Pfad in die Finsternis

Tagelang streiften Arvan und seine Gefährten nun schon durch das Gebirge. Den Pass zu finden war für Lirandil nicht schwer gewesen. Arvan konnte ihn nur bewundern, denn weder ihm noch einem der Halblinge wäre der Eingang überhaupt aufgefallen. Er lag versteckt hinter unscheinbaren Felsen und war nur für jemanden zu finden, der sich wirklich gut in der Gegend auskannte.

Ein Feuer zu machen hatten sie nicht gewagt, um nicht von den Orks entdeckt zu werden.

»In diesen Bergen leben die wildesten und unabhängigsten Orkstämme«, berichtete Rhomroor. »Sie verachten die Orks an der Küste ebenso wie die der Hornechsenwüste und jeden anderen Fremden.«

»Ich nehme an, inzwischen sind sie ebenfalls zu Schergen Ghools herabgesunken«, glaubte Arvan. »So wie alle anderen Orks auch.«

»Da wäre ich mir nicht so sicher«, sagte Rhomroor. »Jedenfalls waren sie die Einzigen, die damals meine Herrschaft als Herr aller drei Orkländer nie anerkannt haben. Und ich wüsste nicht, dass sie dies bei irgendeinem anderen Orkherrscher getan hätten.«

»Dann wären sie vielleicht unsere Verbündeten?«, mischte sich Whuon ein. »Willst du das sagen, Ork?«

Rhomroor ließ nur ein lautes, abweisend klingendes Knurren hören und riss dabei das Maul mit den langen Hauern so weit auf, wie es ging. Was Rhomroor tat, erinnerte Arvan an ein Gähnen – aber es enthielt auch Merkmale einer Drohgebärde. »Diese Stämme sind normalerweise niemandes Verbündete gegen irgendwen. Vielleicht konnte Ghool sie unterwerfen, aber ich halte es auch für möglich, dass er sie einfach nicht weiter beachtet und gewähren lässt.«

»So nahe an seiner Feste sollte dieses machtgierige Ungeheuer Orks dulden, die sich ihm nicht unterworfen haben?«, fragte Arvan zweifelnd. »Das kann ich mir kaum vorstellen … oder wisst Ihr in dieser Hinsicht mehr, Lirandil?«

Der Elb schüttelte den Kopf. »Ich glaube nicht, dass die Orks der Berge für uns ein Problem sein werden. Sie leben verstreut in ihren Höhlen und bleiben am liebsten für sich. Und was Ghool angeht, so sind ihm die Bergorks vielleicht vollkommen gleichgültig.«

»Das denkt Ihr wirklich, werter Lirandil?«, fragte Brogandas spöttisch.

»Wie auch immer, wir sollten ihnen am besten so gut wie möglich aus dem Weg gehen«, meinte Zalea.

Ein Ruck ging plötzlich durch Lirandil. Er beugte sich nieder, legte das Ohr an den Boden. Schon im nächsten Moment war ein grollendes Geräusch in den Bergen zu hören. Der Boden zitterte, und einige Felsbrocken brachen aus den schroffen Bergwänden heraus und fielen in die Tiefe. Wie wandernde Schatten wirkten sie im fahlen Mondlicht.

»Ein Erdbeben«, stellte Borro fest.

»Ja«, murmelte Lirandil, der aufstand und besorgt den Blick schweifen ließ. Im Mondschein war nicht viel zu sehen.

»Aber das war kein gewöhnliches Beben, wie es an vielen Orten hin und wieder vorkommt«, sagte Brogandas.

»Ach nein?«, fragte Lirandil und musterte den Dunkelalben angestrengt.

»Ich habe etwas von der Kraft der Dunkelheit gespürt«, erklärte er. »Ich sehe in Euren Augen, dass dies auch für Euch gilt, Lirandil – auch wenn Ihr als Elb nicht zugeben dürftet, ihren Einfluss zu fühlen. Denn dann würde ja der Eindruck entstehen, dass Ihr darin geübter seid, als es einem aufrechten Elben gestattet ist, und Ihr vielleicht schon früher mal hin und wieder unerlaubte magische Mittel verwendet habt …«

»Da könnt Ihr sicher sein, dass das nicht der Fall ist«, versetzte Lirandil in einem Tonfall, der für seine Verhältnisse ziemlich gereizt klang.

