22
Am nächsten Morgen kündigte der Mann vom Wetteramt im Fernsehen an, dass in den Rockies mit beträchtlichen Schneefällen zu rechnen sei, worüber er sich persönlich zu freuen schien. Jedenfalls funkelten seine Augen vor lauter Schadenfreude. Seine Karte zeigte ein Schlechtwettergebiet, das wie ein Fluch fast über dem gesamten Westen hing. Viele Straßen wären gesperrt, Reiseinformationen würden noch bekannt gegeben, sagte er, während über seine Mundwinkel die Spur eines Lächelns huschte. Warum sind die Leute vom Wetteramt im Fernsehen immer so boshaft? Selbst wenn sie versuchen, aufrichtiges Mitgefühl zu zeigen, merkt man, dass es nur Fassade ist, hinter der sich ein Mensch verbirgt, der seine Kindheit damit verbracht hat, Insekten die Flügel auszureißen und zu kichern, wann immer ein anderes Kind von einem Auto angefahren wurde.
Ich warf all meine Pläne über den Haufen und beschloss, nach Süden in die kargen Berge von New Mexico zu fahren, die laut Wetterkarte von dem Schlechtwettergebiet verschont bleiben sollten. Eine meiner Nichten, die ich seit Jahren nicht gesehen hatte, lebte in Santa Fe. Sie studierte an einem kleinen, exklusiven College, und ich war sicher, sie würde entzückt sein, wenn vor den Augen all ihrer Freunde auf dem Campus ein schmuddeliger, übergewichtiger Mann in einem billigen, staubigen Auto vorfahren, herausklettern und sie in die Arme schließen würde. Also machte ich mich sogleich auf den Weg.
Ich folgte der US 285 gen Süden. Der Highway verläuft entlang der nordamerikanischen Wasserscheide und führt durch eine Landschaft von atemberaubender natürlicher Schönheit, übersät mit Schandflecken menschlichen Ursprungs – mit Abstellplätzen für Lkw-Anhänger, mit unansehnlichen Siedlungen, sogar mit Schrottplätzen. Jede Stadt bestand überwiegend aus einer Ansammlung von Fastfood-Restaurants und Tankstellen, und überdimensionale Schilder mit Aufschriften wie CAMPINGPLATZ, MOTEL, FLOSSFAHRTEN säumten die Straße.
Je weiter ich nach Süden kam, desto karger wurde das Land. Auch die Schilder verschwanden nach einer Weile. Hinter Saguache verwandelte sich die weite Ebene zwischen den Bergen in ein Meer aus violettem Salbei, durchsetzt von Flecken brauner, unfruchtbarer Erde. Mit Hilfe von gewaltigen Berieselungsanlagen hatte man dem Gestrüpp hier und da ein grünes Feld abgerungen, in dessen Mitte sauber und ordentlich eine Farm stand. Mit Ausnahme dieser vereinzelten Oasen war die Landschaft bis hin zu den Bergen in der Ferne so eintönig wie der Grund eines ausgetrockneten Meeres. Zwischen Saguache und Monte Vista verläuft eine der zehn oder zwölf längsten Strecken schnurgerader Straße in Amerika: fast vierzig Meilen Highway ohne eine Kurve, ohne einen einzigen Knick. Das mag sich noch erträglich anhören, aber unterwegs scheint die Straße schier endlos zu sein. Nirgends kommt man sich so verloren vor wie auf einem Highway, der einem beharrlich in die Ferne rückenden Fluchtpunkt entgegenstrebt. In Monte Vista macht die Straße eine Linkskurve – man richtet sich auf und greift nach dem Lenkrad –, und dann folgen weitere zwanzig Meilen gerader Straße, so gerade wie die Kante eines Lineals. Zwei- oder dreimal in der Stunde kommt man durch einen staubigen Ort, bestehend aus einer Tankstelle, drei Häusern, einem Baum und einem Hund, oder man erreicht eine Stelle, an der sich die Straße leicht krümmt, so dass man das Lenkrad zwei Sekunden lang drei Zentimeter nach rechts oder links ziehen muss – mit mehr Abwechslung ist im Laufe einer Stunde nicht zu rechnen. Während der restlichen Zeit bewegt man keinen Muskel, und das Sitzfleisch wird so taub, als würde es zu einem anderen Körper gehören.
