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Im Jahr 1587 legte ein Schiff mit 115 Männern, Frauen und Kindern an Bord im Hafen von Plymouth ab. Die englischen Siedler verließen ihre Heimat, um auf Roanoke Island, eine Insel, die heute zu North Carolina gehört, die erste Kolonie in der Neuen Welt zu gründen: Kurz nach ihrer Ankunft wurde ein Kind namens Virginia Dare geboren – der erste weißhäutige Mensch, der in Amerika das Licht der Welt erblickte. Zwei Jahre später brach eine zweite Expedition von England aus auf. Der Trupp sollte in Erfahrung bringen, wie es den Siedlern ergangen war, ihnen ihre Post zustellen und die frohe Botschaft verkünden, dass der Kundendienst der British Telecom sich nun endlich an die Arbeit gemacht hatte, und dergleichen mehr. Doch als die Abgesandten an Land gingen, fanden sie die Siedlung verlassen vor. Es war weder eine Nachricht zu entdecken, wohin die Siedler gezogen waren, noch gab es Anzeichen, die auf einen Kampf schließen ließen. Nur ein Wort war geheimnisvoll in eine Mauer geritzt: »Croatoan« – der Name einer Nachbarinsel, auf der den Weißen freundlich gesinnte Indianer lebten. Vor Ort stellte sich jedoch heraus, dass die Siedler nie auf der Insel angekommen waren. Wohin hatte es sie verschlagen? Gingen sie freiwillig oder hatten Indianer sie weggezaubert? Ihr Verschwinden ist eines der großen Rätsel der Kolonialgeschichte.
Ich erwähne das hier, weil eine Theorie besagt, die Siedler wären landeinwärts gezogen und hätten sich in den Bergen von Appalachia niedergelassen. Warum sie das getan haben mochten, vermag jedoch niemand zu sagen. Europäische Forscher, die fünfzig Jahre später in Tennessee unterwegs waren, erfuhren von Cherokee-Indianern, dass in den Bergen schon seit vielen Jahren eine Gruppe Bleichgesichter leben würde, Menschen, die Stoffe am Körper und lange Bärte trügen. Zeitgenössischen Berichten zufolge ließen diese Leute vor jeder Mahlzeit eine Glocke läuten und hatten die sonderbare Angewohnheit, ihre Köpfe zu senken und mit leiser Stimme vor sich hin zu murmeln, bevor sie zu essen begannen.
Niemand hat diese geheimnisvolle Gemeinde je gefunden. In einer entlegenen, unbeachteten Region der Appalachen, hoch oben in den Clinch Mountains, über der Stadt Sneedville im Nordosten Tennessees, lebt allerdings seit Menschengedenken ein seltsamer Volksstamm, der sich Melungeon nennt. Die Melungeons (die Herkunft dieses Namens ist vollkommen unbekannt) weisen fast alle Kennzeichen von Europäern auf – blaue Augen, helles Haar, eine hoch gewachsene Statur –, haben jedoch eine dunkle, beinahe negroide Hautfarbe, die eindeutig nicht auf eine europäische Abstammung schließen lässt. Sie tragen englische Familiennamen – Brogan, Collins, Mullin aber niemand kennt ihre Herkunft, nicht einmal sie selbst. Ihre Vergangenheit liegt ebenso im Dunkel der Geschichte wie der Verbleib der Siedler von Roanoke Island. Tatsächlich vermutet man, sie könnten die verschwundenen Siedler von Roanoke sein.
