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Ich übernachtete in der näheren Umgebung von Alexandria und fuhr am nächsten Morgen weiter nach Washington. In meiner Kindheit hatte ich Washington als heiße, schmutzige und von Presslufthämmern dröhnende Stadt erlebt. Damals herrschte diese stickige Sommerhitze, wie man sie von amerikanischen Großstädten vor der Zeit der Klimaanlagen kennt. Von früh bis spät suchten die Menschen Schutz vor der Hitze. Sie wischten sich mit riesigen Taschentüchern den Schweiß von der Stirn, tranken kalte Limonade und hingen lustlos vor geöffneten Kühlschränken oder laufenden Ventilatoren herum. Nicht einmal die Nächte brachten Linderung. Draußen, wo sich gelegentlich ein Lüftchen regte, war es auszuhalten. Doch drinnen war die Hitze unerträglich. Sie stand schwer und drückend im Raum. Es war, als säße man in der Filtertüte eines Staubsaugers. Ich kann mich daran erinnern, wie ich in einem Hotelzimmer in Downtown Washington wachlag und den Geräuschen der Augustnacht lauschte. Durch das offene Fenster drang der Lärm von Sirenen und Autohupen und das Geräusch des Neongases, das in das Hotelschild strömte. Ich hörte, wie der Verkehr vorbeirauschte, wie Menschen lachten und schrien und wie Menschen erschossen wurden.

Einmal sahen wir einen Mann, der in einer schwülen Nacht im August erschossen worden war. Wir hatten im Griffith Stadion miterlebt, wie die Washington Senators die New York Yankees mit 4:3 schlugen und wollten anschließend noch einen Happen essen gehen, da sahen wir zwischen Unmengen von Beinen einen Schwarzen in einer Blutlache liegen. Damals dachte ich, es wäre Öl, aber es war natürlich Blut, das aus dem Loch in seinem Kopf floss. Meine Eltern schoben uns schnell beiseite und sagten, wir sollten nicht hinsehen, was wir natürlich doch taten. So etwas bekam man in Des Moines nicht zu Gesicht, also gafften wir uns die Augen aus dem Kopf. Bis dahin waren mir Morde nur im Fernsehen begegnet, in Filmen wie Gunsmoke und Dragnet. Ich hielt sie für ein erzählerisches Mittel, mit dessen Hilfe man Geschichten spannender gestalten konnte. Es wäre mir nie in den Sinn gekommen, es könne auch im wirklichen Leben vorkommen, dass ein Mensch einen anderen umbringt. Für meine Begriffe war es geradezu absurd, jemandes Leben zu beenden, nur weil man ihn irgendwie unsympathisch findet. Ich dachte an meine Lehrerin in der vierten Klasse, Miss Bietlebaum. Sie hatte Haare auf den Zähnen und eine schwarze Seele. Nun stellte ich mir vor, wie sie auf dem Boden neben ihrem Pult lag, für immer zum Schweigen gebracht, während ich mit einem rauchenden Colt in der Hand über ihr stand. So gesehen eröffneten sich mir ganz neue Perspektiven.

In dem Restaurant, in dem wir dann eine Kleinigkeit aßen, machte ich eine weitere Entdeckung, die mir zu denken gab. Betraten Weiße das Restaurant, nahmen sie ganz selbstverständlich am Tresen Platz. Schwarze dagegen gaben ihre Bestellung auf und stellten sich an die Wand. War ihr Essen fertig, überreichte man es ihnen in einer Papiertüte, die sie dann mit nach draußen nahmen. Mein Vater erklärte uns, Negern sei es in Washington nicht gestattet, sich zum Essen an den Tresen zu setzen. Es verstieß nicht direkt gegen das Gesetz, sie taten es nur eben nicht. Washington hatte sich so viel vom Flair des Südens bewahrt, dass sie es einfach nicht wagten. Auch das schien mir geradezu absurd und stimmte mich noch nachdenklicher.

Als ich später im heißen Hotelzimmer wachlag und der rastlosen Stadt lauschte, versuchte ich, die Welt der Erwachsenen zu verstehen, aber es gelang mir nicht. Ich hatte immer geglaubt, als Erwachsener könne man tun und lassen, was man will, man könne die ganze Nacht aufbleiben und Eis direkt aus der Packung essen. Doch nun, an diesem für mein weiteres Leben so bedeutsamen Abend, begann ich zu begreifen, dass man sich sehr wohl gewissen Regeln unterwerfen muss, wenn man vermeiden will, dass einem eines Tages irgendwer in den Kopf schießt oder mit dem Essen in der Hand vor die Tür schickt. Ich stützte mich auf meinen Ellbogen und fragte meinen Dad, ob es auch Orte gäbe, in denen Schwarze die Restaurants betrieben und die Weißen an der Wand auf ihr Essen warten ließen.

