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Ich fuhr durch eine Landschaft aus Weingummibergen, hügeligen Straßen und gepflegten Farmen. Über den Himmel zogen Wolken wie Wattebäusche, Wolken, wie man sie auf Gemälden sieht, die Schiffe auf hoher See darstellen. Die Städte hatten sonderbare, interessante Namen: Snowflake, Fancy Gap, Horse Pasture, Meadows of Dan, Charity. Virginia – so weit das Auge reichte. Der Staat schien kein Ende nehmen zu wollen. Er misst annähernd 400 Meilen in seiner Breite, doch durch die zahllosen Windungen der Straße verlängerte sich die Strecke wohl um mindestens 100 Meilen. Wann immer ich auf die Karte sah, schien ich kaum von der Stelle gekommen zu sein. Von Zeit zu Zeit kündigte ein Schild am Straßenrand eine historische Gedenktafel an. Ich fuhr grundsätzlich daran vorbei. Von diesen Gedenktafeln gibt es Tausende in Amerika, und allesamt sind sie langweilig. Ich kann das mit Bestimmheit sagen, weil mein Vater vor jeder einzelnen Tafel zu halten pflegte. Er lenkte den Wagen direkt davor und las laut, was darauf geschrieben stand, ob es uns interessierte oder nicht. Das hörte sich dann ungefähr so an:

DIE HEILIGE BEGRÄBNISSTÄTTE DER SINGENDEN BÄUME

Jahrhundertelang war dieses Land, bekannt als das Tal der Singenden Bäume, eine heilige Begräbnisstätte der Blackbutt-Indianer. Aus diesem Grund gab die US-Regierung das Land im Jahr 1880 dem Stamm unwiderruflich zurück. Als man dann jedoch im Jahr 1882 unter den Singenden Bäumen auf Öl stieß und 27 413 Blackbutts bei einer Reihe von blutigen Auseinandersetzungen ihr Leben ließen, wurde der Stamm in ein Reservat bei Cyanide Springs, New Mexico, umgesiedelt.

Was rede ich da? So gut war nicht eine dieser Tafeln. Im Allgemeinen gedachten sie einer völlig unbedeutenden und uninteressanten Begebenheit – dem Sitz der ersten Bibelschule im westlichen Tennessee, dem Geburtsort des Erfinders des Wasserklosetts, dem Haus des Komponisten der Hymne von Kansas. Noch bevor man eine dieser Gedenktafeln erreicht hatte, wusste man, dass sie langweilig sein würde, denn wäre sie auch nur im Entferntesten interessant, würde dort längst jemand einen Hamburger-Stand betreiben oder Souvenirs verkaufen. Doch Dad blühte jedes Mal auf und ließ sich stets aufs Neue beeindrucken. Nachdem er uns die Gedenkschrift vorgelesen hatte, würde er ein bewunderndes »Donnerwetter!« von sich geben, zurück zum Highway fahren und beim Einscheren mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit einem entgegenkommenden Truck in die Quere geraten, der dann ein wütendes Hupkonzert anstimmen und bei dem nun folgenden Ausweichmanöver einen Teil seiner Ladung verlieren würde. »Ja, das war wirklich sehr interessant«, würde Dad nachdenklich hinzufügen, ohne sich bewusst zu sein, dass er uns soeben beinahe ins Jenseits befördert hätte.

Ich war auf dem Weg zum Booker T. Washington National Monument, eine restaurierte Plantage in der Nähe von Roanoke, auf der Booker T. Washington aufgewachsen war. Ein bemerkenswerter Mann. Der einstige Sklave hatte sich selbst Lesen und Schreiben beigebracht, sich weitergebildet und schließlich das Tuskegee Institute in Alabama gegründet, das erste College für Schwarze in den Vereinigten Staaten. Doch damit nicht genug. Anschließend machte er Karriere als Soulmusiker und produzierte in den sechziger Jahren unter der Plattenfirma Stax einen Hit nach dem anderen. Wie gesagt, ein bemerkenswerter Mann. Ich hatte die Absicht, seine Plantage zu besichtigen und dann nach Monticello weiterzufahren, um mir dort in aller Ruhe das Haus von Thomas Jefferson anzusehen. Doch es sollte anders kommen. Kurz hinter Patrick Springs sichtete ich eine Nebenstraße, die zu einem Ort mit Namen Critz führte. Nach einem flüchtigen Blick auf die Karte rechnete ich mir aus, dass diese Strecke gut dreißig Meilen kürzer sein musste als meine ursprüngliche Reiseroute. Spontan riss ich das Lenkrad herum und bog in die Nebenstraße, wobei ich das Quietschen der Reifen nachahmte. (Ich musste dieses Geräusch selbst erzeugen, da der Chevette damit eindeutig überfordert war. Immerhin stieß er ein paar blaue Rauchwolken aus.)

