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Ich übernachtete in Cobleskill, New York, am Nordrand der Catskills, und fuhr am nächsten Morgen weiter nach Cooperstown. Cooperstown ist ein kleiner Ferienort am Lake Otsego und war die Heimat von James Fenimore Cooper, dessen Familie er auch seinen Namen verdankt. Es war eine schöne Stadt, schöner und üppiger mit den Farben des Herbstes ausgestattet als irgendeine Stadt, die ich in New England gesehen hatte. Entlang der Hauptstraße standen stattliche Backsteingebäude, alte Banken, ein Kino und familienfreundliche Geschäfte. Der Cooperstown Diner, in dem ich frühstückte, war belebt, freundlich und preiswert – alles, was ein Speiselokal zu sein hat. Nach dem Frühstück machte ich einen Spaziergang durch die Wohnstra-ßen der Stadt. Mit den Händen in den Taschen schlurfte ich durch das trockene Laub zum See hinunter. Jedes Haus war alt und hübsch. Viele der größeren Häuser hatte man in Gasthäuser und teure Bed and Breakfast Inns umgewandelt. Die Morgensonne schien durch die Bäume und warf ihre Schatten auf Gärten und Gehsteige. Während der ganzen Reise hatte ich keine so hübsche Stadt gesehen. Es war fast Amalgam.

Aber auch Cooperstown hatte eine Schattenseite. Es wimmelte von Touristen, die von der Hauptattraktion der Stadt angezogen wurden – der Baseball Hall of Fame. Sie steht an einem schattigen Park am anderen Ende der Main Street. Auch ich begab mich nun dorthin, zahlte 8,50 Dollar Eintritt und trat ein in die kathedralengleiche Stille. Allen Baseball-Fans und dieser Sportart Unkundigen sei gesagt, dass ein Besuch in der Hall of Fame praktisch einem religiösen Erlebnis gleichkommt. Andächtig wanderte ich durch die ruhigen, schwach beleuchteten Hallen und betrachtete die heiligen Gewänder und Reliquien des Lieblingszeitvertreibs der amerikanischen Nation. In einem gläsernen Schaukasten lag bestens erhalten »das Hemd, das Warren Spahn trug, als er seinen 305. Treffer landete, wodurch er mit Eddie Plank als bestem Linkshänder gleichzog«. An der gegenüberliegenden Seite des Ganges befand sich »der Handschuh, den Sal Maglie am 25. September 1958 benutzte, Fänger gegen Phillies«. Vor jedem Kasten standen Menschen und sahen sich ehrfürchtig die Ausstellungsstücke an oder sprachen im Flüsterton miteinander.

In einem anderen Raum erinnerte eine Gemäldegalerie an die großen Momente in der Geschichte des Baseball. Eines der Bilder stellte das erste Spiel der Profiliga dar, das abends bei künstlicher Beleuchtung ausgetragen worden war. Es hatte am 2. Mai 1930 in Des Moines, Iowa, stattgefunden. Das waren aufregende Neuigkeiten für mich. Ich hatte ja keine Ahnung, dass Des Moines sowohl in der Geschichte des Baseball als auch auf beleuchtungstechnischem Gebiet eine Vorreiterrolle gespielt hat. Ich sah mir das Bild genauer an, um festzustellen, ob mein Vater auf der Pressetribüne zu sehen war, bis mir dann einfiel, dass mein Vater 1930 erst fünfzehn Jahre alt war und noch in Winfield lebte. Schade. In einem der Räume im oberen Stockwerk entwich mir fast ein Freudenschrei, als ich in den Vitrinen die Baseballkarten erblickte, die mein Bruder und ich so gewissenhaft gesammelt und katalogisiert hatten und die meine Eltern in einem frühen Anflug von Senilität bei einem Frühjahrsputz im Jahre 1981 in den Müll geworfen hatten. Wir hatten die vollständige Serie von 1959 in tadellosem Zustand beisammen; sie wäre heute so um die 1500 Dollar wert. Wir hatten Mickey Mantle und Yogi Berra als Grünschnäbel und die kompletten Mannschaften der New York Yankees aus den Jahren 1956 bis 1962. Die ganze Sammlung muss zirka 8000 Dollar wert gewesen sein – jedenfalls mehr als genug, um Mom und Dad für ein Weilchen zur Kur in eine Dementiaklinik zu schicken. Ist ja auch egal. Jeder macht mal einen Fehler. Nur weil alle Leute diese Dinge wegwerfen, werden sie so wertvoll für die wenigen Glücklichen, deren Eltern ihr Rentenalter nicht damit verbringen, all das Zeug aus dem Haus zu schaffen, das sich während ihres Arbeitslebens angesammelt hat. Trotz alledem war es ein Vergnügen, all die alten Karten wiederzusehen. Es war, als besuchte ich einen Freund im Krankenhaus.