Mein Dad betrachtete mich über den Rand seines Buches hinweg und antwortete, dass er das für unwahrscheinlich halte. Ich fragte ihn, was passieren würde, wenn sich ein Neger an den Tresen setzen würde, obwohl er das eigentlich nicht tun sollte. Was würden sie mit ihm machen? Mein Dad sagte, das wisse er auch nicht, und ich solle jetzt schlafen und mir darüber nicht den Kopf zerbrechen. Ich legte mich wieder hin und dachte, dass sie ihn vermutlich erschießen würden. Dann rollte ich mich auf die Seite und versuchte zu schlafen. Aber ich konnte nicht schlafen, zum einen, weil es so heiß und ich so durcheinander war, und zum anderen, weil ich befürchten musste, dass mein Bruder an mein Bett kommen und mir Popel ins Gesicht schmieren würde, sobald ich schlief. Das hatte er mir nämlich angedroht, als ich ihn im Stadion nicht von meinem Rosinenbrot beißen ließ, und ich muss zugeben, dass mich diese Aussicht ziemlich beunruhigte, auch wenn er jetzt friedlich zu schlummern schien.

Seit jenen Tagen hat sich sicherlich vieles auf dieser Welt verändert. Wer heute des Nachts wach in einem Hotelzimmer liegt, hört nichts mehr von der Stadt. Alles, was er hört, ist das Rauschen der Klimaanlage. Ob in einem Jet hoch über dem Pazifik oder in einer Tauchkugel auf dem Grund der Meere – überall gibt es Klimaanlagen, und die Luft ist so kühl und so sauber wie ein frisch gewaschenes Hemd. Nur noch selten wischen sich die Leute den Schweiß von der Stirn oder trinken schwitzend kalte Limonade oder legen ihre nackten Arme dankbar auf den kühlen Marmortisch eines Cafés, denn heutzutage lässt man die Sommerhitze irgendwo da draußen zurück und setzt sich ihr nur noch für Minuten aus, wenn man vom Parkplatz ins Büro oder vom Büro ins Restaurant um die Ecke flitzt. Heutzutage sitzen auch Schwarze an den Tresen der Restaurants, was zur Folge hat, dass ein Sitzplatz nicht mehr so leicht zu bekommen ist, aber immerhin, es geht gerechter zu. Niemand sieht sich mehr ein Spiel der Washington Senators an, denn die Washington Senators gibt es nicht mehr. 1972 hat der Besitzer die Mannschaft nach Texas verlegt, weil es dort mehr Geld zu verdienen gab. Leider. Die für mich persönlich vielleicht wichtigste Veränderung ist jedoch, dass mein Bruder mir nicht mehr androht, mir Popel ins Gesicht zu schmieren, wenn ich ihn geärgert habe.

Washington kam mir wie eine Kleinstadt vor, ist aber mit seinen drei Millionen Einwohnern die siebtgrößte Stadt der Vereinigten Staaten. Rechnet man das benachbarte Baltimore hinzu, leben im Großraum Washington über fünf Millionen Menschen. Die Stadt selbst ist recht klein und hat nur 637 000 Einwohner, weniger als Indianapolis oder San Antonio. Man fühlt sich in eine nette Provinzstadt versetzt. Biegt man dann aber um eine Straßenecke und steht plötzlich vor dem Hauptquartier des FBI oder der Weltbank oder des IWF, begreift man erst, welch eine bedeutende Stadt man vor sich hat. Die überraschendste dieser Entdeckungen ist das Weiße Haus. Da bummelt man durch Downtown, sieht sich die Schaufenster der Warenhäuser an, stöbert zwischen Halstüchern und Negligés herum, biegt um eine Straßenecke und steht plötzlich davor. Da steht es, mitten in Downtown – das Weiße Haus. Wie günstig gelegen für einen Einkaufsbummel, dachte ich. Es ist kleiner als erwartet. Das sagen alle.

