Lirandils Botschaft

Der flackernde Schein einer Fackel erfüllte das städtische Verlies von Asanilon. Ein Hauptmann der Stadtwache hatte Lirandil hierher begleitet und einen der Wärter angewiesen, auch die schwere gusseiserne Gittertür für den Besucher zu öffnen.

Lirandils bleiches Elbengesicht blieb vollkommen regungslos, als er Seldos erblickte. Man hatte den Magier mit schweren Eisen an Händen und Füßen festgekettet und ihn außerdem geknebelt, damit er nicht in der Lage war, magische Formeln zu sprechen. Es gab zwar Formeln, bei denen es vollkommen ausreichte, wenn man sie sehr konzentriert dachte, aber eine wirklich durchschlagende Wirkung hatten nur jene, die auch wirklich gesprochen wurden. Und genau das hatte man im Fall von Seldos verhindern wollen.

Seldos hing schlaff in seinen Ketten. Er war offenbar noch nicht aus seiner Bewusstlosigkeit erwacht. Der stumpfe Pfeil musste ihn schlimmer erwischt haben, als es auf den ersten Blick den Anschein gehabt hatte.

»Er ist noch nicht wieder zu sich gekommen?«, vergewisserte sich Lirandil.

»Bevor es dazu kam, wurde ihm ein Tuch unter die Nase gehalten, das mit einer betäubenden Essenz getränkt war«, erklärte der Hauptmann. Und fast entschuldigend fügte er hinzu: »Er ist ein Magier, und wir wissen nicht, welche Fähigkeiten er einsetzen könnte, um sich zu befreien.«

»Lasst mich mit ihm allein.«

»Seid Ihr sicher?«

»Im Gegensatz zu Euresgleichen habe ich keinerlei Furcht vor diesem Magier.«

Der Hauptmann zögerte. »Ihr habt Euch dem Turm des Asanil mit einer Genehmigung von König Candric genähert – aber dieser Frevler hat das aus eigenem Recht versucht und sich damit über das oberste Gesetz der Stadt hinweggesetzt.«

»Das bedeutet, man will ihm hier den Prozess machen.«

»Das ist unausweichlich.«

»Wie Ihr gesehen habt, besitze ich eine umfassende Vollmacht des Königs. Und damit auch das Recht, mich über die Gerichtsbarkeit Eurer Stadt hinwegzusetzen.«

»Das werdet Ihr mit dem Rat besprechen müssen«, erklärte der Hauptmann. »Und was Euer Ansinnen angeht, mit diesem Gesetzesbrecher allein zu sein, so kann ich Euch nur ausdrücklich warnen. Vor einigen Jahren tötete ein Thuvasier, der angeklagt werden sollte, weil man ihn des Betrugs durch Beeinflussung der Gedanken verdächtigte, ein halbes Dutzend Wächter. Ihr werdet daher unsere Vorsicht verstehen.«

»Ich will, dass er in einigen Tagen freigelassen wird. Danach wird er kein anderes Ziel verfolgen, als möglichst schnell in seine Heimat zurückzukehren. Dafür verbürge ich mich.«

»Na, dann will ich hoffen, dass Ihr recht behaltet, Elb!«, lautete die Antwort des Hauptmanns. »Doch was immer Ihr auch vorhabt, ich will sehen, was Ihr tut.«

Lirandil zuckte mit den Schultern. »Ganz wie Ihr meint«, gab er nach, da er einsah, dass er den Hauptmann nur umso misstrauischer machte, je mehr er darauf bestand, mit dem Thuvasier allein zu sein.

Lirandil trat an den bewusstlosen Gefangenen heran und kniete vor ihm nieder. Mit Daumen, Zeige- und Mittelfinger beider Hände berührte er die Schläfen des Magiers. Der Elb murmelte eine Formel. Normalerweise hätte er es niemals gewagt, einen Magier aus Thuvasien gedanklich zu beeinflussen. Oder ihm gar einen inneren Drang eingeben zu wollen, in seine Heimat im äußersten Norden Athranors zurückzukehren, um davon zu berichten, dass Lirandil der Fährtensucher in Bälde eine magische Waffe zur Verfügung stehen würde, die schon König Elbanador den Sieg über Ghool ermöglicht hatte.