Am frühen Nachmittag passierte ich die Staatsgrenze von New Mexico – einer der Höhepunkte des Tages. Seufzend stellte ich fest, dass auch hier die Landschaft ebenso einschläfernd war wie zuvor in Colorado. Ich schaltete das Radio ein. Da ich jedoch weit von jeder größeren Stadt entfernt war, konnte ich nur vereinzelte, spanischsprachige Sender empfangen. Sie brachten diese Art mexikanischer Musik, wie sie von umherziehenden Musikanten mit Schnurrbärten und großen Sombreros in den Restaurants gespielt wird, in die Highschool-Lehrer ihre Frauen zum dreißigsten Hochzeitstag auszuführen pflegen. In all meinen sechsunddreißig Lebensjahren ist mir niemals in den Sinn gekommen, dass irgendjemand zu seinem Vergnügen mexikanische Musik hören könnte. Hier wurde sie von einem Dutzend Radiostationen geschmettert. Nach jedem Lied plapperte ein Discjockey ein, zwei Minuten lang in Spanisch. Seine Stimme klang, als hätte er sich gerade sein empfindlichstes Körperteil mit einer Schublade eingeklemmt. Es folgte ein Werbespot, der von einem Mann vorgetragen wurde, dessen Stimme noch wehleidiger war – er hatte die schmerzhafte Erfahrung mit der Schublade eindeutig zum wiederholten Male gemacht. Dann wurde das nächste Lied gesendet. Genauso gut konnte es allerdings auch das Lied von vorher gewesen sein. Das ist das Problem mit mexikanischen Musikern. Ihr Repertoire scheint sich auf eine einzige Melodie zu beschränken. Vielleicht erklärt das, weshalb die meisten von ihnen nur von zweitklassigen Restaurants engagiert werden.
In einer winzigen Ortschaft namens Tres Piedras – fast jeder Ort in New Mexico hat einen spanischen Namen – fuhr ich auf den Highway 64 nach Taos, und die Landschaft wurde interessanter. Der Salbei wuchs üppiger, und die Berge nahmen eine dunklere Farbe an. Über den Himmel von Taos und Umgebung ist vieles geschrieben worden. Und er ist wirklich erstaunlich. Noch nie habe ich einen so leuchtend blauen Himmel gesehen. In diesem Teil der Wüste ist die Luft so klar, dass man an manchen Tagen 180 Meilen weit sehen kann; so stand es in meinem Reiseführer. Jedenfalls konnte ich verstehen, weshalb Taos auf Künstler und Schriftsteller eine solche Anziehungskraft ausübt – zumindest verstand ich es, bis ich in Taos selbst angelangt war. Ich hatte eine hübsche kleine Künstlerkolonie erwartet, in der die Leute in Kitteln und mit Staffeleien bepackt umherliefen. Doch es war nichts weiter als eine Touristenfalle. Abgesehen von einigen interessanten Galerien verkauften die meisten Geschäfte hässliche indianische Keramiken, klobige silberne Gürtelschnallen und Postkarten. Aber vor allem war Taos heiß und staubig, und es wimmelte von silberhaarigen Hippies. Dass es noch immer Hippies gab, die natürlich inzwischen Großeltern waren, amüsierte mich. Doch auch das entschädigte nicht für die Strapazen der Anfahrt. Also fuhr ich weiter nach Santa Fe und befürchtete schon, die Stadt würde ähnlich enttäuschend sein. Aber das war sie nicht. Es war sogar eine ausgesprochen schöne Stadt, die mich auf den ersten Blick faszinierte.
