An der Küste der Orks

»Ich spüre nichts«, erklärte Arvan, nachdem Lirandil die Finger von seinen Schläfen genommen hatte. Das bläuliche Leuchten in seinen Augen, das Arvan bis dahin unangenehm geblendet und ihm in den Augen geschmerzt hatte, verschwand von einem Augenblick auf den anderen. »Als Ihr das letzte Mal mit mir eine Verschmelzung des Geistes durchgeführt habt …«

»… war das etwas grundsätzlich anderes«, schnitt der Elb ihm in ungewohnter Ungeduld das Wort ab. Irgendetwas machte den Fährtensucher erkennbar gereizt. Das war Arvan in letzter Zeit immer wieder aufgefallen, und er nahm an, dass es damit zu tun hatte, dass der Elb sich selbst nicht sicher war, ob das, was er tat, wirklich richtig war und sie ihrem Ziel näher brachte. Das Wissen, das er im Turm des Asanil erhalten hatte, schien keineswegs immer einen so eindeutigen Weg zu weisen, wie er es gehofft hatte. »Was du wissen musst, sobald du Ghool gegenüberstehst, ist jetzt in dir.«

»Aber – da ist nichts.«

»Dieses Wissen kann dir erst in dem Augenblick offenbar werden, wenn du es auch tatsächlich brauchst.«

»Damit du keinen Unsinn damit anstellst«, mischte sich Borro in gewohnt vorlauter Weise in das Gespräch zwischen Lirandil und Arvan ungebetenerweise ein. Borro hatte die ganze Zeit schon genauestens verfolgt, was der Fährtensucher mit seinem Menschlingsgefährten so alles anstellte. »Muss ein wirklich extrem misstrauischer Kerl gewesen sein, dieser Erste Elbenkönig.«

»Er hatte allen Anlass dazu, vorsichtig zu sein«, glaubte Lirandil.

»Ich weiß nicht. Jemand, der niemandem traut außer sich selbst und der jeden unter Verdacht hat, irgendwelche magischen Kräfte zu missbrauchen, die aber nun einmal notwendig sind, um eine Kreatur wie Ghool zu besiegen …« Borro zuckte mit den Schultern. »Wenn Elbanador damals in der Schlacht am Berg Tablanor alles richtig gemacht hätte, dann wäre das Problem doch gelöst, und es gäbe heute keinen Schicksalsverderber mehr – oder habe ich da irgendetwas falsch verstanden?«

Lirandil sah den Halbling einige Augenblicke nachdenklich an. »Umso wichtiger ist es, dass diesmal nicht dieselben Fehler gemacht werden«, erklärte er. »Ich denke schon seit Langem an kaum etwas anderes. Wir wissen nicht, was geschieht, wenn Ghool auch dieses Mal nicht endgültig besiegt wird. Aber es gibt die Theorie, dass er durch jeden misslungenen Versuch, ihn endgültig vom Antlitz unserer Welt zu tilgen, nur noch stärker wird …«

»Dann ist Ghool heute stärker als damals, als Elbanador gegen ihn kämpfte?«, fragte Arvan.

»Gut möglich. Jedenfalls würde es diesmal nicht so viele Zeitalter dauern, bis wir wieder von ihm hören.«

»Zunächst einmal sollten wir diesen Ghool überhaupt erst einmal in Reichweite haben«, meinte Whuon, der schon seit Stunden damit beschäftigt war, sehr sorgfältig die Klingen seines umfangreichen Waffenarsenals zu schärfen.

Osgeion stand unterdessen am Heck der Nebelbringer und lenkte das Schiff mit einer geradezu traumwandlerischen Sicherheit. Der Wind schien günstig zu stehen und blähte stets die Segel so, dass die Nebelbringer gute Fahrt hatte. Allerdings war das Schiff wohl auch so konstruiert, dass es nicht viel Wind brauchte. Eigenartig war, dass das Elbenschülerschiff stets von Nebel umgeben war, der eigentlich von ihm hätte vertrieben werden müssen. Ein deutlicheres Anzeichen für Illusionsmagie konnte es kaum geben.

Aber Arvan verzichtete auf die Anstrengung, diese Illusion zu durchschauen – was durchaus möglich war, wie er selbst für kurze Zeit feststellte.