Die Hall of Fame ist überraschend groß, viel größer, als es von der Straße den Anschein hat, und die Ausstellungen sind sehr anschaulich präsentiert. Voll und ganz zufrieden gestellt ging ich von Raum zu Raum, verweilte vor jedem Ausstellungsstück, las jeden Kommentar und durchlebte noch einmal meine von glücklicher Wehmut umwobene Jugend. Als ich wieder auf die Main Street hinaustrat und auf die Uhr sah, stellte ich erstaunt fest, dass drei Stunden vergangen waren. Neben der Hall of Fame befand sich ein Laden, in dem man die tollsten Baseball-Souvenirs kaufen konnte. Zu meiner Zeit gab es nichts als Wimpel und Baseballkarten und blöde, kleine, wie Schlaghölzer geformte Kugelschreiber, die schon den Geist aufgaben, wenn man zum zweiten Mal seinen Namen damit schreiben wollte. Heute dagegen kann ein kleiner Junge fast alles mit dem Emblem seiner Mannschaft darauf bekommen – Lampen, Handtücher, Uhren, Bettvorleger, Becher, Tagesdecken und sogar Weihnachtsbaumschmuck und außerdem natürlich Wimpel, Baseballkarten und Kugelschreiber, die nicht mehr funktionieren, wenn man sie ein zweites Mal benutzen will. Noch nie habe ich mich so sehr danach gesehnt, wieder ein Kind zu sein. Von allem anderen abgesehen, würde ich dann meine Baseballkarten wiederbekommen und könnte sie an einen sicheren Ort schaffen, wo meine Eltern nicht an sie herankämen. Hätte ich dann das richtige Alter erreicht, könnte ich mir einen Porsche kaufen.

Ich war so hingerissen von all den Souvenirs, dass ich begann, mich damit zu beladen. Erst dann bemerkte ich die Bitte-nichtberühren-Schilder, die über den ganzen Laden verteilt waren. Auf dem Ladentisch hing neben der Registrierkasse ein Schild mit dem Hinweis »Nicht an das Glas lehnen! Wer es zerbricht, zahlt 50 Dollar!« Was für ein dämliches Schild! Wie kann man von Kindern erwarten, dass sie an einem solchen Ort voller wunderbarer Dinge nichts anfassen? Das brachte mich so aus der Fassung, dass ich meine beabsichtigten Neuanschaffungen auf den Ladentisch packte und dem Mädchen sagte, dass ich nach alledem nicht mehr daran interessiert sei. Vielleicht hat dabei auch eine Rolle gespielt, dass ich mir nicht hundertprozentig sicher war, ob meine Frau sich über St.-Louis-Cardinals-Kopfkissenbezüge freuen würde.

Meine Eintrittskarte für die Hall of Fame berechtigte auch zum Besuch eines Museumsdorfes am Stadtrand, das Farmers Museum. Zu seinen Dutzenden von alten, gut erhaltenen Gebäuden zählten ein Schulhaus, eine Taverne, eine Kirche und dergleichen mehr. Das Ganze war ungefähr so aufregend, wie es sich anhört. Da ich aber nun einmal dafür bezahlt hatte, fühlte ich mich verpflichtet, es mir anzusehen. Zumindest der Spaziergang in der Nachmittagssonne war ein Vergnügen. Dennoch war ich froh, als ich wieder hinterm Steuer saß und den Wagen zurück auf die Straße lenkte. Es war bereits nach vier Uhr, als ich Cooperstown verließ. Und weiter ging’s, quer durch den Staat New York und das Susquehanna Valley, das im Übrigen sehr reizvoll war, vor allem in dem weichen Licht dieser Tages- und Jahreszeit. Ich fuhr durch eine Landschaft aus wassermelonenförmigen Bergen, goldenen Bäumen und verschlafenen Städtchen. Um die Zeit aufzuholen, die ich in Cooperstown verloren hatte, fuhr ich länger als gewöhnlich und hielt erst nach neun vor einem Motel vor den Toren von Elmira.