An der gegenüberliegenden Straßenseite versammeln sich zu jeder Tages- und Nachtzeit Leute, die sich der herrschenden Klasse entfremdet haben. Und Verrückte, die dagegen protestieren, dass die CIA aus dem Weltall ihre Gedanken kontrolliert, haben sich in Pappkartons häuslich niedergelassen. Auch ein Bettler befand sich unter ihnen. Ist das nicht unglaublich? Mitten in der Hauptstadt der Nation, fast unmittelbar vor dem Schlafzimmerfenster von Nancy Reagan!

Washingtons reizvollste Besonderheit ist die Mall, eine ausgedehnte Parkanlage, die sich über etwa eine Meile vom Kapitol im Osten bis zum Lincoln Memorial und dem Potomac River im Westen erstreckt. Herausragendes Kennzeichen der Mail ist das Washington Monument. Schlank erhebt sich der weiße, wie ein Bleistift geformte Obelisk 169 Meter hoch über die Parklandschaft. Er ist eines der schlichtesten und doch schönsten Bauwerke seiner Art und wirkt umso beeindruckender, wenn man sich vor Augen hält, dass die massiven Steinblöcke von sumerischen Sklaven auf hölzernen Rädern vom Nildelta hierher transportiert werden mussten. Verzeihung, da war ich wohl in Gedanken bei den Pyramiden von Giseh. Wie dem auch sei, der Obelisk ist ein architektonisches Meisterwerk und eine wahre Augenweide. Ich hatte gehofft, hinaufsteigen zu können, doch eine lange Reihe wartender Menschen, zumeist unruhige Schulkinder, schlängelte sich zu seinen Füßen durch den Park. Alle warteten darauf, einen Aufzug von der Größe einer Telefonzelle zu stürmen. Ich machte einen Rückzieher und wandte mich dem Capitol Hill im Osten zu.

Entlang der Ostseite der Mall verteilen sich die zahlreichen Museen der Smithsonian Institution – das Museum of American History, das Museum of Natural History, das Air and Space Museum und so weiter. Die Sammlung des Smithsonian – übrigens das Geschenk eines Engländers, der niemals amerikanischen Boden betreten hat – war ursprünglich in nur einem Gebäude untergebracht. Dann ging man dazu über, die Sammlung aufzuteilen und für die verschiedenen Abteilungen in der ganzen Stadt neue Gebäude zu errichten, so dass es heute vierzehn Smithsonian-Museen gibt. Die größten gruppieren sich rund um die Mall, während sich die kleineren Museen in anderen Teilen der Stadt befinden. Die Erweiterung wurde erforderlich, da das Smithsonian jedes Jahr rund eine Million Ausstellungsstücke erwirbt. Allein im Jahr 1986 bestanden die Neuerwerbungen unter anderem aus 10 000 Nachtfaltern und Schmetterlingen aus Skandinavien, dem gesamten Postarchiv der Panama Canal Zone, einem Teil der alten Brooklyn Bridge und einem Düsenjäger vom Typ MG-25. Einst beherbergte ein wunderschönes gotisches Bauwerk, das Castle, all diese Schätze. Heute dient das auf der Mall gelegene Castle als Verwaltungsgebäude. Interessierten zeigt man dort auch einen Einführungsfilm.

Inzwischen hatte ich das Castle fast erreicht. Im Park wimmelte es von Joggern, was mir ein wenig Sorge bereitete. Sollten sich diese Leute um diese Zeit nicht um die Belange der Nation kümmern oder sich zumindest damit beschäftigen, die Regierung eines zentralamerikanischen Landes zu destabilisieren? Was ich sagen will: Hat ein normaler Mensch an einem Mittwochmorgen um 10.30 Uhr nichts Sinnvolleres zu tun, als sich ein Paar Reeboks anzuziehen und fünfundvierzig Minuten durch die Gegend zu rennen?

Am Castle fand ich den Eingangsbereich mit hölzernen Barrikaden versperrt. Amerikanische und japanische Sicherheitsbeamte in dunklen Anzügen liefen umher; und alle sahen sie aus, als würden sie regelmäßig joggen. Einige trugen Kopfhörer und sprachen in Funkgeräte. Andere führten Hunde an langen Leinen mit sich oder überprüften mit an Stangen befestigten Spiegeln die Autos, die vor dem Gebäude am Jefferson Drive geparkt waren. Ich ging auf einen der amerikanischen Sicherheitsmänner zu und fragte ihn, wer denn erwartet würde. Er entgegnete, dass er mir darauf keine Antwort geben dürfe, was ich merkwürdig fand. Hier stand ich nun, in einem Land, in dem ich dank des verfassungsmäßig verankerten Informationsrechts herausfinden konnte, wie viele Zäpfchen Ronald Reagan im Jahr 1986 verschrieben worden waren (genau 1472), aber in Erfahrung zu bringen, welcher ausländische Würdenträger in Kürze auf den Stufen eines öffentlichen Gebäudes erscheinen würde, sollte nicht möglich sein? Eine Dame neben mir verriet es mir dann: »Es ist Nakasone. Der japanische Präsident.«