Borro hingegen genoss einen freien Ausblick auf das Meer, wie er nicht müde wurde zu betonen. Er hatte sich zuvor ausführlich zuerst von Lirandil und dann von Brogandas erklären lassen, wie man es anstellte, dass sich der Nebel vor einem lichtete. Vor der Benutzung magischer Formeln hatten allerdings beide gewarnt, denn dadurch konnte man möglicherweise Beobachter auf das Schiff aufmerksam machen. Schließlich wusste man ja nicht, ob nicht doch zufälligerweise ein Schattenvogel in großer Höhe über sie hinwegflog.

»Wie sehen deine nächsten Pläne aus, Elb?«, fragte Whuon an Lirandil gewandt. »Was erwartet uns, sobald wir die Küste des Ost-Orkreichs erreichen?«

»Es gibt dort ein Gebiet, das man die Anfurten der Riesenschildkröten nennt«, sagte Lirandil. »Es ist ein Küstenstreifen, der kaum besiedelt ist. Die Orks, die dort leben, zwingen den Riesenschildkröten ihren Willen auf und reiten auf ihnen ins Meer hinaus, um zu fischen. Anders als die Orks von Orkheim haben sie nie gelernt, wie man Schiffe oder wenigstens Flöße baut. Dort gibt es eine Bucht, in der wir vor Anker gehen und landen werden.«

»Und du bist dir sicher, dass dieser Elbenoid da vorn am Ruder sich gut genug mit in diesen abgelegenen Gewässern auskennt?«, fragte Whuon und zog dabei die Augenbrauen skeptisch in die Höhe.

»Du solltest uns nicht unterschätzen!«, rief Osgeion, der Whuons Worte offenbar gehört hatte. »Und schon gar nicht, wenn es um die Kunst der Seefahrt geht. Wir nehmen es darin spielend mit jedem Caraboreaner auf!«

»Schon auffällig, dass er nicht seine eigentlichen Vorbilder nennt – die Elben«, schloss Whuon. »Aber wir wollen das Beste hoffen.«

»Wie geht es anschließend weiter?«, fragte jetzt Zalea.

»Jenseits des Küstenstreifens, den ich beschrieb, liegt das Gebirge an der Hornechsenwüste. Die Orks meiden diese Berge, und man sagt, dass dort allerlei Wesen aus uralter Zeit hausen, die in Vergessenheit ihr Dasein fristen – verborgen vom Schatten tiefer Täler, in die niemals ein Sonnenstrahl gelangt. Es gibt einen Pass, den ich vor vielen Jahren einmal benutzte und der einen geradewegs in die Hornechsenwüste bringt. Von den Bergen aus ist es nicht mehr weit bis zu Ghools Neufeste, von wo aus er sein dunkles Reich zu errichten versucht. Und dorthin müssen auch wir gelangen.« Lirandil wandte sich an Arvan. »Das Wissen über den Weg ist in dir, und es wird dir zur Verfügung stehen, wenn du darauf angewiesen sein solltest.«

»Ich dachte, Ihr werdet mich führen«, gab Arvan zurück.

Lirandil nickte. »Ja, das werde ich auch. Aber niemand weiß, was auf dem Weg noch alles geschieht und ob jeder von uns das Ziel lebend erreicht.«

»Ich bin nicht abergläubisch, aber unter Söldnern sagt man immer, dass düstere Prophezeiungen dazu neigen, sich selbst zu erfüllen«, wandte Whuon ein. »Also ist es das Beste, man unterlässt sie.«

»Ihr verkennt, dass Lirandil ein Elb ist«, meinte Brogandas. »Und bei denen ist der Pessimismus anscheinend inzwischen so sehr Teil ihres Wesens geworden, dass ihnen jeglicher Mut und jegliche Entscheidungsfreude abhandengekommen sind.«

»Es sind die Dunkelalben, die sich noch immer nicht entscheiden konnten, auf welcher Seite sie in den Krieg ziehen sollen, während ein Elb das Bündnis gegen Ghool geschmiedet hat«, gab Whuon zu bedenken.

»Lirandil ist eine Ausnahme«, stellte Brogandas fest. »In mehrfacher Hinsicht.«

»Ich nehme an, dass dies als Ausdruck der Anerkennung gemeint war«, sagte Lirandil.