Ich machte mich gleich wieder auf den Weg, um einen Happen zu essen, doch fast jedes Restaurant, an dem ich vorbeikam, war geschlossen. Ich landete schließlich in einem Lokal, das zu einer Kegelbahn gehörte, womit ich eindeutig gegen Regel Nr. 3 der Bryson’schen Richtlinien zum Thema »Essengehen in einer unbekannten Kleinstadt« verstieß. Zwar lehne ich es im Allgemeinen ab, nach Prinzipien zu handeln – das ist so eine Art Prinzip von mir –, dennoch versuche ich, mich in puncto Essengehen an sechs grundsätzliche Regeln zu halten. Sie lauten:

  1. Iss niemals in einem Restaurant, in dem Fotos der Gerichte ausgehängt sind. (Und falls doch, falle niemals auf diese Fotos herein.)
  2. Iss niemals in einem Restaurant mit Velourstapete.
  3. Iss niemals in einem Restaurant, das zu einer Kegelbahn gehört.
  4. Iss niemals in einem Restaurant, in dem du hören kannst, worüber man in der Küche redet.
  5. Iss niemals in einem Restaurant, in dem Musikbands auftreten, deren Namen einen der folgenden Bestandteile aufweisen: Hank, Rhythm, Swinger, Trio, Combo, Hawaiian, Polka.
  6. Iss niemals in einem Restaurant mit Blutflecken an den Wänden.

Letztendlich erwies sich das Restaurant der Kegelbahn als einigermaßen akzeptabel. Durch die Wände drang das gedämpfte Gepolter umfallender Kegel und das ausgelassene Gejohle der Friseure und Mechanikerlehrlinge von Elmira, die sich einen netten Abend machten. Im Restaurant war ich der einzige Gast. Genauer gesagt war ich das einzige Hindernis, das noch zwischen den Kellnerinnen und ihrem Feierabend lag. Wahrend ich auf mein Essen wartete, räumten sie die übrigen Tische ab und entfernten Aschenbecher, Zuckerdosen und Tischdecken, so dass ich kurz darauf bei flackerndem Kerzenschein an einem weiß gedeckten Tisch allein in diesem großen Raum saß, umgeben von einem Meer aus nackten Resopaltischplatten. Die Kellnerinnen standen an die Wand gelehnt und beobachteten, wie ich meinen Teller leerte. Nach einer Weile fingen sie an zu tuscheln und zu kichern, ohne mich dabei aus den Augen zu lassen, was mich, ehrlich gesagt, ein wenig verunsicherte. Vielleicht habe ich es mir nur eingebildet, aber es kam mir so vor, als würde jemand kaum merklich das Licht abdrehen. Im Raum wurde es zunehmend dunkler, bis ich gegen Ende meiner Mahlzeit kaum mehr das Essen auf dem Teller sehen konnte. Um es ausfindig zu machen, musste ich suchend mit der Gabel herumstochern und gelegentlich meinen Kopf über den Teller beugen und meinem Geruchssinn folgen. Noch bevor ich ganz fertig war und nur eine kleine Pause einlegte, um nach meinem Glas Wasser irgendwo in der Dunkelheit außerhalb der Reichweite der flackernden Kerze zu tasten, kam eine Kellnerin, zog mir den Teller weg und hielt mir die Rechnung unter die Nase.

»Haben Sie sonst noch einen Wunsch?«, fragte sie in einem Ton, der mir nahe legte, eventuelle Wünsche lieber für mich zu behalten. »Nein danke«, antwortete ich höflich, wischte mir den Mund an der Tischdecke ab (die Serviette hatte ich in der Finsternis verloren) und erweiterte meine Liste um eine siebte Regel: Geh niemals zehn Minuten vor Toresschluss in ein Restaurant. Aber eine so miserable Bedienung hat auch ihre Vorteile. Es fällt mir dann wesentlich leichter zu gehen, ohne ein Trinkgeld zu hinterlassen.