Eine Waffe, die vielleicht das gesamte Gefüge der Kräfte auf Athranor verändern und die Thuvasier dazu bewegen konnte, ihre unentschlossene Haltung aufzugeben und endlich dem Bündnis beizutreten, das der Elb seit so langer Zeit geschmiedet hatte.

Nur die Tatsache, dass Seldos von Thuburg bewusstlos und außerdem durch den Einfluss der Turmkräfte in seiner Magie zurzeit auf das Äußerste geschwächt war, ließ Lirandil diesen Versuch überhaupt Erfolg versprechend erscheinen. Er war nun fest entschlossen, es zu wagen. Der Einfluss muss ganz behutsam sein, dachte er. Eher schwach und unterschwellig als machtvoll und aufdringlich! Er wird es kaum bemerken. Ein leichter Zweifel an seinen bisherigen Ansichten und eine gewisse Ehrfurcht der Erkenntnis gegenüber, dass es nur mir allein möglich gewesen ist, in den Turm zu gelangen und Asanils Wissen in Empfang zu nehmen.

Wenn Seldos die Manipulation bemerkte, war alles umsonst. Lirandil wusste nur zu gut, dass Magier – die Meister der Manipulation anderer – nichts so sehr hassten, wie selbst Opfer einer Beeinflussung zu werden. Weniger ist in diesem Fall also durchaus mehr, dachte der Elb.

Er erhob sich wieder und wandte sich an den Hauptmann.

»Und nun soll man mich vor den Rat der Stadt führen! Ich habe dort einiges zu besprechen!«

Zwei Tage blieben sie noch in Asanilon – länger, als Lirandil ursprünglich angekündigt hatte. Aber offenbar war es nicht ganz so einfach gewesen, wie Lirandil gedacht hatte, den Rat davon zu überzeugen, Seldos bald freizulassen. Brief und Siegel des Königs Candric halfen dabei zwar einerseits, säten aber unter manchen Ratsherren auch Misstrauen. Schließlich wollte man sich ja über kurz oder lang von der Herrschaft des beiderländischen Königs befreien. Aber angesichts der Bedrohung durch die Horden Ghools war man sich auch sehr bewusst, wie sehr man letztlich auf den Schutz durch die Ritter des Königs angewiesen war. In kurzer Zeit konnten die Heere der Orks und Dämonengeschöpfe die Stadt erreichen. Seitdem ein Großteil des Sumpflandes von Transsydien in den vergangenen drei Jahrhunderten nach und nach trockengelegt worden war, gab es in diesem flachen Land kaum ein natürliches Hindernis, das einen Vormarsch hätte aufhalten können. Und die Befestigungen waren eher auf Angriffe von See ausgerichtet.

»Was wird aus Seldos?«, fragte Brogandas Lirandil schließlich, nachdem sie sich schon eine halbe Tagesreise von Asanilon in nordöstliche Richtung entfernt hatten.

Lirandil hatte bis dahin geschwiegen und nicht ein einziges Wort über seine Beratungen mit dem Rat oder über die Geschehnisse im städtischen Kerker verloren. Er schien es einfach nicht für notwendig zu halten, die anderen zu informieren. Aber Brogandas hatte offenbar weder in die Gedanken des Elben dringen noch seine eigene Neugier weiter unterdrücken können.

»Man wird Seldos vor Gericht stellen. Das ist nicht zu ändern, und auch mein Einfluss und das Dokument von König Candric konnten daran nichts ändern. Aber man wird ihn nur zu einer Verbannung aus Asanilon verurteilen.«

»Wird er nicht die Absicht haben, sich für die erlittene Schmach zu rächen?«, mischte sich Arvan daraufhin ein.