Ich hätte es besser wissen müssen. Auf Reisen lautet meine oberste Devise, niemals einen Ort anzusteuern, dessen Name sich wie ein körperliches Gebrechen anhört. Der Name Critz klang wie eine unheilbare Krankheit mit Hautausschlag. Es lief darauf hinaus, dass ich mich hoffnungslos verfuhr. Sobald ich den Highway aus den Augen verloren hatte, löste sich die Straße in ein Gewirr unbeschilderter Feldwege auf, alle umgeben von mannshohem Gras. Eine Ewigkeit irrte ich darin umher. Mich überkam diese wilde, krankhafte Verbissenheit, die einen befällt, wenn man sich verfahren hat und meint, man müsse nur lange genug umherirren, um irgendwann sein Ziel zu erreichen. Immer wieder kam ich durch Ortschaften, die nicht auf meiner Karte verzeichnet waren Sanville, Pleasantville, Preston. Das waren keine Zwölf-Seelen-Gemeinden. Das waren richtige Städte, mit Schulen, Tankstellen und vielen, vielen Häusern. Ich begann bereits zu erwägen, die Zeitung von Roanoke anzurufen und dem Herausgeber mitzuteilen, ich hätte einen verlorenen Bezirk entdeckt.

Als ich schließlich zum dritten Mal durch Sanville fuhr, beschloss ich, jemanden nach dem Weg zu fragen. Ich hielt neben einem alten Mann, der gerade mit seinem Hund Gassi ging, und bat ihn, mir den Weg nach Critz zu erklären. Ohne mit der Wimper zu zucken, setzte er zu einem Schwall atemberaubend differenzierter Anweisungen an. Er muss fünf Minuten lang ununterbrochen geredet haben. Was er sagte, hörte sich an wie eine Beschreibung der Expedition von Lewis und Clark durch die Wildnis. Ich verstand nicht ein Wort, doch als er eine Pause einlegte und mich fragte, ob ich so weit folgen könne, log ich und bejahte.

»Okay, so kommen Sie also nach Preston«, fuhr er fort. »Von dort folgen Sie der alten Viehtreiberstraße in östlicher Richtung stadtauswärts bis zum Laden von McGregor. Der ist nicht zu verfehlen, denn vor seiner Tür hängt ein Schild, auf dem THE McGREGOR PLACE steht. An der Kreuzung ungefähr hundert Meter weiter steht ein Hinweisschild nach Critz und zeigt nach links. Diese Straße dürfen Sie auf keinen Fall nehmen, denn die Brücke ist weg. Wenn Sie über diese Straße fahren, landen Sie direkt im Dead Man’s Creek.« So ging es minutenlang weiter. Als er mit seiner Wegbeschreibung endlich fertig war, dankte ich ihm und fuhr unsicher in die Richtung, in die er zuletzt gedeutet hatte. Nach 200 Metern stand ich vor einer Kreuzung und hatte nicht die blasseste Ahnung, wohin ich mich wenden sollte. Ich bog rechts ab. Und zehn Minuten später begegneten wir uns zu unser beider Überraschung wieder – der alte Mann, sein ewig urinierender Hund und ich. Im Augenwinkel konnte ich sehen, dass der Mann aufgeregt gestikulierte. Er rief mir nach, ich sei falsch abgebogen. Da mir das selbst mehr als klar war, ignorierte ich sein Herumgehopse und bog an der Kreuzung nun links ab. Das brachte mich Critz zwar nicht näher, bereicherte aber meine Ortskenntnis um weitere Sackgassen und Feldwege, die sich im Nichts verloren. Um drei Uhr nachmittags kehrte ich auf den Highway 58 zurück, genau fünfzig Meter von der Stelle entfernt, an der ich ihn zwei Stunden zuvor verlassen hatte. Missgelaunt folgte ich ihm Stunde um Stunde. Für das Booker T. Washington National Monument und auch für Monticello war es zu spät, selbst wenn ich es schaffen sollte, mich nicht noch einmal zu verfahren. Es war ein absolut misslungener Tag. Ein freud- und wertloser Tag. Ich hatte weder etwas zu Mittag gegessen noch meine Lebensgeister mit Kaffee bei Laune gehalten. In Fredricksburg nahm ich ein Motelzimmer, aß in einem unbeschreiblich miesen Restaurant und zog mich dann in trübsinniger Stimmung aufs Zimmer zurück.