Als ich am nächsten Morgen früh erwachte, spürte ich diese Unlust, die einen überkommt, wenn man die Augen aufschlägt und begreift, dass einen kein normaler Tag mit all seinen kleinen Freuden erwartet, sondern ein Tag ohne jegliche Vergnüglichkeiten – ein Tag, an dem einem eine Fahrt quer durch Ohio bevorsteht.

Ich seufzte und stand auf. Mit der Haltung eines alten Mannes schlurfte ich durchs Zimmer, packte meine Sachen, wusch mich, zog mich an und begab mich ohne Begeisterung auf den Highway. Ich fuhr in Richtung Westen, durch die Alleghenies, und durchquerte dann einen entlegenen Zipfel von Pennsylvania. Auf einer Länge von 200 Meilen besteht die Grenze zwischen New York und Pennsylvania aus einer geraden Linie, doch in der nordwestlichen Ecke, in der ich mich nun befand, schwenkt sie so abrupt nach Norden, als hätte man dem Arm des Zeichners einen Stoß versetzt. Diese kleine kartografische Unregelmäßigkeit ergab sich dadurch, dass man Pennsylvania einen eigenen Zugang zum Lake Erie zugestand und den Staat auf diese Weise von den Verkehrswegen seines Nachbarstaates New York unabhängig machte. So belegt dieser Zipfel bis heute, wie wenig Vertrauen die einzelnen Staaten vor 200 Jahren in die Union hatten. Dass die Union dann tatsächlich funktionierte, war eine wesentlich größere Leistung, als man es heutzutage im Allgemeinen zu schätzen weiß.

Kaum war ich in Pennsylvania, mündete der Highway in die Interstate 90. Sie ist die wichtigste Ost-West-Achse im Norden Amerikas und erstreckt sich über 3016 Meilen von Boston bis nach Seattle. Dementsprechend sind dort viele Reisende unterwegs, die lange Strecken vor oder hinter sich haben. Sie sehen aus, als hätten sie ihr Auto seit Wochen nicht verlassen, und sind daher unschwer von den anderen Autofahrern zu unterscheiden. Zwar erhascht man im Vorbeifahren nur einen flüchtigen Eindruck von ihnen, doch der reicht aus, um zu sehen, wie häuslich sie sich in ihren Wagen eingerichtet haben – Wäschestücke hängen zum Trocknen, Überreste von Mahlzeiten stapeln sich auf der Hutablage, und überall liegen Bücher, Zeitschriften und Kissen herum. Auf dem Beifahrersitz schläft grundsätzlich eine dicke Frau mit weit geöffnetem Mund, während auf dem Rücksitz eine Hand voll Kinder allmählich durchdreht. Während die beiden Wagen aneinander vorüberziehen, tauscht man mit dem Vater gelangweilte, aber nicht unfreundliche Blicke aus, schaut kurz auf das Nummernschild des jeweils anderen und empfindet Neid oder Mitgefühl, je nachdem, wie weit der Betreffende noch von zu Hause entfernt ist. Einmal kam mir ein Auto mit einem Nummernschild aus Alaska entgegen. Ich konnte es gar nicht fassen. Noch nie hatte ich ein Nummernschild aus Alaska gesehen. Der Mann musste mehr als 4500 Meilen gefahren sein; das entspricht der Strecke London – Zambia. Er machte einen so gebrochenen Eindruck, wie ich es noch nie bei einem Menschen erlebt habe. Von Frau und Kindern war nichts zu sehen. Inzwischen bin ich der festen Überzeugung, dass er sie umgebracht und ihre Leichen in den Kofferraum geschafft hatte.