»Nein, er wird das unbändige Verlangen haben, nach Thuvasien zurückzukehren und dort darüber zu berichten, was er erlebt hat.«

»Wie könnt Ihr da sicher sein, Lirandil?«, wunderte sich Arvan.

Aber in Brogandas’ Gesicht spielte jetzt ein hintergründiges, beinahe zynisches Lächeln.

»Sei versichert, Arvan: Wenn Lirandil das sagt, dann kann man sich in dieser Hinsicht vollkommen sicher sein!« Er ließ sein Pferd einen schnelleren Schritt einlegen, sodass er aufholte und nun neben dem die Gruppe anführenden Elben ritt. »Meinen Respekt, Lirandil!«

»Nach den Maßstäben des reinen Elbentums sollte ich das wohl eher nicht als ein Kompliment auffassen.«

»Lasst Euch ein paar magische Runen in die Haut brennen und die Haare entfernen, und Ihr seid von einem Dunkelalben nicht mehr zu unterscheiden, werter Lirandil!«, lachte Brogandas.

»Ihr täuscht Euch, Brogandas«, gab Lirandil zurück. »Glaubt mir, Ihr täuscht Euch gewaltig in mir.«

Mehrere Tage waren sie auf dem Weg nach Nordwesten. Sie kamen durch kaum bewohntes Land. Die wenigen Gehöfte waren verlassen, die Bauern vor der Kriegsgefahr geflohen. Andere Höfe waren offensichtlich geplündert worden, und die Art und Weise, wie das geschehen war, ließ darauf schließen, dass es Orks gewesen waren. Aufgespaltene und entleerte Schädel von Mensch und Tier waren von den Orks zurückgelassen worden. Und abgenagte Knochen. Die Häuser hatte man einfach in Brand gesteckt.

»Wir werden damit rechnen müssen, früher oder später auch auf solche Ork-Stoßtrupps zu treffen«, knurrte Neldo, dessen Gesicht ganz blass geworden war.

»Du musst nicht denken, dass so etwas auch mit den Bewohnern von Gomlos Baum geschehen ist«, versuchte Borro ihn zu trösten.

Der rothaarige Halbling erriet offenbar sofort, was sich momentan in Neldos Kopf abspielte und die Gedanken ihres Gefährten beherrschte.

Kaum hatten sie diesen Ort des Schreckens verlassen, fiel Arvan auf, dass Lirandil andauernd in die Höhe blickte, obwohl dort eigentlich nichts zu sehen war. Von ein paar vereinzelten Wolken abgesehen war der Himmel blau und vollkommen klar. Unter anderen Umständen hätte man dies einen schönen Tag nennen können.

»Wonach haltet Ihr da oben Ausschau, Lirandil?«, fragte Arvan, nachdem der Elb sogar sein Pferd gezügelt hatte.

»Ein Schattenvogel«, erklärte er. »Du konntest ihn nicht sehen, denn er befand sich in zu großer Höhe.«

»Dann hat Brogandas’ Magie keine längerfristige Wirkung gehabt und Ghools Geschöpfe sind uns wieder auf den Fersen?«

»Ich bin mir nicht sicher.«

»Nicht sicher?«, hakte Arvan nach, aber aus irgendeinem Grund schien Lirandil nicht gewillt zu sein, mehr darüber zu sagen. Stattdessen ließ er weiter suchend den Blick über den Himmel schweifen und verengte die Augen dabei, so als müsste er ganz genau hinsehen. Seine Lippen bewegten sich leicht. Er flüsterte vielleicht eine Formel, die es ihm erlaubte, seine Sehkraft noch etwas besser zu sammeln.

»Es könnte sein, dass dieser Schattenvogel nicht unseretwegen hier ist«, erklärte Brogandas schließlich. »Aber genau wird sich das erst erweisen, falls wir eine Begegnung aus der Nähe mit ihm haben.«

»Und das mögen die Waldgötter verhüten«, meinte Borro.

