Auferstanden

Ein paar Tage später erreichten sie eine Gegend, die Arvan bekannt vorkam. Das Land wurde hügeliger. Grasbedeckte Anhöhen reihten sich aneinander. Offenbar befanden sie sich nun in dem Gebiet, in dem Gaanien, Rasal und Transsydien aneinandergrenzten.

Immer häufiger hatte Lirandil in letzter Zeit suchend zum Himmel geblickt. Und auch Brogandas schien zunehmend beunruhigt zu sein. Für die anderen war nicht mehr zu sehen als hin und wieder mal ein paar Wolken am Himmel. Aber Lirandils scharfer Blick erkannte dort in ungeahnten Höhen Spione Ghools.

»Schattenvögel«, murmelte er. »Und so viele davon, wie ich nicht einmal gesehen habe, als ich in die tiefe Wüste des Ost-Orkreichs vordrang, um meinen Verdacht zu bestätigen, dass Ghool dort längst begonnen hatte, seine Kräfte zu sammeln …«

»Wir sind ihnen mehrfach entkommen«, gab Arvan zu bedenken. »Es könnte doch sein, dass Ghool diesmal sichergehen will und so viele von ihnen versammelt hat, dass wir ihnen unmöglich entwischen können.«

»Das ist gar kein so dummer Gedanke«, meinte Brogandas. »Für einen Menschen natürlich.«

»Euch scheint diese Versammlung von Schattenvögeln nach wie vor nicht sehr zu beunruhigen«, stellte Zalea fest. »Glaubt Ihr immer noch, dass sie nicht unseretwegen hier sind?«

»Ich bin immer stärker dieser Überzeugung«, gestand der Dunkelalb. »Allerdings sollten wir die Biester trotzdem nicht unbedingt auf uns aufmerksam machen.«

Ein paar Stunden später erreichten sie einen Hügel, auf dessen Kamm sich eine Gruppe knorriger Bäume erhob. Der Wind, der über die Ebenen von Rasal fegte, hatte ihrem Wuchs eine deutlich sichtbare Richtung gegeben. Von hier aus konnte man das ganze Umland überblicken. Man sah auf die Anhöhe der drei Länder und das gewaltige Schlachtfeld, dass sich hier erstreckte. Gewaltige Felsbrocken hatte die Magie der Elben vom Himmel herabstürzen lassen. Sie hatten unzählige der heranstürmenden Orks und Dämonengeschöpfe erschlagen und viele der gewaltigen Katapulte zerstört, die Zartons Heer des Schreckens aufgeboten hatte. Aber auch zahllose Krieger aus den verbündeten Menschenreichen waren hier umgekommen. Auch sie hatte man nach der Schlacht an der Anhöhe der drei Länder zumeist dort liegen gelassen, wo sie gefallen waren. Um die Toten zu bestatten, war keine Zeit gewesen – und die Kraft der Überlebenden hatte dazu auch kaum gereicht. Denn obgleich die Schlacht, in deren Verlauf Arvan den siebenarmigen Zarton erschlagen hatte, als großer Sieg über Ghool galt, war der Blutzoll auch auf Seiten der Sieger furchtbar gewesen. Und selbst viele der Überlebenden hatten Verletzungen davongetragen oder waren zu Tode erschöpft, sodass es ratsam erschienen war, so schnell wie möglich einen sicheren Rückzugsort aufzusuchen.

Die Mauern von Gaa hatten diesen Zweck erfüllt. Dort sammelte man seitdem neue Kräfte in der stillen, unausgesprochenen Gewissheit, dass auch sie kaum reichen würden, um sich der Flut der Invasoren entgegenzustellen.

Arvan wollte den Blick abwenden, wollte es vermeiden, diese Bilder des Schreckens in sich aufzunehmen.

Sieh hin!, erreichte ihn ein Gedanke Lirandils, der so drängend war, dass Arvan es nicht wagte, sich ihm zu widersetzen. Sieh hin, was geschehen ist und was auch dein Schwert angerichtet hat, damit du deine Wut niemals leichtfertig über dich kommen lässt!

Also sah Arvan hin. Er bemerkte, dass vom riesenhaften Körper des riesenhaften Zarton nichts geblieben war. Nur eine schwarze, wie verrußt aussehende Fläche im Gras, innerhalb der nichts mehr zu wachsen schien und aus der jegliche Lebenskraft entwichen war. Als ob man ein starkes Gift ausgebracht hätte, das alles Lebendige vertilgt!, ging es Arvan schaudernd durch der Kopf. Die Kraft des Bösen, die Zarton bis ins Mark erfüllte, hat auch seinen Leichnam restlos zersetzt, erkannte er dann schaudernd. Aber er war sich nicht vollkommen sicher, ob dies wirklich sein eigener Gedanke gewesen war oder vielleicht eine Erkenntnis, die Lirandil ihm eingepflanzt hatte.