Der erste angenehme Eindruck von Santa Fe sind die vielen Bäume. Es gibt Bäume und Rasen und Schatten und kühle Plätze voller Blumen und das beruhigende Plätschern von Wasser. Nach der tagelangen Fahrt durch die dürre Weite des Westens ist die Stadt eine wahre Augenweide. Im Hintergrund zeichnen sich die rötlichen Sangre de Cristo Mountains ab, die ihre ganze Schönheit erst bei Sonnenuntergang entfalten, wenn sie – scheinbar von innen erleuchtet – wie eine Kürbislaterne zu glühen beginnen. Die Luft war warm und sauber. Santa Fe ist die älteste ständig bewohnte Stadt Amerikas. Sie wurde 1610 gegründet – ein Jahrzehnt, bevor die Pilgerväter von Plymouth aus in See stachen – und ist ungemein stolz auf ihr hohes Alter. Jedes Gebäude in Santa Fe, und ich meine tatsächlich jedes, besteht aus Adobe. Da gibt es ein Adobe-Woolworth, ein mehrstöckiges Adobe-Parkhaus, ein sechsstöckiges Adobe-Hotel. Kommt man zum ersten Mal an einer Adobe-Tankstelle oder an einem Adobe-Supermarkt vorbei, denkt man noch »Ach, du liebe Güte, nichts wie weg hier!«, doch dann begreift man, dass es sich hier nicht um eine eigens für Touristen aufgebaute Kulisse handelt. Adobe ist schlicht und einfach das regionaltypische Baumaterial, dessen alleinige Verwendung der Stadt ein einheitliches Erscheinungsbild verleiht, wie man es in kaum einer anderen Stadt findet. Nebenbei ist Santa Fe unverschämt reich. Daher sind guter Geschmack und Qualität hier eine Selbstverständlichkeit.
Auf der Suche nach dem St. John’s College, an dem meine Nichte studierte, fuhr ich die Berge hinauf. Es war vier Uhr nachmittags. Die Schatten auf den Straßen wurden länger und länger. Die Sonne versank gleich, hinter den Bergen, und die Adobe-Häuser an den Hängen ringsum leuchteten in bräunlichem Orange. Das St. John’s, ein kleines College mit gerade 300 Studenten, liegt in luftiger Höhe und bietet eine herrliche Aussicht auf Santa Fe und die Berge auf der anderen Seite. An diesem schönen Frühlingsnachmittag war der verschlafene Campus voller Studenten, doch meine Nichte war nicht dabei. Niemand konnte mir sagen, wo sie war, aber jeder versprach, ihr auszurichten, dass ein schmuddeliger, übergewichtiger Typ mit total verschwitzten Achseln und staubigen Schuhen nach ihr gefragt habe und am nächsten Morgen wiederkommen würde.
Ich fuhr in die Stadt zurück, nahm ein Zimmer und ein ausgiebiges Vollbad, zog mir saubere Sachen an und schlenderte dann glücklich und zufrieden durch die ruhigen Straßen von Downtown Santa Fe. Voller Bewunderung sah ich mir die Schaufenster der teuren Galerien und Boutiquen an, genoss die warme Abendluft und beunruhigte die Leute in den exklusiveren Restaurants, indem ich meine Nase gegen die Fensterscheiben drückte und einen kritischen Blick auf ihre Teller warf. Das Herz von Santa Fe ist die Plaza, ein Platz im spanischen Stil mit weißen Bänken und einem Obelisken zum Gedenken an die Schlacht von Valverde, was immer sich dahinter verbergen mochte. Am Sockel hatte man eine Inschrift angebracht, auf der dem Graveur ein kleiner Fehler unterlaufen war: Statt February stand dort Febuary, was mich ungeheuer amüsierte. An einer Ecke der Plaza entdeckte ich das Ore House mit einem Restaurant im Parterre und einer Bar mit offener Veranda im Stockwerk darüber. Auf dieser Veranda verbrachte ich viele stille Stunden, trank das Bier, das mir eine freundliche, wohlgerundete Kellnerin brachte, genoss den milden Abend und beobachtete, wie die Sterne über den blassblauen Wüstenhimmel zogen. Durch die geöffnete Tür der Bar konnte ich den Pianisten sehen, einen gepflegten jungen Mann, der eine scheinbar endlose Serie von Akkorden und klimpernden Arpeggien spielte, die sich nie zu einer zusammenhängenden Melodie aneinander fügen wollten. Aber er wirbelte elegant über die Tasten und hatte ein gewinnendes Lächeln und blendend weiße Zähne, und darauf kommt es bei dem Pianisten einer Cocktailbar wohl vor allen Dingen an. Die Damen waren jedenfalls hingerissen.