Am nächsten Morgen fuhr ich nach Colonial Williamsburg. Das historische Museumsdorf in Küstennähe ist eine der beliebtesten Touristenattraktionen im Osten. Sogar an diesem frühen Dienstagmorgen im Oktober füllten sich bereits die Parkplätze. Ich stellte den Wagen ab und mischte mich unter die Besucherschar, die auf das Visitors’ Centre zuströmte. Darin war es kühl und dunkel. In einer Glasvitrine unweit der Tür stand ein maßstabgetreues Modell des Dorfes. Seltsamerweise fehlte darauf der Pfeil, der dem Besucher anzeigte, wo er sich gerade befand. Nicht einmal das Visitors’ Centre selbst war darauf zu finden. Es gab nicht einen Anhaltspunkt, der verraten hätte, wo, vom augenblicklichen Standpunkt des Betrachters aus gesehen, das Museumsdorf liegen mochte. Das erschien mir äußerst sonderbar. Ich begann, Verdacht zu schöpfen, und stellte mich ein wenig abseits, um die Menschenmenge beobachten zu können. Allmählich dämmerte es mir. Hier war alles so angelegt, dass der Besucher den Eindruck gewinnen musste, der einzige Weg nach Williamsburg führe an der Kasse vorbei, dann durch eine Tür mit der ominösen Aufschrift »Abfertigung« und von dort in einen Shuttlebus, der ihn zu der vermutlich etwas entlegenen historischen Stätte befördern würde. Wer nicht, wie ich, aus dem Strom der Menschenmassen heraustrat, fand sich unversehens vor der Kasse wieder und musste sich innerhalb kürzester Zeit für eine von drei möglichen Eintrittskarten entscheiden – den Patriot’s Pass für 24,50 Dollar, den Royal Governor’s Pass für 20 Dollar oder das Basic Admission Ticket für 15,50 Dollar. Jede dieser Karten berechtigte zum Eintritt in eine unterschiedliche Anzahl restaurierter Gebäude: Bevor sie recht wussten, wie ihnen geschah, waren die meisten Leute beträchtliche Geldbeträge los und standen in der Schlange vor der Abfertigungstür.

Ich verabscheue die Art und Weise, wie man Besucher an Orte wie diesen lockt und ihnen bis zum letzten Moment vorenthält, wie unverschämt hoch die Eintrittspreise sind. An allen Zufahrtsstraßen müssten Schilder aufgestellt werden, die die Leute darüber informieren, was sie erwartet: DREI MEILEN BIS COLONIAL WILLIAMSBURG. HALTEN SIE IHR SCHECKHEFT BEREIT! Oder: EINE MEILE BIS COLONIAL WILLIAMSBURG! ES LOHNT EINEN BESUCH,IST ABER EIN ZIEMLICH KOSTSPIELIGES VERGNÜGEN. Wie immer, wenn ich merke, dass man mir das Geld aus der Nase ziehen will, fühlte ich auch jetzt, wie meine Verärgerung in wilden Hass umzuschlagen drohte. 24,50 Dollar – nur um ein paar Stunden durch ein Museumsdorf zu bummeln! Insgeheim war ich froh, dass ich Frau und Kinder am Flughafen von Manchester zurückgelassen hatte. Ein Tag in Colonial Williamsburg konnte einen Familienvater an die 75 Dollar kosten – und zwar ohne Eiskrem, Coca-Cola und Sweatshirts mit der Aufschrift »Mensch, war das toll in Colonial Williamsburg«.