Von den Leichen der Krieger, die auf Seiten des gefallenen Hochkönigs Nergon und Lirandils Bündnis gefochten hatten, waren nur bleiche Knochen, zerrissene Kleider, Schuhe und Harnische geblieben. Raben und Geier hatten alles andere vertilgt. Viele der toten Orks allerdings lagen noch so da, wie sie erschlagen worden waren. Manchen waren Köpfe oder Gliedmaßen vom Körper getrennt worden. Andere wurden durch vom Himmel stürzende Felsbrocken begraben oder von umstürzenden Katapulten erschlagen. In heller Panik durchgehende Hornechsen hatten so manchen von ihnen auf eine so ungestüme Weise in Grund und Boden getrampelt, dass man nur noch erahnen konnte, dass dieses einmal Orks gewesen waren.

»Kein Aasfresser hat die Diener Ghools angerührt«, stellte Lirandil fest. »Selbst das Gewürm in der Erde scheut offenbar vor jener Macht zurück, die Ghools Krieger lenkte und die auch nach dem Tod noch in den toten Körpern wohnt.«

»Und Zarton?«, fragte Arvan.

»In ihm war das Übel so stark, dass es alle Überreste von ihm zerfressen hat«, gab Lirandil zurück. »Zarton war eines jener Dämonenwesen, die Ghool gerufen hat, um ihm zur Seite zu stehen.«

Die Pferde wurden plötzlich unruhig. Sie wieherten laut auf und rissen an ihren Zügeln, mit denen sie an Sträuchern und Bäumen festgebunden waren.

»Mir scheint, da wartet eine Aufgabe auf dich, Arvan«, meinte Whuon. »Auf dich hört das Getier doch am besten!«

»In Deckung!«, befahl Lirandil dann plötzlich. »Sofort!«

Die Pferde rissen sich eins nach dem anderen los und stoben davon, so als wäre ihnen ein leibhaftiger Dämon auf den Fersen. Arvan versuchte, sie mit energischen, klaren Gedanken zurückzuhalten. Aber da war nicht einmal mehr irgendein erkennbarer Wille in ihnen, dem sie folgten, sondern nur noch Furcht.

Und Wahnsinn. Sie wieherten laut auf, und ihre Hufe pflügten durch das tiefe Grasland. Dass sie einen äußerst anstrengenden Ritt mit wenig Ruhepausen hinter sich hatten, schien sie nicht weiter zu kümmern. Pure Angst trieb sie voran und erweckte ungeahnte Kräfte in ihnen.

Arvan wurde zu Boden gerissen. Es war Lirandil, der ihn mit sich zog. Lass sie fliehen!, erreichte ihn ein Gedanke des Fährtensuchers, als sie bereits alle auf dem Boden lagen und sich im Gestrüpp verbargen.

»Wenigstens hatte ich meinen Bogen nicht am Sattel, sondern auf dem Rücken«, flüsterte Borro. Zalea versetzte ihm einen Stoß, um ihm zu bedeuten, dass er still sein sollte. »Ich versuche halt immer, das Gute an der Situation zu …«

Borros Worte waren ohnehin nicht mehr als ein leises Wispern gewesen. Aber jetzt verstummte er ganz, und der rothaarige Halbling vergaß für einen Moment, den Mund wieder zu schließen.

Mehr als ein Dutzend Schattenvögel zeichneten sich jetzt als grauschwarze Schemen am Himmel ab. Sie wurden rasch größer und begannen über dem Schlachtfeld zu kreisen, wie man es ansonsten von Aasvögeln kannte.

Die Schattenvögel sanken tiefer. Manche von ihnen verschmolzen zu größeren Schatten, und aus der Höhe erschienen weitere dieser kaum fassbaren Geschöpfe. Sie sanken auf das Schlachtfeld herab, breiteten ihre aus purer Dunkelheit bestehenden Flügel aus und deckten damit die Toten zu. Hunderte weiterer Schattenvögel erschienen inzwischen am Himmel, kreisten mehrmals über dem Schlachtfeld, bevor sie dann vollkommen lautlos herabglitten.