Ich erfuhr von den Melungeons durch Peter Dunn, einen Kollegen beim The Independent in London. Als er hörte, dass ich eine Reise in diesen Teil der Welt plante, suchte er mir freundlicherweise einen Artikel heraus, den er vor einigen Jahren für das Sunday Times Magazine geschrieben hatte. Der Artikel war mit bemerkenswerten Fotos von Melungeons illustriert. Diese Menschen zu beschreiben, ist beinahe unmöglich. Auf den Bildern waren schlicht und einfach Weiße mit schwarzer Hautfarbe zu sehen. Ein, gelinde gesagt, verblüffender Anblick. Auf Grund ihres Äußeren sind sie seit langem Ausgestoßene im eigenen Land und leben in armseligen Hütten in den Bergen der Region Snake Hollow. Im Hancock County bedeutet »Melungeon« so viel wie »Nigger«. Bei den Bewohnern der Täler, ihrerseits im Allgemeinen arm und rückständig, gelten sie als absonderlich und verabscheuenswert. Folglich ziehen die Melungeons es vor, unter sich zu bleiben, und verlassen die Berge nur sehr selten, um sich mit Vorräten einzudecken. Sie mögen keine Außenseiter. Das haben sie mit den Menschen in den Tälern gemein. Peter Dunn erzählte mir, er und der Fotograf, der ihn begleitete, wären bei ihrem Besuch mit einem Empfang bedacht worden, der von gemäßigter Feindseligkeit bis zu unverhohlenen Einschüchterungsversuchen reichte. Für ihn war es ein ausgesprochen unangenehmer Auftrag. Wenige Monate später wurde in der Nähe von Sneedville ein Reporter des Time Magazine erschossen, weil er zu viele Fragen gestellt hatte.
Nun können Sie sich vielleicht vorstellen, welch ein ungutes Gefühl mich überkam, während ich dem Tennessee Highway 31 durch die Niederungen des sich windenden Clinch River folgte, vorbei an ärmlichen Tabakfarmen, auf dem Weg nach Sneedville. Das Hancock County ist der siebtärmste Bezirk der Nation, und so sah er auch aus. Abfall trieb in den Gräben, und die meisten Farmen waren einfach und schmucklos. In jeder Auffahrt stand ein Pick-up Truck mit einer Gewehrhalterung an der Heckscheibe, und wenn sich Menschen in den Gärten befanden, so unterbrachen sie, was immer sie gerade taten, und beobachteten, wie ich an ihnen vorüberfuhr. Ich erreichte Sneedville am späten Nachmittag. Es dämmerte fast. Vor dem Gebäude des Bezirksgerichts von Hancock hockten Teenager auf Pick-up-Trucks und plauderten. Auch sie starrten mir nach, als ich vorüberfuhr. Sneedville liegt so weit abseits des Geschehens und ist ein so unmögliches Reiseziel, dass das Auto eines Fremden dort Aufsehen erregt.
Viel zu sehen gab es nicht: das Gerichtsgebäude, eine Baptistenkirche, ein paar kastenförmige Häuser, eine Tankstelle. Da die Tankstelle geöffnet hatte, fuhr ich an die Zapfsäule. Genau genommen brauchte ich noch kein Benzin, wusste aber nicht, wann ich wieder an einer Tankstelle vorbeikommen würde. Das Gesicht des Tankwarts war von Unmengen fleischiger Warzen übersät. Sie wucherten wie junge Champignons. Er sah aus, als wäre er das Produkt eines gentechnischen Experiments, das auf furchtbare Weise schief gegangen war. Er fragte mich, welches Benzin ich wünsche, sprach ansonsten aber kein Wort. Er äußerte sich nicht einmal zu der Tatsache, dass ich von weither kam. Zum ersten Mal während dieser Reise stand ich an einer Tankstelle, ohne dass mich der Tankwart mit gewinnendem Lächeln fragte: »Sie sind aber weit weg von zu Hause, arentcha?« oder: »Was führt Sie denn aus Iowa in unsere Gegend?