Es nieselte. In diesem Zustand völligen Stumpfsinns, dem man auf Interstate Highways hoffnungslos ausgeliefert ist, legte ich Meile um Meile zurück. Irgendwann tauchte rechts der Lake Erie auf. Wie alle Seen der Great Lakes gleicht er eher einem Binnenmeer als einem See. Er erstreckt sich über 200 Meilen von West nach Ost und ist etwa vierzig Meilen breit. Schon vor fünfundzwanzig Jahren hatte man ihn für tot erklärt. Während ich an seinem Südufer entlangfuhr und über die graue, flache Weite hinausblickte, wurde mir klar, welch eine beachtliche Leistung es ist, alles Leben in einem solch riesigen Gewässer auszulöschen. Es war kaum zu glauben, dass etwas so Kleines wie der Mensch etwas so Großes wie einen der Großen Seen zerstören konnte. Aber innerhalb nur etwa eines Jahrhunderts haben wir es vollbracht. Lasche Gesetze zum Schutz der Umwelt sowie der Triumph der Habgier über die Natur in den Zentren von Ruß und Staub, wie Cleveland, Buffalo, Toledo, Sandusky und wie sie alle heißen, haben den Lake Erie innerhalb von nur drei Generationen in ein überdimensionales Klosett verwandelt. Der größte Übeltäter von allen war Cleveland. Die Stadt war dermaßen verdreckt, dass ihr Fluss, der Cuyahoga River, eine gemächlich wabernde Schlammbrühe aus Chemikalien und halb zersetzten Feststoffen, sich eines Tages selbst entzündete und in Flammen stand. Das Feuer geriet außer Kontrolle und wütete vier Tage lang. Auch das ist eine beachtliche Leistung, wie ich finde. Es heißt, die Dinge hätten sich inzwischen gebessert. Während einer Kaffeepause in der Nähe von Ashtabula las ich in der Cleveland Free Press, dass ein offizielles Gremium mit dem stolzen Namen International Joint Commission’s Great Lakes Quality Board soeben seinen Untersuchungsbericht über die im Lake Erie enthaltenen chemischen Substanzen veröffentlicht hatte. Daraus ging hervor, dass gegenüber den mehr als tausend Chemikalien bei der letzten Messung nun lediglich 362 verschiedene Sorten gefunden worden waren. Das schien mir immer noch schrecklich viel zu sein. Mit einiger Verwunderung sah ich zwei Angler am Ufer stehen. Sie kauerten im Nieselregen und schleuderten ihre Angelschnüre in die grünliche Brühe. Wahrscheinlich fischten sie nach Chemikalien.

Bei trübem Regenwetter erreichte ich die ersten Vororte von Cleveland. Ich fuhr vorbei an Hinweisschildern zu Orten mit Namen wie Richmond Heights, Maple Heights, Garfield Heights, Shaker Heights, University Heights, Warrensville Heights, Parma Heights. Man hätte meinen mögen, man befände sich in einer mit Anhöhen übersäten Landschaft. Kurioserweise war das charakteristischste Merkmal dieser Gegend aber gerade ihre außerordentliche Plattheit. Was man in Cleveland heights nannte, verdiente diese Bezeichnung anderswo sicher nicht. Nach einer Weile wurde die Interstate 90 zum Cleveland Memorial Shoreway und führte am Ufer des Sees entlang. Spritzend zischten die Autos an mir vorbei. Die Scheibenwischer des Chevette arbeiteten unermüdlich. Jenseits meines Fensters breitete sich dunkel und gewaltig der See aus und verschwand schließlich im Dunst, während vor mir die Skyline von Downtown Cleveland näher und näher rückte. Cleveland hatte schon immer den Ruf einer schmutzigen, hässlichen und langweiligen Stadt. Aber auch das soll sich inzwischen geändert haben. Das behaupten zumindest Korrespondenten so seriöser Blätter wie Wall Street Journal, Fortune und New York Times Sunday Magazine. Sie kommen alle fünf Jahre einmal in die Stadt und schreiben dann lange Artikel mit Titeln wie »Cleveland lässt sich nicht unterkriegen« oder »Die Renaissance von Cleveland«, die von keinem Menschen gelesen werden. Am allerwenigsten von mir. Ich kann also nicht beurteilen, ob die unwahrscheinliche und sehr relative Behauptung, Cleveland hätte sich zu seinem Vorteil verändert, richtig oder falsch ist. Was ich mit Bestimmtheit sagen kann, ist, dass von der Freeway-Brücke über den Cuyahoga nichts als rauchende Fabrikschlote zu sehen waren. Von hier bot die Stadt weder einen sauberen noch einen schönen Anblick. Und auch was ich andernorts von Cleveland zu Gesicht bekam, hat mich nicht gerade vom Hocker gehauen. Vielleicht war die Stadt nicht mehr so unansehnlich wie früher, aber dieses ganze Gerede von einer Renaissance war eindeutig übertrieben. Würde man den Herzog von Urbino wieder zum Leben erwecken und nach Downtown Cleveland verfrachten, würde er wohl kaum ausrufen: »Mein Gott, ich fühle mich ins Florenz des fünfzehnten Jahrhunderts versetzt!«