Brogandas grinste breit. »Jedenfalls würde es mich in Eurem Fall nicht wundern, wenn Ihr Euch eines Tages Dunkelalbenrunen ins Gesicht machen lasst. Aus reiner Neugier, um zu erfahren, wie es sich anfühlt, zu den wahrhaft Starken zu gehören.«

»Wenn Ihr von den wahrhaft Starken sprecht, dann werdet Ihr das Volk der Dunkelalben damit wohl kaum meinen«, mischte sich Zalea ein. »Es zeugt schließlich nicht gerade von wirklich großer Überlegenheit, schwache Völker wie Menschen und Halblinge massenhaft zu unterdrücken.«

»Du kannst es nicht bleiben lassen, diesen Punkt immer wieder anzusprechen, was, Halblingmädchen?«

»Nein, denn wenn ich Euch sehe, dann sehe ich einen miesen Sklavenhalter, für den andere Geschöpfe nichts weiter sind als Werkzeuge oder Vieh.«

Brogandas’ Lächeln verschwand. »Immerhin bist du ja noch frei genug, so einen Unsinn zu reden«, versetzte er. »Aber bevor ich dir oder irgendeinem deiner Gefährten hier das nächste Mal das Leben rette, dann erinnere mich doch bitte daran, dass ich vorher nachfrage, ob der Betreffende überhaupt gerettet werden will oder sich stattdessen lieber von Orks oder Dämonen abschlachten lässt.«

Whuon blickte jetzt zu Rhomroor hinüber, der zwar neben Lirandil Platz genommen, aber die ganze Zeit geschwiegen hatte. »Du hast noch gar nichts zu diesen Plänen gesagt, Ork!«

»Reden ist Silber, Schweigen ist Hornechsendung«, knurrte Rhomroor. »Wobei du vielleicht wissen solltest, dass man bei uns Orks Letzteres als den wertvolleren Stoff ansieht.«

»Ich wüsste trotzdem nur zu gerne deine Meinung, Ork. Schließlich hat Lirandil behauptet, du würdest uns durch die Orklande führen.«

»Das tue ich auch – obwohl Lirandil so häufig dort war, dass er sicherlich keiner Führung bedarf.«

»Und welchen Grund hat es dann überhaupt, dass ein Ork an unserer Reise teilnimmt?«, fragte Arvan ziemlich gereizt. Schließlich hatte es ihm von Anfang an nicht behagt, von einem jener Scheusale begleitet zu werden, die vermutlich seine Eltern auf dem Gewissen hatten. Und dieses Unbehagen wurde auch kaum durch die Tatsache gemildert, dass Rhomroor gegen Ghool gekämpft hatte. So sehr der Verstand Arvan auch sagte, dass man über jeden Bundesgenossen nur froh sein konnte, so stark blieb gleichzeitig die Abneigung – ganz ähnlich wie bei Brogandas.

Rhomroor wandte den Blick, riss dann plötzlich die Hauer seines tierhaften Mauls auseinander und rülpste ungeniert. »Du wirst sehen, Arvan, es gibt Orte, an die dich nur ein Ork führen kann.«

Die Tage an Bord vergingen recht eintönig. Aber nach all den Strapazen, die sie durchlitten hatten, waren sie froh darüber. Jedem von ihnen war bewusst, dass es nur die Ruhe vor dem Sturm sein konnte.

Sie erreichten schließlich jene Bucht, von der Lirandil gesprochen hatte. Sie lag an einer nebeligen Küste. Man konnte kaum eine Schiffslänge weit sehen, und Arvan fragte sich, wie viel von diesem Nebel noch durch den Illusionszauber bedingt war, der die Nebelbringer schützte, und wie viel den natürlichen Wetterbedingungen dieses Küstenabschnitts zu verdanken war. Offenbar schien sich in diesem Fall beides zu vermischen.

»Ich wünsche Euch und Euren Gefährten alles Gute«, sagte Osgeion, bevor der Elb als Letzter das Beiboot bestieg, mit dem sie vom ankernden Schiff an den Strand gelangen sollten.

»Und ich danke Euch für die großzügige Hilfe. Sollte es gelingen, Ghool zu vernichten, wird man sich überall in Athranor daran erinnern, dass es die Elbenschüler waren, die einen entscheidenden Beitrag dazu geleistet haben.«

Osgeion lächelte. »Das würde nur unnötig die Aufmerksamkeit auf uns lenken und wäre gewiss nicht im Interesse unserer Gemeinschaft«, erklärte er.

