine Windmühlen, nur zu übertreffen von Massenkarambolagen und schweren Unfällen.
Kentucky erwies sich als ebenso hügelig, sonnig und hübsch wie das südliche Illinois. Nur die Häuser wirkten hier weniger gepflegt und wohlhabend als im Norden. Stählerne Brücken führten über sich windende Schluchten, und Unmengen toter Tiere klebten auf der Straße. Ich sah viele bewaldete Täler. In jedem Tal stand eine kleine, weiße Baptistenkirche, und unzählige Schilder entlang der Straße erinnerten mich daran, dass ich mich nun im Bible Belt, dem Land der Bibel, befand: JESUS, DER ERLÖSER. LOBET DEN HERRN. CHRISTUS IST KÖNIG.
Ehe ich mich’s versah, lag Kentucky hinter mir. Der Staat verjüngt sich nach Westen hin zu einer Spitze, und ich durchfuhr Kentucky fast an seiner schmalsten Stelle. Zwischen der nördlichen und der südlichen Grenze lagen ganze vierzig Meilen. Für amerikanische Verhältnisse dauerte es also nicht länger als einen Augenblick, und schon war ich in Tennessee. Man durchquert nicht alle Tage einen Staat in weniger als einer Stunde. Tennessee würde mich nicht viel länger aufhalten. Die Form dieses Staates erinnert an ein in die Länge gezogenes Trapez. Während sich Tennessee über mehr als 500 Meilen von Ost nach West erstreckt, misst der Staat von Nord nach Süd gerade 100 Meilen. Landschaftlich unterscheidet er sich kaum von Kentucky und Illinois – von Flüssen durchzogenes, hügeliges Acker- und Weideland, bevölkert von religiösen Fanatikern. Als ich vor einem Burger King in Jackson aus dem Wagen stieg, war ich überrascht, wie warm es war. Achtunddreißig Grad laut Anzeigetafel einer Drive-in Bank gegenüber, gute zwanzig Grad wärmer als am Morgen in Carbondale. Ein Schild im Hof einer Kirche nebenan bestätigte mir, dass ich den Bible Belt längst noch nicht verlassen hatte. CHRISTUS IST DIE ANTWORT stand darauf zu lesen. (Die Frage ist natürlich, was sie sagen, wenn sie sich mit dem Hammer auf den Daumen schlagen.) Ich betrat den Burger King. Das Mädchen am Tresen fragte: »Kin I hep yew?«, was wohl so viel bedeuten sollte wie »Kann ich Ihnen helfen?« Ich war in einem anderen Land.