»Oh, wirklich«, antwortete ich, stets bereit, einer leibhaftigen Berühmtheit in die Augen zu schauen. Ich fragte den Sicherheitsmann, wann er ankommen würde. »Auch darauf darf ich Ihnen keine Antwort geben, Sir«, klärte er mich auf und ging weiter.

Für ein Weilchen mischte ich mich unter die Menge und wartete auf Herrn Nakasone. Dann wurde es mir zu bunt. »Warum stehe ich hier eigentlich?«, fragte ich mich und überlegte, wer aus meinem Bekanntenkreis sich davon beeindrucken ließe, dass ich den Premierminister von Japan mit eigenen Augen gesehen hatte. Ich stellte mir vor, wie ich meinen Kindern erzählte: »Hört mal, Kinder, ratet mal, wen ich in Washington gesehen habe – Yasuhiro Nakasone!« Ratloses Schweigen würde mir entgegenschlagen. Also ging ich weiter. Zum National Air and Space Museum, das interessanter zu sein versprach.

Es erwies sich dann aber doch als nicht annähernd so interessant, wie es hätte sein sollen, wenn Sie mich fragen. Noch in den fünfziger und sechziger Jahren war das Smithsonian gleichbedeutend mit dem Castle. Die gesamten Besitztümer des Instituts stapelten sich in diesem einen herrlich düsteren, modrigen, alten Gebäude. Mit seinem kunterbunten Durcheinander war das Castle so etwas wie der Dachboden der Nation. Da lag das Hemd, das Lincoln trug, als er erschossen wurde mit einem braunen Blutfleck über dem Herzen. Daneben stand ein Diorama, das eine zum Abendessen versammelte Navajo-Familie darstellte, und von den Dachsparren hingen die Spirit of St. Louis und das erste Flugzeug der Gebrüder Wright herab. Nie wusste man, was einen hinter der nächsten Ecke erwartete. Heute wirkt dagegen alles pedantisch aufgeräumt. Jedes Ding steht sauber und ordentlich an einem eigens dafür vorgesehenen Platz. Man geht in das Air and Space Museum und sieht die Spirit of St. Louis und das Flugzeug der Gebrüder Wright und viele andere berühmte Flugzeuge und Raketenträger, und alles ist sehr beeindruckend, aber auch irgendwie steril und fantasielos. Es gibt nichts mehr zu entdecken. Käme hier mein Bruder auf mich zugestürmt und würde grölen: »Mann, du errätst nie, was ich in dem Raum da drüben gefunden habe!«, dann könnte ich es eben doch mehr oder weniger erraten, denn es konnte sich nur entweder um ein Flugzeug oder einen Raketenträger handeln. Im alten Smithsonian hätte es absolut alles sein können – ein versteinerter Hund, der Skalp von General Custer oder in gläsernen Gefäßen schwimmende menschliche Köpfe. Heute ist praktisch jegliches Überraschungsmoment ausgeschaltet. So verbrachte ich den Tag damit, pflichtbewusst und voller Respekt die verschiedenen Museen abzuklappern. Es war interessant, aber nicht gerade aufregend. Noch immer gab es so viel zu betrachten, dass ein ganzer Tag verging und ich am Ende nur einen Bruchteil all dessen gesehen hatte.

Am Abend spazierte ich über die Mall zum Jefferson Memorial. Ich hatte gehofft, in der Dämmerung dort zu sein, doch ich kam zu spät. Noch ehe ich den Park erreicht hatte, war es stockfinster. Ich rechnete damit, überfallen zu werden. Wer sich in einer so rabenschwarzen Nacht in einen städtischen Park wagt, hat es nicht besser verdient. Doch anscheinend konnten mich selbst die Straßenräuber in dieser Dunkelheit nicht sehen. Die einzige Gefahr, der ich mich aussetzte, war, von einem der vielen, unsichtbar über die Wege spurtenden Jogger über den Haufen gerannt zu werden. Das Jefferson Memorial war wunderschön. Es besteht aus nicht viel mehr als einem großen, marmornen Rundbau, in dem sich eine gigantische Statue von Jefferson befindet. Wenn das Denkmal nachts erleuchtet wird und das Licht sich über das Wasser des Tidal Basin ergießt, bietet es einen betörenden Anblick. Ich muss wohl eine Stunde oder mehr dort gesessen haben, vertieft in die Geräusche der Nacht. Ich lauschte dem rhythmischen Rauschen des Straßenverkehrs, den Sirenen und Autohupen. Und ich hörte, wie weit entfernt Menschen sangen und schrien und wie Menschen erschossen wurden.