Zwei Elbenoiden ruderten sie zum Strand.

Arvan stieg als Erster aus. Seine Stiefel hatte er dabei ausgezogen, um sie nicht dem Salzwasser auszusetzen. Zalea und Borro folgten ihm. Anschließend kamen Brogandas, Whuon und Rhomroor an Land. Der Ork bewegte sich mehr oder minder springend durch das knöchelhohe Wasser, bis er festen Grund unter den Füßen hatte. Im Gegensatz zu Arvan behielt der Ork allerdings seine Stiefel an. »Sonst wird mir ja noch der letzte Rest Schlamm zwischen den Zehen weggespült«, meinte er dazu.

»Verlieren wir keine Zeit«, verlangte Lirandil.

»Seltsam, so eine Bemerkung aus deinem Mund zu hören, Elb«, fand Whuon. »Aber Hauptsache, du kennst die Richtung. Schließlich kann man in diesem Nebel ja kaum etwas sehen.«

»Ich rieche das Gebirge schon von hier aus«, erklärte Lirandil.

Lirandil und Rhomroor führten die Gruppe an. Ihnen folgten Whuon und Brogandas, während Arvan und die Halblinge die Nachhut bildeten.

»Schon eigenartig, dass wir jetzt mitten in den Orklanden sind«, meinte Borro. »Sieht eigentlich ganz friedlich hier aus. Fast wie am Ufer des Langen Sees, wenn dort Nebel aufkommt …«

Borro hatte das kaum ausgesprochen, da tauchte ein gewaltiger Schatten vor ihnen auf. Ein schabendes Geräusch war außerdem zu hören und rasselnder, schnaufender Atem. Rhomroor hob eine seiner Pranken und bedeutete den anderen damit, stehen zu bleiben.

Eine Riesenschildkröte schälte sich aus dem wabernden Grau heraus. Sie ging etwas unbeholfen auf gewaltigen Flossen. Ihr Panzer hatte größere Ausmaße als ein Schiff wie die Nebelbringer. Arvan konnte sich lebhaft vorstellen, wie hundert oder hundertfünfzig Orks sich darauf drängten und mithilfe dieser Kreatur zu fremden Küsten aufbrachen, um dort zu morden und zu plündern. Geschichten darüber waren in ganz Athranor verbreitet, obwohl diese Art der Küstenpiraterie wahrscheinlich gar nicht so verbreitet war und die Bewohner dieser Gegend vermutlich tatsächlich in erster Linie vom Fischfang lebten. An den Panzer der Riesenschildkröte waren Metallhaken angebracht worden, an denen Netze hingen. Das Tier hatte keine Möglichkeit, sich davon zu befreien, und die Orks aus der Gegend sparten sich wohl die Mühe, die Riesenschildkröte jedes Mal aufs Neue auszurüsten, wenn sie mit ihr auf Fang gingen.

»Wir sollten uns die Reise bis zum Pass etwas leichter machen«, schlug Rhomroor vor. Er nahm die Axt vom Rücken und gab sie Whuon. »Bewahre meine Waffe für mich auf!«

»Eine Waffe nennst du das? Das ist das Werkzeug eines Holzfällers«, meinte Whuon.

»Oder eines Schlachtergesellen«, warf Arvan ein.

Rhomroor ging auf die Schildkröte zu, die ihren riesigen Kopf gesenkt hatte und ihn mit ihren großen Augen ungläubig anglotzte. Das echsenhafte Maul öffnete sich. Ein fauchender, sehr tiefer Laut drang aus dem Schlund, der sich vor Rhomroor öffnete. Mehrere Reihen von Zähnen waren deutlich zu sehen.

Rhomroor ballte die Pranke zur Faust und schlug der Riesenschildkröte auf eine bestimmte Stelle vorn am Kopf. Ein stöhnender, gurgelnder Laut drang jetzt aus dem Schlund. Der Kopf sackte herab. Rhomroor verlor kein Zeit und kletterte am Panzer empor. Jene Orks, die diese Riesenschildkröte ganz offensichtlich für die Fischerei nutzten, hatten eiserne Bolzen in den Panzer hineingetrieben, die man als Tritte benutzen konnte.