»Könnt Ihr genauer sagen, was Ihr gespürt habt?«, fragte Borro. »Ich meine, es könnte ja sein, dass Ghool ahnt, dass wir hier sind, und uns nun vielleicht magisch begabte Diener auf den Hals schickt, die uns noch viel gefährlicher werden können als diese Orkscheusale, von denen Whuon schließlich ein halbes Dutzend pro Herzschlag zu töten vermag.«

Whuon grinste. »Gelernt ist jedenfalls gelernt«, stellte er fest.

»Was Borro sagt, wäre eine Möglichkeit«, gestand Brogandas zu. »Es tut mir leid, ich kann im Augenblick nicht mehr darüber sagen. Es war nur eine sehr undeutliche Empfindung.«

Lirandil legte erneut das Ohr an den Boden und erklärte schließlich: »Es ist besser, wir suchen uns einen anderen Lagerplatz. Gestein spaltet sich tief unter uns, und die Erde scheint in großer Unruhe zu sein. Unzähliges Getier, das in den Spalten und Höhlen dieser Gegend lebt, verlässt seine Wohnstätten …«

»Tja, bevor ich einen Felsbrocken auf den Kopf bekomme, schlage ich mir doch lieber die Nacht um die Ohren«, meinte Borro.

Sie brachen in aller Eile auf, um sich einen anderen Lagerplatz zu suchen. Allerdings war Lirandil ziemlich wählerisch. Obwohl keinerlei Erderschütterungen mehr spürbar waren, blieben sie nirgends.

Die Morgendämmerung setzte bereits ein, als sie an einen Ort kamen, an dem zahllose Knochen auf dem Boden verstreut waren.

»Orkschädel, würde ich sagen«, meinte Brogandas.

»Vollkommen richtig«, stimmte Lirandil zu. An den Schädeln war selbst jetzt noch unübersehbar, dass sie eines gewaltsamen Todes gestorben waren. Vermutlich im Kampf.

»Das sind Mitglieder der Bergstämme«, erklärte Rhomroor und setzte ein bekräftigendes Knurren hinzu. Er hob ein Lederband empor, an dem ein brauner Stein hing. »Brennsteinamulette«, stellte er fest. »Die tragen nur die Bergstämme, denn man kann sie entzünden und hat dann Licht in einer Höhle.«

»Brennholz dürfte in dieser kargen Felslandschaft auch ziemlich knapp sein«, glaubte Borro.

»So ist es«, bestätigte Rhomroor.

»Anscheinend hat Ghool die zum Aufruhr neigenden Stämme der Berge kurzerhand niedermetzeln lassen«, vermutete Lirandil stirnrunzelnd.

»Hattet Ihr etwa wirklich etwas anderes erwartet?«, fragte Brogandas mit spöttischem Unterton. »Ghool ist wie ein Dunkelalb. Er respektiert nur diejenigen, die stärker sind als er. Und diejenigen, die schwach oder ihm nicht untertan sind, haben seiner Ansicht nach keinen Platz in einem Reich, das von ihm beherrscht wird.«

»So kämpft Ihr derzeit ja anscheinend auf der falschen Seite«, stellte Zalea süffisant fest.

Brogandas wandte sich dem Halblingmädchen zu und lächelte breit, während die Runen in seinem Gesicht eigenartige gezackte Linien bildeten, die entfernt an Blitze erinnerten. »Durchaus nicht, denn unglücklicherweise betrachtet Ghool anscheinend auch die Dunkelalbenheit als schwach und entbehrlich.«

»Und wenn das schlicht und ergreifend die Wahrheit ist?«, fragte Zalea zurück.