Plötzlich wurde es dunkel innerhalb der kleinen Baumgruppe, an deren Rand sich Arvan und seine Gefährten verbargen. Ein Schattenvogel, dessen dunkle Schwingen mehr als die Ausmaße des Turmplatzes von Asanilon hatten, flog in Baumwipfelhöhe über sie hinweg. Die körperlose schattenhafte Erscheinung durchdrang die Baumkronen. Augenblicklich verfärbten sich die Blätter in ein dunkles Grau und zerfielen anschließend zu Asche. Arvan schlug das Herz bis zum Hals, während dieser Sendbote des Schicksalsverderbers über sie hinwegzog. Eine namenlose Kälte erfasste ihn und ließ ihn bis ins Mark frösteln.

Arvan wagte nicht einmal zu atmen.

Er konnte sich nicht erinnern, jemals so große Furcht gehabt zu haben. Nicht während seiner Kämpfe gegen Orks und auch nicht, als er während der Schlacht an der Anhöhe der drei Länder dem siebenarmigen Zarton gegenübergestanden hatte. Im Grunde war die Macht, mit der dieses Gefühl auf einmal über ihn hereinbrach, nicht zu erklären.

Ghool hat diesmal sehr viel seiner eigenen Präsenz in diese Schattenvögel gegeben, erreichte ihn ein Gedanke von Lirandil. Das ist der Grund deiner Furcht. Und die Magie der Furcht ist Ghools mächtigste Waffe. Werde ruhiger! Niemand weiß, ob diese Geschöpfe deine Herzschläge nicht genauso zu hören vermögen wie ich.

Der riesenhafte Schattenvogel dehnte sich auf ein Vielfaches seiner bisherigen Größe aus, als er das Schlachtfeld erreichte. Dann legte er sich wie ein dunkelgraues, rußiges Leichentuch über einen Teil dieses Feldes, in dem besonders viele tote Orks lagen. Für einen Augenblick konnte man dort nichts weiter sehen als den dunklen Schatten, der sich über all die Toten gelegt hatte. Dann zerfiel er in mindestens hundert kleine Schattenvögel, die sich vom Boden erhoben, sich nur Augenblicke später anderswo über gefallene Orks, von Gesteinsbrocken erschlagene Hornechsen oder den Leichnamen der dämonenhaften Wolfsmenschen niederließen, die ebenfalls in den Reihen jenes Heeres gekämpft hatten, das Zarton angeführt hatte.

All das zog sich über längere Zeit hin. Mindestens eine Stunde lang tauchten immer weitere Schattenvögel unterschiedlichster Größe auf und senkten ihre Dunkelheit über einzelne Gefallene. Dann stoben sie plötzlich alle auf einmal in die Höhe, als hätten sie ein geheimes Zeichen bekommen. Schlagartig wurde der Himmel schwarz durch ihre Finsternis. Sie flogen sehr tief. Manche zogen in Sichthöhe über die am Boden liegenden Gefährten hinweg – aber keiner von ihnen schien sie zu bemerken. Einem finsteren, die Sonne verdunkelnden Schwarm gleich zogen sie Richtung Osten, bis sie hinter dem Horizont verschwanden.

Arvan wollte schon aufatmen, aber dann sah er, dass sich auf dem Schlachtfeld etwas zu regen begann. Einer der getöteten Wolfskrieger erhob sich unsicher, stand schließlich auf seinen Beinen und hob die am Boden liegende Streitaxt auf, die ihm im Tode entfallen war. Ein Ork, dem der rechte Arm fehlte, erhob sich ebenfalls. Den abgeschlagenen Arm, der die mit Obsidianspitzen gespickte Keule noch umklammerte, hob er auf und legte sie an die Schulter, mit der sie im nächsten Moment verschmolz. Schwarzer Rauch quoll dabei aus der sich schließenden Wunde hervor – und ebenso aus Nase, Mund und Ohren des Orks, der einen dröhnenden Schrei ausstieß.

»Untote!«, stieß Brogandas hervor. »Die Kraft von Ghools Finsternis erfüllt sie und erweckt sie zu neuem Leben! Bei allen Göttern – das wäre selbst in Albanoy ein Frevel!«

»Interessant zu hören, dass es Dinge gibt, vor denen selbst Dunkelalben Skrupel haben«, meinte Lirandil.

»Jedenfalls sollten wir um diese Untoten einen weiten Bogen machen«, meinte Brogandas.

»Ich fürchte mich vor niemandem«, erklärte Whuon.