Ich weiß nicht, wie viele Biere ich getrunken habe, aber – ich will ganz ehrlich sein – es waren zu viele. Zudem hatte ich die Wirkung des Alkohols in der dünnen Bergluft von Santa Fe erheblich unterschätzt. Als ich mich einige Stunden später von meinem Platz erhob, musste ich daher zu meiner Überraschung feststellen, dass die Kommunikation zwischen meinem Gehirn und meinen Beinen, die im Normalfall bestens funktioniert, vollständig zusammengebrochen war. Nicht einmal untereinander schienen sich meine Beine mehr zu verstehen. Während eines von beiden sich, wie angeordnet, auf den Weg zur Treppe begab, steuerte das andere in einem Anfall von Bockigkeit die Toilette an, was dazu führte, dass ich wie ein Mann auf Stelzen durch die Bar taumelte. Dabei muss ich ziemlich dämlich vor mich hin gegrinst haben, als wollte ich sagen: »Ja, ich weiß, dass ich wie ein Idiot aussehe. Ist das nicht lustig?«
Auf dem Weg zum Ausgang rammte ich den Tisch einer Gruppe von reichen Leuten mittleren Alters, verschüttete ihre Drinks und plapperte eine Entschuldigung, während sich mein hirnloses Grinsen von einem bis zum anderen Ohr zog. Mit dieser plumpen Vertraulichkeit, die mich immer überkommt, wenn ich betrunken bin, tätschelte ich einer der Damen liebevoll die Schulter und benutzte sie sozusagen als Sprungbrett, mit dessen Hilfe ich der Treppe ein gutes Stück näher kommen konnte. Als ich sie erreicht hatte, drehte ich mich nochmals um und lächelte zum Abschied in den Raum, denn jeder der Anwesenden verfolgte mein Tun inzwischen mit Interesse. Dann sauste ich in einer fließenden Bewegung die Treppe hinunter. Ich bin weder richtig gefallen noch richtig gegangen. Ich bin eher auf meinen Schuhsohlen abwärts geglitten – ein, wie ich glaube, recht imposantes Kunststück. Meine besten Vorstellungen gebe ich übrigens meistens im Rauschzustand. Auf einer Party bei John Horner vor vielen Jahren bin ich einmal rückwärts aus einem Fenster im ersten Stock gefallen und so elegant wieder auf den Füßen gelandet, dass man südlich der Grand Avenue noch heute davon spricht.
Völlig verkatert machte ich mich am nächsten Morgen wieder auf den Weg zum Campus von St. John’s, fand meine Nichte und brachte sie mit einer herzlichen Umarmung in Verlegenheit. Wir frühstückten in einem schicken Restaurant in Downtown, und sie erzählte von St. John’s und Santa Fe. Anschließend zeigte sie mir die Sehenswürdigkeiten der Stadt: die St.-Francis-Kathedrale (sehr schön), den Gouverneurspalast (sehr langweilig, voller Dokumente über die verschiedenen Gouverneure des Territoriums) und die berühmte Treppe der Loretto Chapel. Diese Holztreppe windet sich in Form einer doppelten Spirale zu einer Chorempore in rund sechseinhalb Metern Höhe hinauf. Ihre Besonderheit ist, dass sie nur durch ihr eigenes Gewicht getragen wird. Sie sieht aus, als müsste sie jeden Moment zusammenbrechen. Die Legende berichtet, die hiesigen Nonnen hätten einst gebetet, es möge jemand kommen und ihnen eine Treppe bauen, woraufhin ein unbekannter Zimmermann erschienen sei und innerhalb von sechs Monaten die Treppe errichtet habe. Dann verschwand er ebenso geheimnisvoll wie er gekommen war, ohne sich für seine Arbeit bezahlen zu lassen. Hundert Jahre lang schlachteten die Nonnen diese Geschichte nach Kräften aus und verkauften die Kapelle dann vor ein paar Jahren ganz unerwartet an eine Privatfirma, die nun ihrerseits Profit herausschlagen will und 50 Cents Eintritt verlangt, was mir fast die Laune verdarb und meine Achtung vor Nonnen nicht gerade steigerte.
Im Allgemeinen natürlich ist es mit diesen Verallgemeinerungen immer so eine Sache – im Allgemeinen halten Amerikaner die Vergangenheit nur in Ehren, solange sie Geld abwirft und solange damit kein Verzicht auf Klimaanlagen, gebührenfreie Parkplätze und andere lebensnotwendige Annehmlichkeiten verbunden ist. Es geht nicht darum, die Vergangenheit um der Vergangenheit willen zu bewahren. Sentimentalitäten sind hier fehl am Platz. Kommt jemand daher und bietet Nonnen gutes Geld für ihre Treppe an, dann sagen sie nicht: »Kommt nicht in Frage, das ist ein geweihtes Heiligtum, die hat uns ein geheimnisvoller Bote Gottes gebaut.« Sie sagen »Wie viel?«, und wenn sich das Angebot sehen lassen kann, schlagen sie zu und bauen mit dem Geld ein neues, größeres Kloster mit Klimaanlage, Parkplätzen und Fernsehraum. Ich will damit ganz sicher nicht andeuten, Nonnen seien in dieser Hinsicht schlimmer als andere Amerikaner. Sie sind nur eben auch nicht besser. Ich finde das sehr traurig. Es ist kein Wunder, dass in diesem Land kaum etwas die nächste Generation überdauert.