« (In der Hoffnung auf ein paar zusätzliche Green Stamps antwortete ich dann immer, ich sei auf dem Weg nach Osten, um mich dort einer unerlässlichen Herzoperation zu unterziehen.) Höchstwahrscheinlich hatte der Mann in diesem Jahr außer mir noch keinen Menschen gesehen, der nicht aus Tennessee stammte. Dennoch schien ihn nicht im Geringsten zu interessieren, was mich in diese Gegend führte. Das fand ich merkwürdig. Ich sagte (meine Worte überschlugen sich förmlich): »Entschuldigen Sie, aber habe ich nicht irgendwo gelesen, dass in dieser Gegend Menschen leben, die sich Melungeons nennen?«
Er antwortete nicht. Schweigend sah er zu, wie sich die Benzinuhr drehte. Ich nahm an, er hätte mich nicht gehört, und wiederholte: »Ich sagte, entschuldigen Sie, aber habe ich nicht gehört, dass in dieser Gegend –«
»Weiß ich nich«, fiel er mir abrupt ins Wort, den Blick noch immer auf die Benzinuhr gerichtet. Dann sah er mich an. »Davon weiß ich nichts. Soll ich das Öl nachsehen?«
Von der Frage überrascht, zögerte ich. »Nein danke.«
»Das macht elf Dollar.« Ohne ein Wort des Dankes nahm er mir das Geld ab und entfernte sich. Ich war sprachlos. Eigentlich weiß ich nicht einmal, warum. Durch das Fenster konnte ich sehen, wie er den Telefonhörer abnahm und telefonierte. Während er das tat, blickte er zu mir hinüber. Plötzlich war ich hellwach. Was, wenn er die Polizei holte, um mich zu erschießen? Im Davonbrausen hinterließ ich auf seiner Auffahrt eine kurze Reifenspur – was einem mit einem Chevette nicht alle Tage gelingt. Ich trat aufs Gaspedal, bis die Kolben quietschten, und verließ mit der halsbrecherischen Geschwindigkeit von siebenundzwanzig Meilen pro Stunde die Stadt. Nach ungefähr einer Meile mäßigte ich das Tempo, zum einen, weil die Straße fast senkrecht bergauf führte und der Wagen nicht schneller konnte – in einer Schrecksekunde glaubte ich, er würde rückwärts den Berg hinabrollen – und zum anderen, um mich zur Ruhe zu zwingen. Der Typ hatte vermutlich nur seine Frau angerufen, um sie daran zu erinnern, ihm die Warzensalbe aus der Apotheke mitzubringen. Und selbst wenn er die Polizei angerufen und einen Fremden gemeldet haben sollte, der durch unverschämte Fragen aufgefallen war –, was konnten die schon gegen mich unternehmen? Ich befand mich in einem freien Land und hatte gegen kein Gesetz verstoßen. Ich hatte eine unschuldige Frage gestellt, und zwar höflich. Wie könnte ich damit jemanden beleidigt haben? Es war offensichtlich albern, sich bedroht zu fühlen. Trotzdem ertappte ich mich immer wieder dabei, dass ich in den Rückspiegel schaute und halb damit rechnete, hinter mir eine Armee von Polizeiwagen und Scharen von Freiwilligen der Bürgerwehr in Pick-up-Trucks am Berg auftauchen zu sehen. Umsichtigerweise erhöhte ich meine Geschwindigkeit von elf auf dreizehn Meilen pro Stunde.
Hoch oben auf dem Berg sah ich die ersten Hütten. Sie standen etwas abseits der Straße auf einer Lichtung. Ich blinzelte angestrengt durch die Bäume und hoffte, ein oder zwei Melungeons zu entdecken. Doch die wenigen Menschen, die mir begegneten, waren weiß. Während ich an ihnen vorbeirumpelte, starrten sie mich eigenartig überrascht an, so, wie man einen Mann anstarrt, der auf einem Vogel Strauß reitet. Die wenigsten erwiderten meinen Gruß. Nur ein oder zwei Passanten winkten mir auf ihre ganz eigene, ökonomische Art zu, indem sie kurz die Hand hoben und mit den Fingern zuckten.
