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Obwohl ich es hätte besser wissen müssen, bestand Colorado in meiner Vorstellung nur aus Bergen. Kaum hätte ich Kansas verlassen, würde ich mich inmitten der schneebedeckten Rockies wiederfinden, in einer Landschaft aus saftigen Bergwiesen voller Butterblumen, über die sich ein blauer Himmel wölbte, und die Luft wäre so knackig wie frischer Sellerie – so dachte ich. Weit gefehlt. Das Land war flach und braun, und überall traf ich auf entlegene Ortschaften mit so fantasielosen Namen wie Swink, Ordway oder Manzanola. Ihre Bewohner waren unverkennbar arm. In der Nähe von Spirituosengeschäften und Tankstellen schnüffelten verwahrloste Hunde herum, und im Gestrüpp der Straßengräben glitzerten zerschlagene Flaschen. Die Schilder entlang der Straße waren von Gewehrkugeln durchsiebt. Das war sicher nicht das Colorado, von dem uns John Denver so gern ein Liedchen trällert.
Die Straße führte unmerklich, aber stetig bergauf. Jedes Städtchen am Highway lag ein paar Meter höher als das vorherige. Doch erst kurz vor Pueblo, 150 Meilen hinter der Staatsgrenze, konnte ich die Berge sehen. Plötzlich waren sie da. Blau und schneebedeckt erhoben sie sich in der Ferne.
Ich wollte dem State Highway 67 in Richtung Norden zu den beiden alten Goldgräberstädten Victor und Cripple Creek folgen. Laut Karte lag eine landschaftlich reizvolle Strecke vor mir. Mir war jedoch entgangen, dass es sich um eine nicht asphaltierte Strecke handelte, die durch einen Gebirgspass mit dem Unheil verkündenden Namen Phantom Canyon führte. Sie erwies sich als die miserabelste, steinigste und zerfurchtetste Straße, die ich je befahren habe. Jeder bewegliche Gegenstand im Wagen tanzte während der Fahrt, und hin und wieder flog eine der Türen auf. Zu allem anderen Übel konnte ich nirgendwo wenden. Auf der einen Seite ragte dicht neben der Straße eine Felswand so steil wie die Wand eines Wolkenkratzers empor, während sich auf der anderen Seite ein ebenso steiler Abgrund auftat, durch den ein reißender Fluss wirbelte. Im Schritttempo arbeitete ich mich Meter um Meter voran und hoffte, die Straße würde bald besser werden. Sie wurde natürlich nicht besser, sondern schlängelte sich nur immer steiler und gefährlicher bergauf. Zeitweise rückten die Seiten des Canyons näher zusammen, und ich war eine ganze Weile von Wänden aus brüchigem Gestein umgeben, die aussahen, als wären sie mit einem Hammer bearbeitet worden. Dann, ganz plötzlich, weitete sich der Canyon wieder und gab den Blick auf die haarsträubenden Tiefen der Schlucht frei.
Über mir balancierten haushohe Felsbrocken auf steinernen Stecknadeln und schienen nur auf einen geeigneten Augenblick zu warten, um herunterzustürzen und mich einer Fußmatte gleichzumachen. Überall waren Spuren von Steinschlag zu sehen. Im ganzen Tal verstreut lagen riesige Brocken, die aus der Felswand gebrochen waren. Ich betete, dass mir kein Auto entgegenkommen möge, doch diese Sorge war unnötig, denn natürlich war außer mir in ganz Nordamerika niemand so dämlich, zu dieser Jahreszeit durch das Phantom Valley zu fahren. Jederzeit konnte ein plötzliches Unwetter die Straße unpassierbar machen, und das Auto würde monatelang festsitzen oder direkt in die Tiefe schlittern. Mir fehlte jede Erfahrung mit so lebensbedrohlichen Landschaften wie dieser. Vorsichtig fuhr ich weiter.