Und dann lag Cleveland mit einem Mal hinter mir, und ich rollte über den James W. Shocknessy Ohio Turnpike durch die ländliche Leere zwischen Cleveland und Toledo. Der Stumpfsinn der Highways hatte mich wieder. Im Kampf gegen die Langeweile schaltete ich das Radio ein. Eigentlich hatte ich es den ganzen Tag ein- und ausgeschaltet, hatte ihm eine Weile zugehört und es dann entmutigt wieder zum Schweigen gebracht. Wer es nicht selbst erlebt hat, kann sich nicht vorstellen, welch eine Verzweiflung einen überkommt, wenn man im Laufe von drei Stunden zum vierzehnten Mal Hotel California von den Eagles hört. Man spürt förmlich, wie sich eine Gehirnzelle nach der anderen mit einem kleinen Plupp in Luft auflöst. Dass die Radioprogramme so unerträglich sind, liegt einzig und allein an den Discjockeys. Gibt es irgendwo einen Menschenschlag, der noch lästiger und noch beschränkter ist als Discjockeys? In Südamerika lebt ein Indianerstamm namens Janarnanos. Die Janamanos sind so zurückgeblieben, dass sie nicht einmal bis drei zählen können. Bei ihnen hört sich das so an: »Eins, zwei ... oh Mann, oh Mann – ein ganzer Haufen.« Discjockeys mögen sich geschmackvoller kleiden und auch über ausgeprägtere soziale Fähigkeiten verfügen, aber meiner Einschätzung nach haben wir es hier mit einem ähnlichen geistigen Entwicklungsstand zu tun.

Geduldig suchte ich den Äther nach etwas Hörbarem ab, konnte aber nichts finden. Dabei war ich nicht einmal besonders anspruchsvoll. Ich wollte nichts weiter als einen Sender, der nicht unaufhörlich das muntere Geträller pubertierender Mädchen brachte und der keine Discjockeys engagierte, die öfter als im Sechs-Sekunden-Takt »H-e-y-y-y-y« riefen und zwischendurch immer wieder beteuerten, wie sehr Jesus mich liebte. Ein solcher Sender schien jedoch nicht zu existieren. Und stieß ich einmal auf etwas halbwegs Akzeptables, wurde der Sender nach zehn oder zwölf Meilen so schwach, dass der alte Beatles-Song, dem ich gerade mit einigem Vergnügen lauschte, allmählich von der Stimme eines Mannes abgelöst wurde, der das Wort Gottes verkündete und mir versicherte, der Herr sei mein Retter in der Not.

Viele amerikanische Radiostationen sind lächerlich klein und mittellos, vor allem im Hinterland. Ich weiß das aus eigener Erfahrung, da ich als Teenager des Öfteren bei KCBC in Des Moines ausgeholfen habe. KCBC hatte die Übertragungsrechte für alle Baseballspiele der Iowa Oaks, konnte es sich aber nicht leisten, seinen Sportreporter, einen netten, jungen Typen namens Steve Shannon, und sein Team zu den Spielen zu schicken. Wenn die Oaks also in Denver oder Oklahoma City waren, oder wo immer sie gerade spielten, begaben Shannon und ich uns ins KCBC-Studio – eine Wellblechhütte neben einem hohen Sendeturm auf einem Acker irgendwo südöstlich von Des Moines –, wo er dann auf Sendung ging und so tat, als wäre er in Omaha. Es war schon ziemlich verrückt. Alle paar Runden rief mich jemand aus dem Stadion an und übermittelte mir am Telefon eine kurze Zusammenfassung des Spiels, die ich in ein Protokollbuch kritzelte und an Shannon weiterreichte. Mit diesem Material machte er dann eine zweistündige Sendung.