Ich verließ Santa Fe und fuhr über die Interstate 40 nach Westen. Dies war einmal die Route 66 gewesen. Jeder liebte die Route 66. Die Leute besangen sie in ihren Liedern. Doch dann war sie mit ihren zwei Fahrspuren nicht mehr zeitgemäß, ganz und gar ungeeignet für Motor Homes. Alle fünfzig Meilen führte sie durch ein kleines Städtchen, und es konnte passieren, dass man vor einem Stoppschild oder einer Ampel halten musste – so ein Mist! –, also begruben sie sie unter dem Wüstensand und bauten einen neuen Superhighway, der wie ein vierspuriger Laser durch die Landschaft schießt und vor nichts mehr Halt macht, nicht einmal vor den Bergen. Und wieder ist etwas Schönes und Angenehmes für immer aus unserem Leben verschwunden, weil es unpraktisch war – wie Passagierzüge und Milch in Flaschen und Tante-Emma-Läden und Burma-Shave-Schilder. Und dasselbe geschieht nun auch in Großbritannien. Sie nehmen uns all die liebenswerten Dinge, weil sie nicht mehr zweckmäßig sind, als wenn das ein Grund wäre – die roten Telefonzellen, die Pfundnote, die offenen Londoner Busse, wo man während der Fahrt auf- oder abspringt. Bei kaum einer Gelegenheit fühlt man sich so weltmännisch – und man fühlt sich nicht nur so, man sieht auch so aus – wie beim Aufspringen auf einen fahrenden Londoner Bus. Aber sie sind unpraktisch. Sie erfordern zwei Mann Besatzung (der eine fährt, und die Aufgabe des anderen besteht darin, die Schlägertypen daran zu hindern, den pakistanischen Herrn im hinteren Teil des Busses zu verdreschen), und das ist nun mal unwirtschaftlich. Also müssen sie verschwinden. Und bald wird man auch uns keine Milchflaschen mehr vor die Haustür stellen, und auf dem Land wird es keine verschlafenen Pubs mehr geben, und die Landschaft wird sich in eine Wüste aus Einkaufszentren und Vergnügungsparks verwandeln. Verzeihung. Ich wollte mich nicht aufregen. Aber ihr raubt mir meine Welt, langsam, aber sicher, und manchmal kotzt es mich an. Tut mir Leid.
Ich fuhr über die Interstate 40 in Richtung Westen. Das Land war karg und dünn besiedelt. Die wenigen Ortschaften bestanden überwiegend aus Ansammlungen von Wohnwagen, die einfach so am Straßenrand abgestellt waren, als hätte man sie schlicht vergessen. Sie hatten keine Gärten, keine Zäune, nichts, das sie von der Wüste abhob. Große Teile des Landes gehören zu Indianerreservaten. Alle zwanzig oder dreißig Meilen fuhr ich an einem einsamen Anhalter vorbei; manchmal war es ein Indianer, meistens aber eine Person weißer Hautfarbe, die mit ihrem Gepäck allein an der Straße stand. Bisher waren mir kaum Anhalter begegnet, hier dafür umso mehr. Die Männer sahen gefährlich aus, die Frauen eher verrückt. Ich kam in das Land der Gestrandeten, der Träumer, Verlierer, Landstreicher und Verrückten – in Amerika ziehen sie alle nach Westen, getrieben von der Hoffnung, an der Küste ihr Glück als Filmstar oder Rockmusiker oder als Kandidat einer Gameshow zu machen. Und sind die Träume erst geplatzt, kann aus jedem von ihnen ein Serienmörder werden. Merkwürdig, dass niemand nach Osten zieht, dass man nie jemanden am Straßenrand aufliest, der nach New York will, vielleicht, um mit Börsenspekulationen ein Vermögen zu verdienen oder staatlich geprüfter Buchhalter zu werden oder einen ähnlich verrückten Traum zu verwirklichen.