»Die Waldgötter?«, lachte Brogandas. »Die haben hier keinerlei Macht, Halbling!«

In der Nacht lagerten sie an einer durch Sträucher geschützten Stelle, abseits aller Wege, die sich durch das ehemalige Sumpfland zogen. Borro schoss mithilfe seines Bogens ein wildes Torfhuhn, das anschließend über dem Feuer gebraten wurde. Während Whuon, Arvan und die Halblinge den ohnehin nicht sehr üppigen Braten mehr oder minder unter sich aufteilten, nahm Lirandil nur einen kleinen Bissen, während Brogandas auf die stärkenden Essenzen zurückgriff, die er als Proviant (oder zum Ersatz dafür) mitführte.

»Seien wir froh, dass Orks nicht so gut riechen können wie Elben«, sagte Lirandil. »Sonst würde dieser Braten sie wahrscheinlich über viele Meilen hierherlocken!«

»Torfhühner haben zu wenig Hirn für einen Orkhappen«, glaubte jedoch Borro. »Meint Ihr nicht auch?«

»Jedenfalls sollten wir das Feuer sofort löschen, sobald wir es nicht mehr brauchen«, empfahl Lirandil. Als das geschehen war, begann er zur Überraschung aller von dem zu berichten, was er in Asanils Turm erfahren hatte. »In keiner der Chroniken der Elben wird die Waffe näher beschrieben, mit der König Elbanador den Schicksalsverderber besiegte«, erklärte der Fährtensucher. »Und das hat seinen guten Grund …«

»Ich nehme an, es war Euren Magiern und Schamanen zu peinlich, dass ausgerechnet ihr hochverehrter Erster König dieselbe Art von Magie verwendete, wie es später die Angehörigen meines Volkes taten«, lachte Brogandas.

»Ja, das ist wahr«, gab Lirandil zu. »Nur in Elbanadors eigenen geheimen Schriften wurde die Wahrheit offenbart. Diese Schriften habe ich in Asanils Turm gefunden und das darin enthaltene Wissen vollkommen in mich aufgenommen.« Er deutete auf seine Schläfe. »Jede einzelne Rune ist hier drin, sodass das Original getrost und gut geschützt in Asanils Turm bleiben kann.« Für einen Augenblick begann dasselbe hellblaue Leuchten Lirandils Augen zu erfüllen, das man auch hatte sehen können, unmittelbar nachdem er den Asanil-Turm verlassen hatte.

Doch das währte nur Augenblicke.

Dann war es wieder verschwunden.

»Dann erzählt uns nun auch, weswegen wir in den Halblingwald zurückkehren«, verlangte Neldo.

»Einst pflanzte der Erste Elbenkönig mitten im Halblingwald einen magischen Baum, dessen Rinde von unzähligen Runen bedeckt war«, fuhr Lirandil fort.

»Also das heißt, sein Aussehen erinnert etwas an das Gesicht eines Dunkelalben«, meldete sich Borro zu Wort. Da das Feuer verloschen war, konnte er die Gesichter der anderen kaum sehen. Vielleicht war das aber auch besser so. Er spürte jedenfalls trotz allem, dass alle Blicke sich ihm zuwandten. »Tja, ich habe eigentlich auch nichts mehr dazu zu sagen, und … Wie soll ich mich ausdrücken? Eigentlich …«

»Borro!«, fuhr Zalea streng dazwischen und brachte ihn mit seinem verlegenen Gestammel zum Schweigen.