Irgendetwas stimmte hier nicht. Irgendetwas an diesem ganzen Drum und Dran war faul. Wenn man wirklich nur mit einer Eintrittskarte in der Hand in das Museumsdorf käme, dann würde unübersehbar ein Schild verkünden: EINTRITT NUR MIT EINTRITTSKARTE. SIE SOLLTEN NICHT EINMAL IM TRAUM DARAN DENKEN, SICH OHNE ZU BEZAHLEN HIER EINTRITT ZU VERSCHAFFEN. Ich hatte lange genug in Amerika gelebt, um das zu wissen. Doch ein solches Schild stand hier nicht. Also ging ich wieder hinaus, zurück in den strahlenden Sonnenschein, und versuchte herauszufinden, wohin die Shuttlebusse fuhren. Sie bogen hinter der Auffahrt auf eine zweispurige Straße und verschwanden dann in einer Kurve. Ich schlängelte mich durch den Verkehr und überquerte die Straße, stieß dann auf einen Weg und folgte ihm. Nach wenigen Sekunden war ich im Dorf. So einfach war das. Ich musste nicht einen Penny bezahlen. Ganz in meiner Nähe entstiegen die Besitzer von Eintrittskarten den Shuttlebussen. Sie hatten eine Fahrt von zirka 200 Metern hinter sich und würden in Kürze erkennen, dass sie durch den Besitz ihrer Eintrittskarten zu wenig mehr berechtigt waren, als sich in die langen Schlangen anderer Besitzer von Eintrittskarten einzureihen, die sich vor jedem restaurierten Bauwerk gebildet hatten. Schweigend und vor sich hin schwitzend standen sie da und rückten ihrem Ziel im Dreiminutentakt einen Schritt näher. Ich glaube, ich habe noch nie so viele schlecht gelaunte Menschen auf einmal gesehen. Das Ganze erinnerte mich an Disney World. Ein nicht unbedingt unpassender Vergleich, denn Williamsburg ist so etwas wie ein Disney World amerikanischer Geschichte. Das gesamte Personal, vom Kartenabreißer bis zum Straßenfeger, war mit authentischen Kostümen bekleidet, die Frauen mit langen Schürzen und Hauben, die Männer mit Dreispitz und Kniehosen. Alles in allem umgab man die Geschichte mit dem Glanz glücklicher Zeiten und wollte den Besucher glauben machen, dass es eine reine Freude gewesen sein muss, seine Wolle selbst zu spinnen und die Kerzen von Hand zu ziehen. Es hätte mich nicht gewundert, Goofy und Donald Duck, als Soldaten der Kolonialarmee verkleidet, um die Ecke watscheln zu sehen.

Als Erstes kam ich an einem Haus vorbei, über dessen Tür ein Schild anzeigte, dass dies einst die Apotheke von Dr. McKenzie war. Die Tür stand offen, also ging ich hinein und erwartete, das Innenleben einer Apotheke des achtzehnten Jahrhunderts vorzufinden. Doch es handelte sich lediglich um einen Souvenirladen, in dem man zu haarsträubenden Preisen dekorativen Tand erstehen konnte – Kerzenleuchter aus Messing für 28 Dollar, nachgemachte Apothekergefäße für 35 Dollar und so weiter. Fluchtartig und mit einem Würgen im Hals verließ ich den Laden. Doch dann, ganz allmählich, begann ich, Gefallen an dem Dorf zu finden. Während ich über die Duke of Gloucester Street spazierte, vollzog sich in mir eine überraschende Wandlung. Die ganze Szenerie faszinierte mich mehr und mehr. Schon allein die Größe von Williamsburg ist beeindruckend. Über eine Fläche von siebzig Hektar verteilen sich Dutzende von restaurierten Häusern und Geschäften. Darüber hinaus ist es ausgesprochen hübsch, vor allem an einem sonnigen Oktobermorgen, wenn ein lindes Lüftchen durch die Eschen und Buchen weht. Ich schlenderte durch begrünte Gassen und über weitläufige Rasenflächen. Jedes Haus war eine Augenweide. Jede Kopfsteinpflastergasse, jede Taverne und jeder von Wein überwucherte Laden lockte mit einem pittoresken Charme, dem sich selbst ein so abgebrühter Kerl wie der Autor dieser Erzählung nicht entziehen konnte.