»Vor diesen Gegnern sollte man sich aber fürchten«, erwiderte Brogandas. »Ihre Arme erlahmen nicht … Es muss Ghool ungeheuer viel Kraft kosten, all diese Krieger zeitweilig ins Leben zurückzuholen …«

Arvan horchte auf. Sosehr Brogandas die Tatsache auch erschreckt zu haben schien, dass Ghool offenbar nicht davor zurückschreckte, Tote zum Leben zu erwecken, so klang doch aus seinen letzten Worten beinahe schon so etwas wie Bewunderung für diese Skrupellosigkeit mit. Nein, es ist in erster Linie die Kraft, die Brogandas bewundert. Die Kraft Ghools, der offenbar zu Dingen fähig ist, vor denen selbst die Dunkelalben zurückschrecken! Arvan wechselte einen kurzen Blick mit Lirandil, und er war sich plötzlich sicher, dass der Elb dies ebenfalls bemerkt hatte.

Eine Weile sahen sie noch zu, wie immer mehr der Gefallenen sich zu neuem Leben erhoben. Auch einige Hornechsen waren darunter, aber die untoten Orks schienen keinen Wert darauf zu legen, sie als Reittiere zu benutzen. Ein gespenstischer Zug bildete sich und brach Richtung Westen auf.

»Sie wollen nach Gaa«, glaubte Arvan.

»Möglich«, sagte Lirandil. »Aber das ist nur eine Vermutung.«

»Wenn Ghool die Macht hat, seine Gefallenen wiederauferstehen zu lassen, dann wird es sehr schwer werden, ihn zu besiegen«, stellte Whuon nüchtern fest.

»Wir sollten schleunigst von hier verschwinden«, fand Borro. »Ich schätze, wir werden wohl einen kleinen Bogen machen müssen, um in den Halblingwald zu gelangen, ohne einer dieser Kreaturen über den Weg zu laufen.«

Auf Lirandils Zeichen hin verließen sie schließlich ihr Versteck. Sie gingen ein Stück den Weg zurück, den sie gekommen waren, und entfernten sich von dem Heerzug der Untoten, der sich Richtung Westen in Bewegung gesetzt hatte. Bald hörten sie nur noch die dröhnenden Laute, die diese Kreaturen ausstießen, sobald sie abgeschlagene Gliedmaßen wieder anlegten, die daraufhin mit ihrem Körper verschmolzen. Arvan war bereits aufgefallen, dass wohl nicht alle dieser Gliedmaßen ursprünglich zu jenen Körpern gehört hatten, an welchen sie anschließend durch die dunkle Kraft anwuchsen.

»Kannst du nicht die Pferde rufen, Arvan?«, fragte Borro. »Ich bin das Laufen auf den eigenen Füßen anscheinend schon gar nicht mehr gewöhnt.«

»Dann wird’s Zeit, dass du dir das wieder angewöhnst!«, meinte Neldo bissig.

»Ich werde es versuchen«, versprach Arvan. »Aber die Tiere hatten wirklich große Angst. Ich weiß im Moment noch nicht, wie weit sie davongelaufen sind.«

»Warte noch damit, Arvan!«, riet Lirandil. »Sonst könnte es sein, dass du damit unsere Feinde auf uns aufmerksam machst.«

Mehrere Stunden wanderten sie durch hohes Gras und über sanfte Hügel. Manchmal hielten sie von einem der Hügelkämme aus Ausschau, um zu sehen, was sich bei dem gespenstischen Heerzug der Untoten tat. Einmal kletterte Neldo zu diesem Zweck sogar auf einen vereinzelten Baum.

Er sah nicht nur die Untoten, die Richtung Westen zogen, sondern im Osten Gruppen von Orks, die auf ihren Hornechsen in Richtung der Grasmark von Raal ritten. Außerdem konnte er Dutzende von Lagerfeuern ausmachen. »Das müssen Heerlager der Orks sein«, berichtete Neldo den anderen, als er wieder herabgestiegen war. »Offenbar ist der Truppennachschub aus den Orkländern in vollem Gang.«

»Ja, aber dennoch scheint Ghool zurzeit nicht genug Krieger in dieser Gegend zu haben«, stellte Lirandil fest. »Ansonsten hätte er es nicht nötig, Tote zu erwecken.«

»Ihr haltet das wahrhaftig für ein Zeichen von Schwäche?«, wunderte sich Brogandas.

»Ich weiß es nicht«, bekannte Lirandil. »Aber die Gebiete, in denen Ghools Orks inzwischen zu finden sind, reichen vom Dornland und dem Elbenfluss bis nach Transsydien. Das ist ein ziemlich großes Gebiet, und vielleicht hat Ghool sich einfach übernommen.«

»Jedenfalls kann der Bogen, den wir um die Orks machen, gar nicht so groß sein, wie es eigentlich notwendig wäre, um nicht von ihnen bemerkt zu werden«, gab Neldo zu bedenken.