»Dieser Baum war größer als die Riesenbäume, für die die Wälder am Langen See bis heute bekannt sind! Die Wohnbäume der Halblinge und die Herdenbäume, auf deren Ästen sich ihre Baumschafe tummeln, sind kleine Sträucher dagegen«, fuhr Lirandil ungerührt fort. »Und obwohl dieser Runenbaum überdeutlich aus dem Wald herausragt, ist er nicht einfach zu finden. Man muss genau wissen, wo man ihn sucht, sonst übersieht man ihn trotz seiner enormen Ausmaße. Es ist die Magie, die diesen Baum verbirgt. Ein Zauber, mit dem der Erste Elbenkönig verhindern wollte, dass die Macht, die mit diesem Gewächs gesammelt werden kann, einst missbraucht würde.«

»Fahrt fort! Was Ihr sagt, klingt interessant, werter Lirandil.«

»Der Kampf, den die Elben damals an der Seite der Ersten Götter gegen Ghool führten, zog sich über ein ganzes Zeitalter hin, auch wenn man sich heute wohl nur gerade noch an die Schlacht am Berg Tablanor erinnert«, setzte Lirandil seinen Bericht fort. »Aber die besondere Magie, die diesen Baum vom ersten Augenblick an erfüllte, ließ ihn schneller wachsen als irgendein anderes der riesigen Gewächse, die bis heute den Halblingwald beherrschen. Mithilfe dieses magischen Baums sammelte der Erste Elbenkönig all die dunklen Kräfte, die er in der letzten Schlacht gegen Ghool einzusetzen gedachte. Als der Baum eine gewisse Größe erreicht hatte, schlug Elbanador aus einem einer Äste einen Stab – nicht dicker, als dass eine Hand ihn zu umfassen vermochte. Auf diesem Stab bildeten sich dunkle Runen – und in ihm schlummerte eine mächtigere Magie, als sie je zuvor ein Elb verwendet hatte. Das ist die Waffe, mit der Elbanador an der Seite der Ersten Götter in die Schlacht am Berg Tablanor zog. Er nannte sie ›Elbenstab‹.«

»Ein Euphemismus, wie er typisch für die Elben ist«, unterbrach Brogandas Lirandils Redefluss. »Man hätte ihn ›Stab der Dunkelheit‹ oder ›Stab der Dunklen Kraft‹ oder so nennen können …« Brogandas schüttelte den Kopf. »Aber stattdessen einfach nur ›Elbenstab‹! Ich vermute, dass kein einziger Elbenkrieger und schon gar keiner ihrer Magier und Schamanen ihm in die Schlacht gegen Ghool gefolgt wären, wenn sie geahnt hätten, was die wahre Natur dieses Stabes war.«

»Geahnt haben es viele«, widersprach Lirandil. »Gewusst wohl nur wenige. Aber vielleicht wollten die meisten derer, die damals mit Elbanador in den Kampf zogen, diese Dinge gar nicht so genau wissen, denn der Einsatz dieser verbotenen Kräfte widersprach allem, was je innerhalb der Elbenheit für gut und richtig gehalten wurde! Brass Elimbor hat mit Sicherheit die Zusammenhänge erkannt – aber er vermag bis heute nicht darüber zu reden.«

»Was geschah mit dem Elbenstab?«, fragte Arvan.

»Nachdem Ghool gebannt war, vernichtete Elbanador diese Waffe«, erklärte Lirandil. »Es ist nicht überliefert, wie genau dies geschah, aber die Magie der Elben war damals noch sehr mächtig, und es besteht kein Zweifel daran, dass er Mittel und Wege zur Verfügung hatte, um es zu vollbringen.«

»Aber er hätte jederzeit zum Runenbaum gehen und sich einen neuen Elbenstab anfertigen können«, schloss Arvan.