Ich hielt mich so lange dort auf, dass es für das Lincoln Memorial zu spät wurde. Also kam ich am nächsten Morgen wieder. Das Lincoln Memorial ist genau so, wie man es sich vorstellt. Er sitzt da in seinem hohen Sessel und sieht ungemein bedeutend und doch freundlich aus. Auf seinem Kopf saß eine Taube. Auf seinem Kopf sitzt immer eine Taube. Ob sie wohl glaubt, die vielen Menschen kämen Tag für Tag allein ihretwegen? Eine müßige Frage. Als ich anschließend wieder über die Mall schlenderte, fiel mir auf, dass noch mehr Barrikaden und Sicherheitsbeamte als am Vortag herumstanden. Sie hatten eine Straße durch die Mall abgesperrt, und ich entdeckte zwei Hubschrauber mit dem Emblem des Präsidenten an den Seiten sowie sieben Kanonen und die Musikkapelle des Marine Corps. Es war noch früh am Morgen. Schaulustige hatten sich noch keine eingefunden. Ich stellte mich an die Absperrung und wartete. Ich war der einzige Zuschauer, und keiner der Sicherheitsleute kümmerte sich um mich. Sie schienen mich nicht einmal zu bemerken.

Ein paar Minuten später war die Luft von Sirenengeheul erfüllt. Ein Konvoi aus Limousinen und Motorrädern der Polizei tauchte auf und kam zum Stehen. Einer der Limousinen entstieg Nakasone in Begleitung anderer Japaner, alle in dunklen Anzügen, eskortiert von mehreren weniger namhaften Ariern aus dem State Département. Während die Kapelle eine flotte Melodie schmetterte, die ich nicht erkannte, standen die Männer höflich herum. Dann wurden einundzwanzig Salutschüsse abgefeuert, die allerdings nicht gerade in den Ohren dröhnten, sondern sich eher kläglich anhörten. Vermutlich hatte man die Kanonen mit einem geräuscharmen Schießpulver gefüllt, um den Präsidenten im Weißen Haus gegenüber nicht zu wecken. Nachdem also der Befehlshaber sein »Auf die Plätze, fertig, los!« gebrüllt hatte, oder was immer er auch gebrüllt haben mag, erfolgten sieben kurze Puffs, woraufhin eine dichte Rauchwolke erst über unsere Köpfe, dann in einer langen Schwade langsam über den Park hinwegschwebte. Das Ganze wiederholte sich dreimal, da nur sieben Kanonen zur Verfügung standen. Dann winkte Nakasone freundlich der Menge – also mir – zu und rannte mit seinem Trupp zu den Hubschraubern des Präsidenten, deren Rotorblätter bereits kräftig Staub aufwirbelten. Kurz darauf hoben sie ab, neigten sich dem Washington Monument zu und waren verschwunden, und jeder der auf dem Erdboden Zurückgebliebenen steckte sich erleichtert eine Zigarette an.

Wochen später erzählte ich in London von meinem privaten Zusammentreffen mit Nakasone, von der Musikkapelle des Marine Corps und den geräuschlosen Kanonen und auch, dass der Premierminister von Japan mir allein zugewinkt hatte. Die meisten meiner Zuhörer ließen mich eine Weile höflich reden und unterbrachen mich dann, um etwas in der Art wie »Hab ich dir schon erzählt, dass Mavis sich nächste Woche an den Füßen operieren lassen muss?« einzuwerfen. Die Engländer haben manchmal eine unglaublich niederschmetternde Art.