»Du wirst uns nie verstehen, Halblingmädchen. Es hat deswegen auch wenig Sinn, wenn ich versuche, dir das zu erklären.«

»Wann mag dieses Gemetzel stattgefunden haben?«, fragte Whuon an Lirandil gewandt, der den Boden intensiv nach Spuren absuchte und sich einige der Knochen und zurückgelassenen Waffen und Kleidungsstücke anschaute, die bereits halb verrottet waren.

»Die Berggeier hatten Zeit genug, die Knochen restlos abzunagen«, stellte Lirandil fest. »Die Spuren ihrer Schnäbel und Krallen sind in das Gebein eingeritzt. Ich schätze, dass dieser Kampf schon mindestens ein paar Jahre zurückliegt.«

In der Ferne rumorte es wieder in den Bergen. Ein Felsbrocken brach aus einem Massiv heraus und fiel in die Tiefe, um dort zu zerspringen.

»Ich weiß nicht, ob es wirklich eine gute Idee ist, diesem Pass weiter zu folgen«, meinte Borro.

»Es gibt keinen anderen«, erklärte Lirandil.

»Der Weg über das Gebirge ist selbst für Orks kaum zu schaffen«, gab Rhomroor zu bedenken.

»Aber ich könnte mir nun wirklich ein schöneres Grab vorstellen, als unter Geröll liegen zu müssen«, erwiderte Borro.

»Du kannst ja zurückbleiben, wenn du dich fürchtest«, meinte Whuon.

Arvan bemerkte, dass Brogandas die Augen schloss und anscheinend hoch konzentriert war. Eine tiefe Furche hatte sich auf seiner Stirn gebildet, und die Runen rechts und links dieser Furche begannen sich symmetrisch an ihr auszurichten. »Ich weiß jetzt, welche Kräfte hier am Werk sind«, behauptete er. Er sank auf die Knie, ohne dabei die Augen zu öffnen. Dabei streckte er die Hände aus und spreizte die Finger. Hauchdünne schwarze Blitze zuckten aus den Fingerspitzen hervor und trafen den vibrierenden Boden, indem sich hier und da bereits Risse verzweigten.

Arvan umklammerte unterdessen den Elbenstab. Ja, es ist eine verwandte Kraft. Du erkennst sie auch …., wisperte die Gedankenstimme. Was ist? Was erschreckt dich so? Die Finsternis ist nur ein Werkzeug. Eine Kraft. Vielleicht die größte Macht, die es gibt!

Er ging auf den knienden Brogandas zu. Der nächste Erdstoß war jedoch so heftig, dass er beinahe das Gleichgewicht verlor und wie ein Halbling taumelte, der zu viel gegorenen Baumblütensaft zu sich genommen hatte.

Wieder stürzten Felsbrocken von den Hängen herab.

»Könnte es sein, dass sich der Pass schließt?«, fragte Borro. Aber niemand beachtete ihn im Moment.

»Sprecht weiter, Brogandas. Was ist das für eine Kraft, die ihr spürt?«, wollte Arvan unbedingt wissen.

Aber Brogandas war im Augenblick nicht ansprechbar. Ein Zittern durchlief seinen gesamten Körper.

Lirandil lauschte angestrengt den Geräuschen aus den Bergen, und sein Gesicht wirkte sehr sorgenvoll. Whuon umfasste instinktiv den Griff des kurzen Breitschwerts und schien genauso irritiert wie Rhomroor zu sein.

»Es ist ein Magischer Schlund, Arvan!«, rief Brogandas und öffnete die Augen.

»So wie der, in den Ihr mir gefolgt seid und der uns beide in die uralte Orkhöhle brachte?«, fragte Arvan.

Brogandas öffnete die Augen und sah zu ihm auf. »Ja, ganz genau.«

Whuon zog jetzt beide Schwerter. »Dann werden wir vermutlich mit unangenehmem Besuch rechnen müssen«, glaubte er. »Ich bin bereit.«

Rhomroor stieß einen dröhnenden Kampfschrei aus und riss die Axt hervor, die er im Rückenfutteral trug. Mit einer geradezu erschreckenden Leichtigkeit wirbelte er sie durch die Luft.