»Das trifft zu. Allerdings war er der Überzeugung, dass diese Macht sehr leicht missbraucht werden konnte, und er misstraute nicht zuletzt seinem eigenen Volk in dieser Hinsicht. Darum traf er alle möglichen magischen Vorkehrungen, die das Auffinden des Baums erschweren sollten. Vermutlich glaubte er, dass noch für viele Ewigkeiten nur er selbst von der Existenz dieses Baums wissen und seine Macht im äußersten Notfall anwenden sollte. Wie ich schon erwähnte, misstraute er allen. Seinen Verbündeten, den Ersten Göttern, ebenso wie seinem eigenen Volk. Ja, er schien es nicht einmal für ausgeschlossen zu halten, dass in ihm selbst eine dunkle Gier nach Macht erwachen könnte, die ihn vielleicht einmal dazu antreiben würde, diese Kräfte zu missbrauchen. Auch dafür hat er anscheinend Vorkehrungen getroffen. Die Einzigen, denen er halbwegs getraut hat, wenn ich seine Schriften recht verstanden habe, sind die Halblinge …«

»Oh, welche Ehre!«, meinte Borro vorwitzig.

»Er hielt das kleine Volk einfach für zu einfältig, ängstlich und letztlich auch für zu kurzlebig, um mit der Kraft dieses Baums wirklich einen großen Schaden anrichten zu können«, fuhr Lirandil fort.

»Einfältig? Ängstlich?« Borro runzelte die Stirn. »Das klingt jetzt allerdings etwas weniger schmeichelhaft.«

»Ich nehme an, Menschen hätte er wohl als Wilde angesehen«, ergänzte Neldo.

»Menschen gab es damals in diesem Teil Athranors vermutlich noch nicht«, berichtigte ihn Lirandil. »Jedenfalls kam Elbanador zu dem Schluss, dass es das Beste sei, den Halblingen die Aufsicht über den Runenbaum zu geben. Sie kannten sich schließlich am besten in den Wäldern am Langen See aus. Und ihre vergleichsweise kurzen Lebensspannen sind tatsächlich ein wirksames Mittel, um zu verhindern, dass jemand über lange Zeit hinweg einem bösen Plan zu folgen vermag und mithilfe der Kräfte des Baums vielleicht zu große Macht an sich reißt. Allerdings hatten die kurzen Leben der Halblinge auch einen gravierenden Nachteil. Ich will darauf hinaus, dass man das Wissen um den Baum vergaß. Möglicherweise gibt es irgendwo in irgendeiner Bibliothek irgendeines Wohnbaums noch halb zerfallene Schriftrollen, die davon etwas berichten. Aber von Generation zu Generation geriet das Wissen über den Runenbaum anscheinend mehr und mehr in Vergessenheit.«

»Es gibt ein paar Legenden über einen Baum, den man nicht sieht«, warf Neldo ein. »Aber ich habe nicht gedacht, dass das mehr als Kindergeschichten und Legenden sind!«

»Um ehrlich zu sein – ich auch nicht«, gestand Lirandil. »Zumindest nicht bis zu dem Augenblick, als ich das Innere des Asanil-Turms betrat und das Wissen aus Elbanadors Chronik in Empfang nahm.«

Wieder blitzte in dem Augenblick, da er die Chronik erwähnte, das bläuliche Licht in den Augen des elbischen Fährtensuchers auf.

»Es wird auf jeden Fall eine interessante Reise«, meinte Whuon. »Haben diese Runen, die den Baum bedecken, auch eine Bedeutung, oder sind es nur sinnlose Zeichen?«

Lirandil wandte den Kopf in Richtung des Schwertkämpfers.

»Für den, der sie zu lesen vermag, sind sie gewiss voller Offenbarungen und Erkenntnisse«, antwortete der Fährtensucher. »Allerdings verändern sie sich ständig. Und so ergibt sich andauernd ein neuer Sinn.«

»Wieder eine Ähnlichkeit zu einem Dunkelalben-Gesicht«, stellte Brogandas fest und fuhr mit Blick auf Borro fort: »Ich nehme an, dass dir eine diesbezügliche Bemerkung gerade auf der Zunge lag, rothaariger Halbling!« Brogandas verzog das Gesicht zu einem breiten Grinsen. »Das Erbe, das der Erste Elbenkönig den Halblingen vermacht hat, wird mir immer sympathischer, muss ich gestehen.«