In einer Geschwindigkeit, die zumindest Arvan, Borro und Zalea einem Ork niemals zugetraut hätten, kletterte dieser auf den Rücken der Riesenschildkröte.

»Los, worauf wartet ihr noch?«, rief der Ork von oben, nachdem er sich an der Vorderkante des Panzers hingesetzt hatte und die Beine herabbaumeln ließ. »Wenn das Tier sich von meinem Schlag erholt hat, kann es sein, dass der Aufstieg nicht mehr ganz so einfach ist!«

»Los!«, forderte Lirandil. »Diese Schildkröte wird uns eine Menge Zeit ersparen. Zumindest bis zum Gebirge kann sie uns bringen.«

»Handeln wir uns damit nicht Ärger mit den Orks dieser Gegend ein, wenn wir uns gewissermaßen ihr Fischerboot ausborgen?«, meinte Borro.

»Gefischt wird sowieso in der Nacht«, belehrte ihn Lirandil. »Um diese Tageszeit sind die Orkclans bei ihren Schlammgruben – und die sind meilenweit von der Küste entfernt.«

»Hauptsache, wir werden das nicht noch bereuen«, wandte sich Borro an Arvan. Zalea war bereits auf den Panzer hinaufgeklettert, und die anderen folgten. Während Arvan seine Stiefel wieder anzog, beobachtete ihn Borro mit einem skeptischen Blick, enthielt sich aber ausnahmsweise jeglichen Kommentars.

Dort, wo Rhomroor Platz genommen hatte, war eine Eisenstange durch den Panzer gebohrt worden. Sie war am oberen Ende gebogen und mit einem Griff ausgestattet, dessen Ausmaße für eine Orkpranke gerade passend waren. Diese Stange diente offenbar dazu, die Riesenschildkröte zu lenken, indem man mit ihr auf den Nacken des Tiers drückte.

Die Riesenschildkröte fauchte, als Rhomroor den Stab betätigte. »Die meisten Riesenschildkröten werden mit Zügeln gelenkt«, meinte Rhomroor. »Aber da sollte man immer zu mehreren sein und viel Übung haben. Einer allein schafft das kaum. Diese Lenkeisen sind wirkungsvoller.«

Die Riesenschildkröte setzte sich in Bewegung. Erstaunlich schnell vollführte sie eine Wendung, und dann trieb Rhomroor sie mithilfe des Lenkeisens an.

»Ich wusste gar nicht, dass Ihr Euch so gut auf das Treiben von Riesenschildkröten versteht, Rhomroor«, stellte Lirandil fest.

Rhomroor stieß einen dröhnenden Laut aus, der entfernt an ein menschliches Gelächter erinnerte. »Ihr vergesst, dass ich mal Herr aller drei Orkländer war! Und auch wenn ich bis heute der Einzige aus meinem Volk bin, der dieses Amt freiwillig aufgab und deswegen ein so langes Leben erreichte, wie kein anderer Ork zuvor, so war ich doch lange genug im Amt, um jeden Winkel der drei Reiche zu bereisen.«

»Eigenartig, ihn so reden zu hören«, raunte Borro an Arvan gewandt. »Lirandil hat ja gesagt, dass er lange unter Menschen war – das scheint auf ihn abgefärbt zu haben. Also wenn ich die Augen zumachte und diese Hackfresse mit den Hauern nicht sähe und hörte, wie er sich zum Beispiel mit Whuon unterhält, dann wüsste ich nicht, wer von beiden jetzt Ork und wer …« Borro hörte zu sprechen auf, als er Whuons irritierten Blick auf sich gerichtet sah. »War ja auch nur so ein Gedanke«, fügte der rothaarige Halbling verlegen hinzu.