»Lasst uns von hier verschwinden!«, rief Lirandil sehr besorgt. »Ich kann die Spannungen im Boden hören. Große Gesteinsbrocken verschieben sich gegeneinander und … Schnell!«

Der Elb lief los. Arvan, Zalea und Borro folgten seinem Beispiel. Brogandas erkannte die drohende Gefahr mindestens genauso deutlich wie der Fährtensucher. Whuon und Rhomroor waren wohl diejenigen, die einen Moment länger unschlüssig waren als die anderen. Aber auch sie entschieden sich dafür, den vielfach überlegenen Sinnen des Elben zu vertrauen.

Sie waren kaum losgelaufen, da rollten bereits große Felsbrocken zusammen mit einer Lawine aus Geröll einen nahen Berghang hinab.

Auf der anderen Seite des Passes verzweigten sich ebenfalls Risse im Fels, und auch von dort aus schoss eine Gerölllawine talwärts.

Augenblicke nur, und wir werden alle begraben sein, durchfuhr es Arvan. Plötzlich waren sie alle wie erstarrt. Gleichgültig, wohin sie auch liefen – es gab kein Entkommen. Unaufhaltsam drängten die durch die Erdstöße gelösten Massen aus Geröll von den Hängen herab. Eine Flut, die alles bedecken, alles ersticken musste.

»Bei allen Waldgöttern«, murmelte Zalea, während Borro nur mit offenem Mund dastand. Selbst Lirandil schien fassungslos zu sein.

Brogandas murmelte mit dröhnender Stimme, die kaum das Getöse der herabbrandenden Geröllmassen zu übertönen vermochte, eine Formel. Blitze schossen aus seinen Fingerspitzen heraus, bohrten sich in den Boden, der sich aufzulösen und auf eine Länge von zwei Dutzend Schritt in einem dunklen Mahlstrom zu verschwimmen schien.

»Was um der namenlosen Elbengötter willen tut Ihr da?«, rief Lirandil entsetzt.

»Wer nicht sterben will, der folge mir!«, rief Brogandas.

»Aber Ihr wisst doch gar nicht, wohin dieser Schlund …«

Brogandas hörte das schon nicht mehr. Lirandils Einwand schien ihm angesichts der Lage gleichgültig zu sein. Er sprang in den Schlund und war im nächsten Moment darin verschwunden. Arvan überlegte noch. Sollte er ihm folgen? Die Gedankenstimme des Elbenstabs war ihm keine Hilfe. Sie winselte nur Unverständliches in seine Gedanken hinein, sodass ihm der Kopf schmerzte. Sie war letztlich offenbar genauso ratlos wie er selbst, und wieder musste Arvan an Lirandils Worte denken, denen zufolge diese Stimme nichts weiter als ein Spiegel seiner eigenen Gedanken war.

Borro sprang, dann Whuon und Rhomroor. Letzterer mit einem durchdringenden Orkschrei, der sogar durch das Getöse der Lawine hindurch zu hören war.

Eine Hand fasste Arvan. Ehe er so richtig begriffen hatte, was geschah, riss Zalea ihn mit sich. Im letzten Moment, bevor er in das dunkle, wirbelnde Nichts dieses Mahlstroms eintauchte, sah er aus den Augenwinkeln heraus Lirandil. Mit dermaßen vor Entsetzen geweiteten Augen hatte Arvan ihn nie zuvor gesehen. Nicht einmal in jenem Augenblick, da sie sich zum ersten Mal begegnet waren und eine Horde Orks dem elbischen Fährtensucher so dicht auf den Fersen gewesen war, dass er eigentlich keine Chance mehr gehabt hatte, lebend davonzukommen.

Arvan! Was auch immer geschieht – du wirst es beenden müssen!

Dieser eindringliche Gedanke des Elben hallte in seinen Gedanken wider – so eindringlich und dröhnend, dass er für einen Moment glaubte, sein Kopf müsste zerspringen. Aber dann war da nichts mehr. Nur noch Schwärze und Bewusstlosigkeit.