Dies war das Land der Hinterwäldler. Viele Hütten sahen aus, als wären sie Li’l Abner entsprungen. Sie hatten durchhängende Veranden und schiefe Schornsteine. Einige waren verlassen. Andere schienen selbstgebaut zu sein. Das Holz für ihre ausladenden Anbauten hatten sich die Erbauer aller Wahrscheinlichkeit nach aus den Wäldern besorgt. Die Leute hier in den Bergen brannten ihren Whisky noch immer schwarz. Doch heutzutage ist Marihuana das große Geschäft, ob Sie’s glauben oder nicht. Irgendwo habe ich gelesen, dass sich ganze Bergdörfer zusammenschließen und mit ein paar Hektar bepflanzten Landes in einer abgelegenen Bodensenke bis zu 100 000 Dollar im Monat verdienen. Grund genug, um in dieser Gegend kein neugieriger Fremder zu sein, mehr noch als die Sache mit den Melungeons.
Obwohl ich mich stetig bergauf bewegte, waren die Wälder ringsum so dicht, dass ich von der Landschaft nichts zu sehen bekam. Auf dem Gipfel bot sich jedoch schließlich eine atemberaubende Aussicht über das Tal auf der anderen Seite. Es war, als hätte ich den höchsten Punkt der Erde erklommen – wie der Blick aus einem Flugzeug. Steile, bewaldete Berge mit saftigen Wiesen an ihren Hängen erstreckten sich bis zum Horizont, wo farbenprächtig die Sonne unterging. Vor mir schlängelte sich die Straße steil in ein hügeliges Tal hinab; in dem Farmen entlang den Ufern eines trägen Flusses verstreut lagen. Ein so vollkommenes Bild hatte ich noch nie gesehen. In diese Schönheit versunken, fuhr ich durch das weiche Licht der Abenddämmerung. Das Paradoxe war, dass am Straßenrand ausnahmslos schäbige Hütten standen. Ich befand mich im Herzen von Appalachia – eine Region, die für ihre Armut so berüchtigt ist wie kaum eine andere in Amerika –, und das Land war unsagbar schön. Eigenartig, dass Geschäftsleute in den nur wenige Autostunden entfernten Städten an der Ostküste bisher nicht damit begonnen hatten, eine Region von so überwältigender Schönheit wirtschaftlich zu erschließen und die Täler mit rustikalen Wochenendhäusern, Country Clubs und schicken Restaurants zu füllen.
Ebenso eigenartig war, in dieser Armut weiße Menschen leben zu sehen. Es gehört schon allerhand dazu, in Amerika weiß und arm zu sein. Natürlich handelte es sich hier um amerikanische Armut, die Armut der Weißen, die nicht mit der Armut anderswo zu vergleichen ist. Sie hatte selbst mit der Armut von Tuskegee wenig gemein. Zyniker behaupten, Appalachia hätte im Brennpunkt des 1964 von Lyndon Johnson geführten »Krieges gegen die Armut« gestanden, nicht weil es so mittellos, sondern weil es so weiß war. Aus einer der Öffentlichkeit kaum bekannten Untersuchung aus jener Zeit geht hervor, dass vierzig Prozent der ärmsten Menschen in dieser Region ein Auto besaßen, ein Drittel davon einen Neuwagen. 1964 war mein späterer Schwiegervater in England, wie die meisten Menschen dort drüben, noch Jahre davon entfernt, ein eigenes Auto zu besitzen, und bis heute nennt er keinen Neuwagen sein Eigen. Dennoch käme niemand auf die Idee, ihn als arm zu bezeichnen und ihm zu Weihnachten einen Sack Mehl oder Strickwolle zu schicken. Ich muss jedoch zugeben, dass die Hütten um mich herum für amerikanische Verhältnisse ausgesprochen bescheiden wirkten. In ihren Gärten standen keine Satellitenschüsseln und keine Weber Grills. Auf keiner Auffahrt sah ich einen Kombiwagen. Und ich wette, die armen Teufel hatten auch keine Mikrowellenherde in ihren Küchen stehen. Für amerikanische Maßstäbe sind das verdammt unwürdige Lebensverhältnisse.