»Dann müssen wir eben einfach mittendurch!«, schlug Arvan vor und deutete nach Nordost – geradewegs dort hin, wo jenseits einiger Hügelketten nach einigen Meilen die Wälder am Langen See begannen. »Ein großer Umweg wird uns keine Vorteile bringen. Und auf Orks und Wolfskrieger treffen wir überall.«

»Vielleicht könnte ja unser werter Brogandas uns mithilfe seiner Magie geradewegs in den Halblingwald versetzen«, schlug Borro vor. »Am besten noch genau an die Stelle, wo sich unbekannterweise der Runenbaum befindet.« Er wandte sich an den Dunkelalben, und das, was er dann sagte, machte deutlich, dass sein Vorschlag keineswegs nur Flachserei, sondern völlig ernst gemeint war. »So ähnlich, wie Ihr das damals hinbekommen habt, als Ihr uns in die Mark des Zwielichts versetzt habt.«

»Damit es mich diesmal nicht nur beinahe tötet?«, erwiderte Brogandas etwas gereizt. »Davon abgesehen hast du anscheinend eine völlig falsche Vorstellung von unserer Art der Magie. Ich kann mich nicht einfach an jeden Ort versetzen, an den ich gerne möchte, sondern allenfalls unter bestimmten Bedingungen an bestimmte Orte, an denen sich besondere Kräfte konzentrieren.«

»Ich dachte, der Runenbaum gehört dazu.«

»Von dem Runenbaum habe ich zum ersten Mal durch Lirandils Erzählung gehört. Ich habe keine Ahnung, was für Kräfte dort wirken, noch weiß ich, wo er ist. Und abgesehen davon hat ja wohl König Elbanador alles Mögliche an Vorkehrungen getroffen, damit man diesen Ort eben nicht so einfach zu erreichen vermag.«

»Ich meinte ja nur …«

»Und ehrlich gesagt verspüre ich keine Neigung, mich mit einem unwissenden Halbling über Dinge zu unterhalten, von denen der sowieso nichts versteht.«

Borro war empört. »Nun erlaubt aber mal! Wir sind hier nicht in Albanoy, wo Ihr Dunkelalben alle anderen Geschöpfe als beeinflussbare Untertanen betrachtet!«

Brogandas verzog das Gesicht. Und die Runen auf seinem Kopf veränderten sich zu sehr feinen, ineinander verschlungenen Formen, die jetzt eher an ein Gewirr aus Dornensträuchern erinnerten als an bedeutungsvolle Schriftzeichen. »Seid ihr Halblinge das denn nicht in Wahrheit sowieso? Leicht zu manipulierende, einfältige Wesen, deren Erfahrungshorizont sich normalerweise nur auf ein paar Meilen um euren Wohnbaum beschränkt?« Sein durchdringender Blick senkte sich. »Aber was ihr nicht im Kopf habt, das habt ihr ja in euren großen Füßen, nicht wahr?« Und während Brogandas dies sagte, hatte Borro das Gefühl, in Gedanken hören zu können, wie der Dunkelalb noch ein Wort hinzufügte, das er über alle Maßen hasste. Borrovaldogar – seinen vollständigen Namen nämlich, der ihm stets besonders peinlich gewesen war.

»Ihr solltet mit dem Streit aufhören!«, mischte sich Whuon ein. »Euer Gerede ist kaum zu ertragen. Arvan hat recht, wir sollten den kürzesten Weg in die Wälder suchen, denn dort können wir uns verbergen. Allerdings sollten wir den Schutz der Nacht abwarten. Ich wüsste jedenfalls nicht, dass Orks auch bei Dunkelheit sehen können.«

»Orks nicht«, gab Lirandil zu. »Was die anderen Kreaturen angeht, die in Ghools Diensten stehen, weiß auch ich das nicht immer zu sagen …« Der Elb wirkte nachdenklich, und er schien auch nicht ganz bei der Sache zu sein. Das bläuliche Leuchten stand für ein paar Augenblicke in seinen Augen. Offenbar beschäftigte ihn im Moment vornehmlich jenes Wissen, das er aus König Elbanadors Buch erworben hatte. Dann machte sein Kopf eine ruckartige Bewegung. Das Leuchten verschwand, und seine Aufmerksamkeit schien wieder ganz dem Hier und Jetzt zu gelten. »Wir machen es, wie Whuon es vorschlug«, sagte er dann.