Von Washington nahm ich die US 301 und folgte ihr, vorbei an Annapolis und der US Naval Academy, über eine lange, niedrige Brücke über die Chesapeake Bay ins östliche Maryland. Bis zum Bau der Brücke 1952 war das Land an der Ostseite der Bucht jahrhundertelang vom Rest der Welt abgeschnitten. Seit dem Ende ihrer Isolation befürchten die Einheimischen, Fremde würden auf die Halbinsel strömen und sie ruinieren. Doch auf mich machte das Land einen ziemlich unverdorbenen Eindruck, was meiner Meinung nach gerade den Fremden zu verdanken ist. Es sind immer die, die von auswärts kommen, die sich am heftigsten gegen die Errichtung von Einkaufszentren und Kegelbahnen wehren, während die Einheimischen in ihrer einfältigen und arglosen Art diese Dinge für großartige Errungenschaften halten.

Chestertown, das erste Städtchen von nennenswerter Größe an meinem Weg, bestätigte diese Theorie. Als Erstes sah ich eine Frau in einem pinkfarbenen Trainingsanzug, die auf einem Fahrrad mit einem Weidenkorb am Lenker an mir vorbeisauste. Nur Emigranten aus den Großstädten besitzen mit einem Weidenkorb bestückte Fahrräder. Die Einheimischen bevorzugen Subaru Pick-up-Trucks. In Chestertown schienen viele Rad fahrende Frauen zu leben. Offenbar waren sie es, die den Ort in ein mustergültiges Städtchen verwandelt hatten. Alles wirkte wie aus dem Ei gepellt. Die Gehsteige waren gepflastert und von Bäumen gesäumt, und mitten im Geschäftsviertel befand sich ein gepflegter Park. In der Bücherei herrschte reger Andrang, und sogar das Kino war noch in Betrieb. Alles an Chestertown war von beschaulichem Reiz. Kurzum; ein wirklich hübsches Städtchen, das meinem Amalgam sehr nahe kam.

Ich fuhr weiter, durch flaches, sumpfiges Land, und ließ mich von der schlichten Schönheit der Chesapeake-Halbinsel bezaubern, vom weiten Himmel, den über das Land verstreuten Farmen und vergessenen kleinen Ortschaften. Auf dem Weg nach Philadelphia überquerte ich am späten Vormittag die Staatsgrenze von Delaware der vielleicht unbekannteste aller amerikanischen Staaten. Als ich einmal ein Mädchen aus Delaware traf, hatte ich nicht die leiseste Ahnung, worüber ich mit ihr reden sollte. Mir fiel nichts Besseres ein, als zu sagen: »Du kommst also aus Delaware? Wow!«, woraufhin sie sich schnell jemandem zuwandte, der wortgewandter war als ich und nebenbei auch besser aussah. Es machte mir Kummer, über einen der fünfzig Staaten rein gar nichts zu wissen, und das, nachdem ich zwanzig Jahre in diesem Land gelebt hatte und in den Genuss einer kostspieligen Schulausbildung gekommen war. Ich fragte mehrere Leute, ob sie jemals gehört hätten, dass im Fernsehen der Staat Delaware erwähnt worden war, oder in der Zeitung einen ihn betreffenden Artikel gelesen hätten oder vielleicht ein Buch, dessen Handlung dort angesiedelt war. Alle verneinten und schienen daraufhin ebenfalls irgendwie bekümmert.

Ich beschloss, mich sogleich über diesen Staat zu informieren, damit ich bei meiner nächsten Begegnung mit einem Mädchen aus Delaware mit einer geistreichen und treffenden Bemerkung Eindruck schinden konnte. Doch fast nirgends stand etwas über Delaware geschrieben. Selbst die Eintragung in der Encyclopaedia Britannica beschränkte sich auf ganze zwei Absätze und endete, wenn ich mich recht entsinne, mitten im Satz. Und das Komische war, dass ich, noch während ich durch diesen Staat fuhr, förmlich spürte, wie die Erinnerung daran verblasste. Es war wie mit diesen Zeichentafeln für Kinder, auf denen man das Bild ausradiert, indem man eine transparente Folie abhebt. Während ich Delaware durchquerte, schien sich hinter mir eine gigantische Folie von der Landschaft zu heben und jegliche Erinnerung daran auszulöschen. Wenn ich jetzt zurückblicke, kann ich mich lediglich vage an eine spärlich industrialisierte Landschaft sowie an mehrere Hinweisschilder nach Wilmington erinnern.

Und schon hatte ich die Außenbezirke von Philadelphia erreicht. Diese Stadt, die der Welt unter anderem Sylvester Stallone und die Legionärskrankheit beschert hatte, erforderte nun meine ganze Aufmerksamkeit und verdrängte Delaware aus meinen Gedanken.