Das Wetter verschlechterte sich. Sand wehte über die Straße. Ich fuhr direkt in das Unwetter, das am Morgen zuvor der Herr vom Wetteramt im Fernsehen erwähnt hatte. Hinter Albuquerque verdunkelte sich der Himmel. Schneeregen schoss durch die Luft. Kugelige Steppenläufer wirbelten über den Highway, und jeder Windstoß versetzte dem Wagen einen heftigen Schlag in die Seite.
Bisher hatte ich angenommen, Wüsten wären das ganze Jahr über heiß und trocken. Nun weiß ich, dass sie es nicht sind. Da wir früher immer zwischen Juni und August in die Ferien gefahren sind, hatte sich bei mir die Vorstellung festgesetzt, abgesehen vom Mittleren Westen wäre es in ganz Amerika das ganze Jahr über heiß. Wo man im Sommer auch hinfuhr, überall herrschte eine mörderische Hitze. Nie sank das Thermometer unter dreißig Grad. Hielt man die Autofenster geschlossen, schmorte man im eigenen Saft; ließ man sie offen, flatterten Comic-Hefte, Landkarten und herumliegende Kleidungsstücke durch den Wagen. Wenn man, wie wir, kurze Hosen trug, verschmolz die nackte Haut der Beine wie Schmelzkäse auf einer Scheibe Toastbrot mit dem Sitz, und beim Aussteigen, wenn man beides unter Qualen wieder voneinander trennen musste, hörte es sich an, als würde man entweder den Sitz oder die eigene Haut in Fetzen reißen. Und berührte man im Hitzedelirium einmal aus Versehen mit dem Arm die stundenlang von der Sonne beschienenen Metallteile der Tür, schrumpelte die Haut an der Stelle und löste sich ab. Zuzusehen, wie sich ein Teil des eigenen Körpers einfach abtrennte, war ein erstaunliches und überraschend schmerzloses Schauspiel. Ich wusste nicht, ob ich aufschreien sollte, um meine Mutter auf meine schwere Verwundung aufmerksam zu machen, oder ob ich das Ganze aus Forscherdrang wiederholen sollte. Letztendlich tat ich nichts von beidem, sondern blieb lustlos in meiner Ecke sitzen. Für Experimente und theatralische Darbietungen war es viel zu heiß.
Jedenfalls überraschte es mich, in dieser Wüstenlandschaft winterliches Wetter vorzufinden. Je höher der Highway die Zuni Mountains hinaufkletterte, desto dichter wurde der Schneeregen. Hinter Gallup ging er schließlich in Schnee über. Nass und schwer fielen die Flocken vom Himmel, und der Nachmittag wurde so dunkel wie die Nacht.
Zwanzig Meilen hinter Gallup erreichte ich die Staatsgrenze von Arizona. Mit jeder Meile, die ich zurücklegte, wurde offensichtlicher, dass das Unwetter in dieser Region bereits länger andauerte. Lag der Schnee am Straßenrand anfangs noch knöcheltief, so reichte er schon bald bis an die Knie. Kaum zu glauben, dass ich noch vor wenigen Stunden bei strahlendem Sonnenschein in Hemdsärmeln durch Santa Fe gelaufen war. Im Radio sprach man von geschlossenen Straßen und brachte eine meteorologische Schreckensmeldung nach der anderen – Schnee in den Bergen und sintflutartige Regenfälle anderswo. Es war das schlimmste Frühjahrsunwetter seit Jahrzehnten, sagte der Mann vom Wetteramt mit schlecht verhohlener Schadenfreude. Zum dritten Mal hintereinander musste das Heimspiel der Los Angeles Dodgers wegen Regen abgesagt werden – seit die Mannschaft vor dreißig Jahren von Brooklyn an die Westküste gekommen waren, passierte dies das erste Mal. Es gab keine Möglichkeit, dem Unwetter zu entrinnen. Missmutig steuerte ich auf das 100 Meilen weiter westlich gelegene Flagstaff zu.
»Und in Flagstaff liegen fünfunddreißig Zentimeter Schnee. Weitere Schneefälle sind zu erwarten«, sagte der Wettermann und hörte sich sehr zufrieden an.