Wie fragwürdig Williamsburg auch als Dokument amerikanischer Geschichte sein mag – und seine Fragwürdigkeit in dieser Beziehung steht außer Frage –, es ist zumindest ein mustergültiges Städtchen. Erst hier erkennt man, wie unermesslich reizvoll weite Teile dieses Landes sein könnten, wenn die Menschen in Amerika nur ebenso viel Sinn für die Erhaltung historischer Stadtlandschaften aufbrächten wie in Europa. Man möchte meinen, dass all die Millionen von Besuchern, die Jahr für Jahr über Williamsburg hereinbrechen, sich begeistert zurufen: »Mein Gott, Bobbi, ist das schön hier. Lass uns nach Hause fahren und Bäume pflanzen und all die schönen, alten Häuser erhalten.« Aber so läuft das nicht in Amerika. Die Leute fahren heim nach Smellville oder sonst wohin und bauen weiter ihre Parkplätze und Pizza Huts.

Vieles in Williamsburg ist längst nicht so alt, wie man uns glauben machen will. Achtzig Jahre lang, von 1699 bis 1780, war das Städtchen die Hauptstadt des kolonialen Virginia. Doch als die Kolonialregierung nach Richmond verlegt wurde, ging es mit der Stadt zunehmend bergab. In den zwanziger Jahren dieses Jahrhunderts entdeckte John D. Rockefeller seine Leidenschaft für Williamsburg und begann, sein Geld in die Restaurierung zu stecken – so um die 90 Millionen Dollar. Heutzutage kann man kaum mehr unterscheiden, was echt und was der Fantasie entsprungen ist. Nehmen wir den Gouverneurspalast. Er scheint uralt zu sein – und, glauben Sie mir, niemand wird Sie vom Gegenteil überzeugen wollen –, stammt aber aus dem Jahr 1933. Das ursprüngliche Bauwerk brannte 1781 nieder. Wäre da nicht in der Bodleian Bibliothek in Oxford eine Zeichnung des Palastes aufgetaucht, die zumindest den Versuch einer Rekonstruktion ermöglichte, hätte im Jahre 1930 sicher niemand mehr sagen können, wie das Gebäude einmal ausgesehen hat. Jedenfalls ist der Palast alles andere als alt und womöglich nicht einmal originalgetreu.

Überall Fälschung und Schwindel, wohin man auch sah. Die Grabsteine an der Bruton Parish Church waren offensichtlich manipuliert, zumindest hatte man die Inschriften aufgefrischt. Irgendwer, ob Rockefeller oder sonst jemand, musste sich daran gestört haben, dass Grabsteine im Laufe der Jahrhunderte verwittern und unleserlich werden. Jedenfalls hatte man dafür gesorgt, dass die Inschriften wieder in alter Frische erstrahlen, als wären sie erst letzte Woche in den Stein gehauen worden, was denn auch durchaus denkbar ist. Auf Schritt und Tritt verfolgt einen die Frage, ob man nun ein authentisches Stück Geschichte oder schmückendes Beiwerk à la Disney World vor sich hat. Gab es diesen Severinus Dufray wirklich? Und, wenn ja, würde er ein Schild mit der Aufschrift »Vornehme Schneiderei« vor sein Haus gehängt haben? Möglicherweise. Ob vor der Apotheke von Dr. McKenzie tatsächlich ein Schild in leuchtenden Lettern verkündete: »Dr. McKenzie bittet um die gütige Erlaubnis, die Öffentlichkeit davon in Kenntnis setzen zu dürfen, dass er soeben große Mengen erstklassiger Ware erhalten hat, die in seinem Laden VERKAUFT wird, als da wären Tee, Kaffee, Seife, Tabak, etc.:«? Wer weiß.