Es war wirklich ein Erlebnis, an einem heißen Augustabend in einer fensterlosen Hütte zu sitzen, den Grillen zu lauschen und einem Mann zuzusehen, der pausenlos in ein Mikrofon sprach – was sich ungefähr so anhörte: »Es ist ziemlich kühl hier heute Abend in Omaha, und vom Missouri River weht eine leichte Brise zu uns herüber. Unter den Zuschauern befindet sich heute auch Gouverneur Warren T. Legless mit seiner bildhübschen jungen Frau Bobbie Rae. Ich kann sie beide hier unter der Pressetribüne sitzen sehen.« Shannon war ein Genie in solchen Dingen. Ich kann mich erinnern, dass wir einmal vergeblich auf den Anruf aus dem Stadion warteten, weil der Typ am anderen Ende in der Toilette eingeschlossen war oder so ähnlich. Shannon hatte natürlich keine Ahnung, was er seinen Zuhörern erzählen sollte. Also verschob er das Spiel kurzerhand und begründete die Verzögerung mit einem Platzregen, obwohl er kurz zuvor noch davon gesprochen hatte, wie herrlich und wolkenlos der Abend sei. Dann sendete er Musik, rief im Stadion an und bat jemanden, ihn über den bisherigen Verlauf des Spiels zu unterrichten. Später las ich, dass genau dasselbe auch Ronald Reagan in seiner Zeit als junger Sportreporter in Des Moines passiert war. Reagan hatte die Situation damals bewältigt, indem er den Schlagmann über eine halbe Stunde lang einen foul ball nach dem anderen schlagen ließ. Das ist zwar im Baseball mehr als unwahrscheinlich, aber Reagan gab vor, nichts Unglaubwürdiges daran finden zu können. Wenn man es sich genau überlegt, entspricht dieses Verhaltensmuster ja auch ungefähr der Art und Weise, wie er als Präsident das Land regiert hat.


Am späten Nachmittag stieß ich zufällig auf die Nachrichtensendung einer Radiostation in Crudbucket, Ohio, oder irgend so einem Nest. Die Nachrichten amerikanischer Radiosender dauern im Allgemeinen nicht länger als dreißig Sekunden. Was ich hörte, war Folgendes: »Ein junges Ehepaar aus Crudbucket, Dwayne und Wanda Dreary, und ihre sieben Kinder, Ronnie, Lonnie, Connie, Donnie, Bonnie, Johnny und Tammy-Wynette, kamen heute ums Leben, als ein Privatflugzeug in ihr Haus stürzte und explodierte. Wie wir von Feuerwehrhauptmann Walter Embers erfuhren, kann Brandstiftung zu diesem Zeitpunkt nicht ausgeschlossen werden. An der Wall Street rutschten die Kurse heute auf den tiefsten Stand aller Zeiten. Der Dow-Jones-Index gab um 508 Punkte nach. Und nun die Wetteraussichten für Crudbucket und Umgebung: wolkenloser Himmel und zwei Prozent Niederschlagswahrscheinlichkeit. Sie hören Radio K-R-U-D, der Sender mit viel Rock und wenig Talk.« Es folgte Hotel California von den Eagles.

Ich starrte das Radio an. Hatte ich richtig gehört? Die Aktienkurse auf dem tiefsten Stand aller Zeiten? Die amerikanische Wirtschaft vor dem Zusammenbruch? Schnell suchte ich nach einer anderen Nachrichtensendung: »... aber Senator Poontang leugnete, die Nutzung der vier Cadillacs und seine Reisen nach Hawaii stünden in irgendeinem Zusammenhang mit dem 120-Millionen-Dollar-Vertrag über den Bau des neuen Flughafens. Die Wall Street erlebte heute den größten Kurssturz der Geschichte. Innerhalb von weniger als drei Stunden gab der Dow-Jones-Index um 508 Punkte nach. Und nun zum Wetter: In Crudbucket ist heute mit starker Bewölkung und zweiundneunzig Prozent Niederschlagswahrscheinlichkeit zu rechnen. Nach einer kleinen Werbepause hören Sie wieder Musik von den Eagles.«