Hoch oben in den Bergen überquerte ich eine hölzerne Brücke, die sich geradezu lächerlich wackelig über einen gähnenden Abgrund spannte. Es war eine dieser Brücken, aus denen im Kino immer eine Latte unter den Füßen der Heldin bricht. Dann rutscht sie bis zu den Achseln durch das Loch und strampelt mit den hübschen Beinen hilflos in der Leere, während um sie herum Speere niederprasseln. Schließlich stürmt der Held herbei und rettet sie. Als Zwölfjähriger habe ich mich bei solchen Szenen immer gefragt, warum der Held seine Überlegenheit nicht nutzt und zu der Lady sagt: »O.k., ich rette dir das Leben, aber nachher will ich zugucken, wenn du dich ausziehst. Einverstanden?«
Kaum lag die Brücke hinter mir, fing es an zu schneien. Der wässrige Schnee vermischte sich mit den Hunderten von Insekten, die sich seit Nebraska vor meine Windschutzscheibe geworfen hatten (welch eine sinnlose Verschwendung von Leben!). Es bildete sich ein brauner Matsch, den ich mit der Seifenlösung aus der Scheibenwaschanlage wegwischen wollte, was allerdings lediglich zu einer farblichen Aufhellung der Schmierschicht führte. Sehen konnte ich noch immer nichts. Also hielt ich an und sprang aus dem Wagen, um die Scheibe mit meinem Ärmel zu säubern. Sofort war mir klar, dass sich kein Luchs diese Gelegenheit entgehen lassen würde. Ich rechnete damit, dass jeden Moment ein Vertreter dieser Tierart auf meine Schultern springen und mir den Skalp vom Kopf reißen würde. Die Vorstellung, wie ich ohne Skalp die Berghänge hinunterstolpere, während der Luchs mich in die Fersen zwickt, stand mir so lebhaft vor Augen, dass ich eilig zurück ins Auto kroch, obwohl ich nur ein etwa briefumschlaggroßes Fleckchen Fenster gereinigt hatte, durch das ich blinzelte wie durch den Ausguck eines Panzerturms.
Jetzt sprang der Wagen nicht an. Das hatte mir gerade noch gefehlt. Hier oben in der dünnen Luft keuchte und stotterte der Motor nur und war ruck, zuck abgesoffen. Ich nutzte die Wartezeit, um einen Blick auf die Karte zu werfen, und stellte bestürzt fest, dass noch ganze zwanzig Meilen vor mir lagen. Auf dieser Straße hatte ich innerhalb einer guten Stunde sage und schreibe acht Meilen zurückgelegt. Die Gefahr, dass der Chevette es nicht mehr bis Victor und Cripple Creek schaffen könnte, wurde mir unangenehm bewusst. Zum ersten Mal kam mir der Gedanke, dass mir auf dieser Straße vielleicht nicht eine Menschenseele begegnen würde. Sollte ich hier sterben, dachte ich entmutigt, könnte es Jahren dauern, bis jemand mich oder den Chevette finden würde. Das wäre eine ausgesprochene Tragödie, denn abgesehen von allem anderen war die Garantie auf die Autobatterie noch nicht abgelaufen.
Natürlich bin ich dort oben in den Bergen nicht abgekratzt. (Um die Wahrheit zu sagen – ich habe nicht die Absicht, jemals zu sterben.) Der Wagen sprang irgendwann an, ich überwand mühsam den letzten Gebirgspass und erreichte Victor ohne weitere Vorkommnisse. Victor bot einen idyllischen Anblick. Das Städtchen mit Gebäuden wie im Wilden Westen schmiegt sich unpassenderweise in ein grünes Tal von unbeschreiblicher Schönheit. Keine der einstigen Boomtowns boomte wie Victor und das sechs Meilen entfernte Cripple Creek. Auf dem Höhepunkt des Booms im Jahre 1908 verfügten beide Städte zusammen über 500 Goldminen und eine Bevölkerung von 100 000. Die Minenarbeiter wurden in Gold bezahlt. Innerhalb von rund fünfundzwanzig Jahren holte man Gold im Wert von 800 Millionen Dollar aus der Erde. Eine Menge Leute sind damals reich geworden. Jack Dempsey lebte in Victor und begann dort seine Karriere.
Heute sind nur noch wenige Minen in Betrieb, und die Bevölkerung ist auf knapp eintausend zurückgegangen. Trotz seiner asphaltierten Straßen wirkte Victor wie eine Geisterstadt. Backenhörnchen flitzten zwischen den Häusern hin und her, und in den Ritzen der Gehsteige wuchs Gras. Das Städtchen war voll gestopft mit Antiquitäten- und Kunstgewerbeläden, die jedoch fast ausnahmslos geschlossen waren. Vermutlich warteten sie auf die Sommersaison. Nur wenige Läden standen leer. Am Amber Inn verkündete ein großes Schild, dass das Haus wegen Steuerhinterziehung beschlagnahmt sei. Das Postamt war jedoch geöffnet, ebenso ein Café, in dem lauter alte Männer in Latzhosen und jüngere Männer mit Bärten und Pferdeschwänzen saßen. Alle trugen sie Baseballmützen, die hier allerdings nicht für Düngemittel, sondern für Bier warben, für Coors, Bud Lite oder Olympia.