Thomas Jefferson, ein zweifellos mit Feingefühl begabter Mann, mochte Williamsburg ganz und gar nicht und fand es sogar hässlich. (Auch davon erfährt man hier nichts.) Für das College und das Krankenhaus fand er Worte wie »primitive, unförmige Kästen«, den Gouverneurspalast nannte er »unschön«. Er muss von einem anderen Ort geredet haben, denn das Williamsburg von heute ist außerordentlich schön. Und deshalb mochte ich es.


Ich fuhr weiter nach Mount Vernon. Hinter diesem Namen verbirgt sich das Haus, in dem George Washington die meisten Jahre seines Lebens zu Hause war. Washington hat seinen Ruhm verdient. Was er als Oberbefehlshaber der amerikanischen Revolutionstruppen geleistet hat, war gewagt und verwegen, um nicht zu sagen meisterhaft. Seine Kritiker vergessen leicht, dass der Unabhängigkeitskrieg sich über acht Jahre hinzog. In dieser Zeit konnte Washington nicht immer auf rückhaltlose Unterstützung rechnen. Von einer Gesamtbevölkerung von 5,5 Millionen Menschen dienten zeitweise ganze 5000 Soldaten in seiner Armee. Auf 1100 Menschen kam also gerade ein Soldat. Wer einmal in Mount Vernon war und weiß, welch ein beschaulicher und schöner Ort das ist und wie angenehm Washington dort gelebt hat, muss sich fragen, warum er dort nicht zur Ruhe kam. Aber gerade das Rätselhafte an ihm macht ihn so interessant. Wir wissen nicht einmal genau, wie er aussah. Fast alle Porträts stammen von Charles Willson Peale oder sind Kopien seiner Arbeiten. Peale malte sechzig Porträts von Washington. Leider waren Gesichter nicht gerade seine Stärke. Laut Samuel Eliot Morison sind sich Peales Gemälde von Washington, Lafayette und John Paul Jones allesamt so ähnlich, als stellten sie mehr oder weniger ein und dieselbe Person dar.

Mount Vernon erfüllte all die Erwartungen, die in Williamsburg unbefriedigt geblieben waren. Es war authentisch, interessant und informativ. Seit weit über einem Jahrhundert kümmert sich die Mount Vernon Ladys’ Association um die Erhaltung des Anwesens. Als das Haus 1853 zum Verkauf stand und sich erstaunlicherweise weder die Bundesregierung noch der Staat Virginia bereitfanden, es zu erwerben, tat sich eine Gruppe hingebungsvoller Frauen zusammen und gründete die Mount Vernon Ladys’ Association. Sie trieben die erforderlichen finanziellen Mittel auf, kauften das Haus und ein über achtzig Hektar großes Grundstück und machten sich daran, das Ganze minuziös wie zu Washingtons Lebzeiten herzurichten – vom Außenanstrich bis zum Tapetenmuster. Wie gut, dass John D. Rockefeller das Haus nicht in die Finger bekam. Mount Vernon wird von der Association bis heute mit so viel Hingabe und Sachverstand geführt, dass sich die Konservatoren historischer Stätten im ganzen Land ein Beispiel daran nehmen sollten. Vierzehn Zimmer sind der Öffentlichkeit zugänglich. In jedem Zimmer erteilt ein gut informierter Freiwilliger Auskunft über alles Wissenswerte und weiß auf fast jede Frage eine Antwort. Washington war maßgeblich an der Gestaltung des Hauses beteiligt. Selbst wenn er sich auf einem Feldzug befand, kümmerte er sich auch um die belanglosesten Fragen des Dekors. Die Vorstellung, wie er mit seinen Truppen, halb tot vor Hunger und Kälte, im Valley Forge saß und sich den Kopf über die Anschaffung von Spitzenborten und Teewärmern zerbrach, war irgendwie rührend. Welch ein großartiger Kerl. Welch ein Held.