Die amerikanische Wirtschaft lag in Scherben, und alles, was man zu hören bekam, waren Songs von den Eagles? Ich drehte und drehte am Radio herum, fest davon überzeugt, dass irgendwo irgendein Sender der drohenden Großen Weltwirtschaftskrise mehr als nur zwei beiläufige Sätze widmen würde. Und so war es auch, dem Himmel sei Dank. Es war CBC, das kanadische Sendenetz, das sich den ganzen Abend mit dem Börsenkrach an der Wall Street beschäftigte. Ich überlasse es Ihnen, verehrter Leser, sich die Verbitterung eines amerikanischen Staatsbürgers vorzustellen, der in seinem eigenen Land unterwegs ist und einen ausländischen Radiosender einschalten muss, um sich über Einzelheiten einer der einschneidendsten Inlandsmeldungen des Jahres zu informieren. Gerechterweise möchte ich hinzufügen, dass auch das öffentlich-rechtliche Sendenetz Amerikas – vermutlich das finanzschwächste in der entwickelten Welt – dem Börsenkrach einen langen Bericht widmete, wie ich später erfuhr. Ich schätze, er wurde aus einer Wellblechhütte auf irgendeinem Acker gesendet.

Bei Toledo fuhr ich auf die Interstate 75 und weiter in Richtung Norden nach Michigan, wo ich in Dearborn, einem Vorort von Detroit, übernachten wollte. Fast übergangslos fand ich mich in einem Dschungel aus Lagerhäusern, Eisenbahnschienen und gewaltigen Parkplätzen wieder, die zu weit abseits der Straße liegenden Automobilwerken gehörten. Die ungeheuer großen Parkplätze standen voller Autos, so dass sich mir die Frage aufdrängte, ob die Aufgabe der Fabriken einzig darin bestünde, genügend Autos zu produzieren, damit die Parkplätze stets prall gefüllt blieben. Unmengen von Strommasten überragten die Industrielandschaft. Wer hat sich nicht schon einmal gefragt, was aus all den Strommasten wird, die sich in jedem Land der Welt wie eine Armee außerirdischer Soldaten auf dem Vormarsch bis zum Horizont aufreihen? Hier ist die Antwort: Sie landen allesamt früher oder später auf einem Acker nördlich von Toledo. Dort entlädt sich ihre elektrische Energie in riesigen Transformatoren, Dioden und anderen Apparaten, die eine verblüffende Ähnlichkeit mit den Eingeweiden überdimensionaler Fernsehgeräte aufweisen. Die Erde unter mir dröhnte, und mir war, als spürte ich, wie ein Stromstoß durch das Auto ging, bei dem sich mir für einen Moment die Nackenhaare sträubten. Die Elektrizität hinterließ in meinen Achselhöhlen ein so seltsames, aber angenehmes Gefühl, dass ich große Lust hatte, an der nächsten Kreuzung zu wenden und noch einmal zurückzufahren, um in den Genuss einer weiteren Dosis zu kommen. Doch es war schon spät, und ich fuhr weiter. Ein paar Minuten lang meinte ich, verschmortes Fleisch zu riechen, und untersuchte vorsichtshalber meinen Kopf. Vermutlich handelte es sich hierbei jedoch lediglich um eine Überreaktion infolge der viel zu vielen Stunden, die ich einsam im Auto verbracht hatte. Vor Monroe, eine Stadt auf halbem Wege zwischen Toledo und Detroit, verkündete ein Schild am Straßenrand WILLKOMMEN IN MONROE – DIE HEIMATSTADT VON GENERAL LUSTER. Nach etwa einer Meile folgte ein zweites, noch größeres Schild mit den Worten MONROE, MICHIGAN – DIE HEIMAT DER LA-Z-BOY MÖBEL. Welch eine interessante Strecke, dachte ich. Doch ich hatte mich zu früh gefreut. Der Rest der Fahrt verlief ohne jegliche Aufregung.