Ich beschloss, mein Mittagessen in Cripple Creek einzunehmen und machte mich auf den Weg. Kaum hatte ich Cripple Creek erreicht, wünschte ich, ich wäre in Victor geblieben. Cripple Creek liegt im Schatten von Mount Pisgah und Pikes Peak und zeigte sich weitaus touristischer als Victor. Obwohl sicher nicht viel Kundschaft kam, waren die meisten Läden geöffnet. Ich parkte vor dem Sarsaparilla Saloon an der Hauptstraße und sah mich um. Architektonisch unterschied sich Cripple Creek kaum von Victor. Doch hier war fast jedes Geschäft auf den Tourismus ausgerichtet. Es gab Souvenirläden, Snackbars, Eisdielen, eine künstliche Schlucht, in der Kinder nach Gold suchen konnten, und einen Minigolfplatz. Kurzum, es war ein ziemlich scheußlicher Ort. Das trostlose Wetter tat ein Übriges, um diesen Eindruck zu verstärken. Noch immer wirbelten Schneeflocken durch die Luft, und es war kalt. Cripple Creek liegt etwa dreitausend Meter über dem Meeresspiegel, und die Luft ist dünn genug, um bei Menschen, die nicht daran gewöhnt sind, eine unangenehme Kurzatmigkeit hervorzurufen. Die ganze Zeit spürte ich ein leichtes Unwohlsein. Da ich zu nichts weniger Lust hatte, als Eis zu essen oder eine Runde Minigolf zu spielen, setzte ich mich wieder ins Auto und kehrte Cripple Creek den Rücken.
Als ich auf die US 24 stieß, bog ich links ein und fuhr in Richtung Westen. Schlagartig klarte der Himmel auf, und die Sonne schien. Von Westen her zog ein Geschwader bauschiger Schönwetterwolken heran und streifte die Berge. Ich glitt über den rosaroten Asphalt des Highways wie über einen Streifen Kaugummi. Die Straße führte über den Wilkerson Pass und dann bergab in ein lang gestrecktes Tal aus hügeligen Wiesen, glänzenden Flüssen und Blockhütten vor dem Hintergrund mächtiger Berge. Es war eine Landschaft wie aus den Werbespots für Deodorants. Ich hatte den Highway fast für mich allein und genoss den Anblick. In der Nähe von Buena Vista fiel das Land steil ab, und vor mir breitete sich eine weite Ebene aus, die sich bis zu den majestätischen Collegiate Peaks erstreckte. Diese Gebirgskette, die höchste der Vereinigten Staaten, besteht aus sechzehn über viertausend Meter hohen Gipfeln auf einem Gebiet von dreißig Meilen Länge. Ich folgte dem Highway durch die Ebene und fuhr auf die hoheitsvollen, blauen und schneebedeckten Collegiates zu. Es war, als würde ich durch den Vorspann eines Paramount-Films fahren.
Eigentlich wollte ich nach Aspen. An der Abzweigung bei Twin Lakes verstellte mir jedoch eine Straßensperre den Weg. Auf einem Schild hieß es, der Highway über den Independence Pass nach Aspen sei nach starken Schneefällen unpassierbar. Über die gesperrte Straße lag Aspen nur ganze zwanzig Meilen entfernt, die nördliche Ausweichstrecke erforderte dagegen einen Umweg von 150 Meilen. Enttäuscht suchte ich auf der Karte nach einem anderen Nachtquartier und fuhr schließlich weiter nach Leadville, ein Ort, von dem ich noch nie gehört hatte.
Die Außenbezirke von Leadville waren zwar ärmlich und verwahrlost – erstaunlicherweise trifft man in Colorado häufig auf Armut –, doch die breite Hauptstraße war auffallend schön, gesäumt von stattlichen viktorianischen Häusern mit kleinen und großen Türmen. Hier erblickten sowohl die »Unsinkable Molly Brown« als auch Meyer Guggenheim das Licht der Welt. Auch Leadville lebte einst vom Gold- und Silberbergbau. Wie Cripple Creek und Victor hat sich das Städtchen inzwischen dem Tourismus verschrieben – jeder Ort in den Rockies hat sich dem Tourismus verschrieben –, konnte sich aber etwas von seinem ursprünglichen Charme bewahren und führte mit seinen 4000 Einwohnern ein vom Tourismus unabhängiges Eigenleben.
Ich nahm ein Zimmer im Timberline Motel, machte einen Bummel durch die Stadt und aß im Golden Burro Café anständig zu Abend – vielleicht war es nicht das beste Essen der Welt, wahrscheinlich nicht einmal das beste der Stadt, aber bei 6 Dollar für Suppe, Salat, Brathähnchen, Kartoffelpüree, grüne Bohnen, Kaffee und Kuchen kann man nicht meckern. Im Mondschein spazierte ich zurück zum Motel, sprang unter die Dusche und beschloss den Abend vor dem Fernseher. Wenn das Leben nur immer so einfach und sorglos wäre! Gegen zehn Uhr schlief ich ein und träumte glückliche Träume, in denen ich heldenhaft gegen angriffslustige Luchse, wacklige Holzbrücken und Windschutzscheiben voller klebriger Insekten kämpfte. Ich durfte sogar zusehen, als die Heldin sich auszog. Es war eine unvergessliche Nacht.