Der Nebel lichtete sich nicht, sondern wurde immer dichter. Selbst Rhomroor war sich nicht ganz sicher, ob er die Riesenschildkröte noch in die richtige Richtung lenkte. Aber Lirandil behauptete, es genau zu wissen. »Die Berge haben einen ganz besonderen Geruch«, stellte er fest. »Und außerdem klingen die Echos des Gebirges schon herüber …«

»Das Gebirge zu finden würde ich mir auch noch zutrauen«, meinte Whuon. »Aber es dürfte sehr viel schwieriger sein, den Pass zu erreichen.«

»Keine Sorge«, sagte Lirandil. »Ich bin schließlich Fährtensucher und beherrsche meine Kunst wie kein anderer Elb.«

Immer wieder tauchten aus dem Nebel andere Riesenschildkröten als große Schatten auf. Ihre Größe war recht unterschiedlich, aber viele von ihnen trugen Netze an ihren Panzern, die nur noch ausgeworfen werden mussten, wenn eine Orkmannschaft mit dem jeweiligen Tier auf einen Fischzug ging.

Mitunter fauchten sich die Riesenschildkröten gegenseitig an, und Rhomroor schien zunächst einige Mühe damit zu haben, das von ihm zum Reittier auserkorene Geschöpf daran zu hindern, sich auf diese Auseinandersetzungen einzulassen und einfach seinen Weg fortzusetzen.

Es ging erstaunlich schnell voran. Trotz ihrer immensen Größe war bei den Geschöpfen von Behäbigkeit keine Spur.

Langsam lichtete sich auch der Nebel. Der Untergrund war noch immer trocken und sandig. Nur hier und da wuchs spärliche Vegetation. In der Ferne tauchten schließlich die Berge als große, dunkle Schatten auf. Die ersten Ausläufer des Gebirges ragten in Form von schroffen Felsbrocken empor.

Für das gewaltige Reittier wurde es immer schwieriger, vorwärtszukommen. Immer öfter boten sich Felsen als Hindernisse dar. Und so ließ Rhomroor die Riesenschildkröte schließlich anhalten.

»Bis zum Pass ist es meiner Erinnerung nach nicht mehr allzu weit.«

»Einige Meilen in südöstlicher Richtung«, versicherte Lirandil.

»Wir sollten den Weg zu Fuß fortsetzen«, schlug Rhomroor vor. »Zumal es bald dunkel wird …« Rhomroor sprach nicht weiter. Aus großer Ferne war ein durchdringender, schnarrender Ton zu hören.

»Ein Muschelhorn«, stellte Lirandil fest.

»Was hat das zu bedeuten?«, fragte Arvan.

»Die Käpitenorks rufen damit ihre Riesenschildkröten herbei«, erklärte Rhomroor.

»Eigentlich ein bisschen früh«, fand Lirandil.

»Wie auch immer, wir sollten zusehen, dass wir auf den Boden gelangen«, beharrte Rhomroor. »Das Tier wird unruhig werden.«

Sie kletterten vom Rücken der Riesenschildkröte und setzten ihren Weg fort. Das Gelände wurde immer felsiger. Aber es bot dadurch auch mehr Möglichkeiten, in Deckung zu gehen und sich zu verbergen.

Lirandil, der die Gruppe zusammen mit Rhomroor anführte, blieb plötzlich stehen und lauschte.

»Ihr habt es auch gehört?«, lächelte Brogandas.

»Es sind Orks, die sich an ihren Schlammgruben ausgeruht haben und jetzt zum Meer zurückkehren«, schloss Lirandil. »Besser, wir gehen erst einmal hinter den Felsen in Deckung und warten ab.«

»Gegen einen Kampf mit Orks hätte ich grundsätzlich nichts einzuwenden«, meinte Whuon. »Aber mehr als zwei Dutzend auf einmal sollten es besser nicht sein.«

Sie kauerten im Schutz der Felsen und warteten ab, bis Lirandil und Brogandas der Meinung waren, dass sich die Orks weit genug entfernt hatten. Zwischenzeitlich hörten auch die anderen die laut grölenden Stimmen der Scheusale und die schnarrenden Töne ihrer Muschelhörner. Manchmal wurden Letztere von genauso durchdringenden Geräuschen der Riesenschildkröten begleitet.

Die Dämmerung schritt rasch voran. Es konnte nicht mehr lange dauern, bis es ganz dunkel war. Lirandil gab schließlich das Zeichen, den Weg fortzusetzen.

»Ein Lager können wir hier in der Gegend jedenfalls nicht errichten«, meinte Borro.

»Lirandil hat gute Augen«, stellte Arvan fest. »Er wird den Weg vermutlich auch nach Einbruch der Nacht genauso gut finden, als wäre es mitten am Tag.«