Neldos Weg
Neldo konnte sich nicht daran erinnern, sich schon einmal so schnell durch die Bäume geschwungen zu haben. Nach und nach gewann der Halbling die geradezu traumwandlerische Sicherheit zurück, die ihn stets beim Klettern ausgezeichnet hatte. Ja, dies war eine Art der Fortbewegung, die Halblingen angemessen war! Da nahm er den Nachteil, dass er abgesehen von dem, was er am Leib trug, kaum Gepäck mit sich führen konnte, gerne in Kauf. Immer tollkühner wurden seine Sprünge von einer Baumkrone zur anderen. Oft genug wuchsen die Kronen der Riesenbäume ohnehin ineinander, und nur als erfahrener Baumkenner und Bewohner der Wälder am Langen See konnte man dann noch auf den ersten Blick auseinanderhalten, welcher Ast eigentlich zu welchem Baum gehörte. Auf der Hauptastgabel eines Riesenbaums hielt Neldo schließlich inne und blickte sich in der Umgebung um. Das Surren eines Schwarms von Baumfliegen klang ihm in den Ohren.
Aber ein Geruch ließ ihn aufmerken. Der Geruch von verkohltem Holz. Die Sinne eines Halblings waren längst nicht so empfindlich wie jene der Elben – aber was diesen besonderen Geruch anging, waren wohl sämtliche Bewohner des Waldes äußerst empfindlich. Man behauptete sogar, dass Menschen, die längere Zeit hier gelebt hatten, darauf mit besonderer Empfindlichkeit reagierten. Ein Brand war die größte Gefahr für alle Waldbewohner, von der Baumfliege bis zu den fleischfressenden Katzenbäumen.
Finstere Ahnungen stiegen in Neldo auf. War mit Gomlos Baum etwa dasselbe geschehen wie mit jenem Wohnbaum, an dem sie vorbeigekommen waren und wo Orks ein furchtbares Massaker angerichtet hatten?
Neldo versuchte diesen Gedanken abzuschütteln wie ein stechwütiges Insekt. Aber es gelang ihm nicht. Der Gedanke nagte an ihm und ließ sein Herz schneller schlagen.
Ich hätte diesen Wald niemals verlassen dürfen, ging es ihm durch den Kopf. Er schalt sich gleich darauf einen Narren. Als ob es etwas hätte ändern können, wenn ein einziger Halbling mehr zur Verteidigung von Gomlos Baum zur Verfügung gestanden hätte! So ein blanker Unsinn!
Er hob die Nase, schnüffelte wie ein wildes Tier und versuchte die Spuren des in der Luft hängenden Brandgeruchs näher zu bestimmen. Aus welcher Richtung kam das? Wurde der Geruch vielleicht nur durch einen kräftigen Wind in diesen Teil des Waldes getragen? Oder waren jetzt irgendwo ein paar dumme Orks so unvorsichtig, ein Feuer zu entzünden, weil sie es leid geworden waren, die Hirne ihrer Opfer roh zu verspeisen? Bei allen Waldgöttern, alles ist möglich, sagte er sich. Du solltest dich nicht verrückt machen.
Aber genau das tat er eigentlich schon seit einer geraumen Weile. Eigentlich schon seit er zusammen mit Arvan, Lirandil und den anderen Gaa verlassen hatte. Ganz bestimmt aber, seit fest stand, dass sie von Asanilon aus zum Halblingwald zurückkehren würden, um den Runenbaum aufzusuchen.
Neldo setzte seinen Weg fort. Der Brandgeruch wurde stärker. Er hing schwer in der Luft. Er schwang sich mit einer Ranke zum nächsten Baum und blickte dabei auf den Waldboden, der mit so viel Wandermoos bedeckt war, wie er es zuvor noch nicht gesehen hatte. Ein Ork lief durch das Moos, sank dabei fast bis zu den Knien in die feuchten Gewächse ein. Der Ork blickte empor und bemerkte Neldo. Augenblicklich griff er nach einem Wurfring, den er am Gürtel trug, und schleuderte ihn mit ungeheurer Wucht. Neldo hatte die Hauptastgabel des Nachbarbaums noch nicht erreicht, als der Wurfring, aus dem sich während des Fluges messerscharfe Klingen herausklappten, die Ranke durchtrennte.
Neldo fiel herab, landete im Wandermoos und sank so tief darin ein, dass er für einen Moment nicht zu sehen war. Er rappelte sich auf, ruderte mit den Armen und Beinen, um sich aus den glitschigen Pflanzen zu befreien. Er hörte das Keuchen des herannahenden Orks. Wenn so viele Schichten von Wandermoosmatten übereinanderlagen, dann hieß das, es hatte in der Nähe einen Brand gegeben, der noch viel verheerender gewesen sein musste als jener, dessen Spuren sie unterwegs gesehen hatten. Noch bevor Neldo sich wieder aufgerappelt hatte, war der Ork über ihm. Mit einem lauten Schrei ließ er seine monströs große Streitaxt auf den Halbling niedersausen.
Der Schlag verfehlte Neldo nur knapp. Dieser riss sein Rapier hoch und stieß blitzschnell zu. Der Stoß war genau gezielt. Er traf den Ork in den Hals. Die blutige Klinge des Halblings ragte eine Elle weit aus dessen Nacken hervor. Neldo taumelte zurück und schaffte es nicht, das Rapier wieder aus dem Körper seines Gegners zurückzureißen. Er wollte zum Langmesser greifen, verlor aber auf dem glitschigen Wandermoos seinen Halt und konnte sich nur mit Mühe auf den Beinen halten.
Ein röchelnder Laut drang aus dem geöffneten Orkmaul. Ein Laut, der wohl eigentlich ein Wutschrei hatte werden sollen.
Blut spritzte ihm zwischen den Hauern heraus.
Der Ork schaffte es gerade noch, seine Axt ein zweites Mal emporzureißen. Doch er war nicht mehr in der Lage, den Schlag auch noch auszuführen. Der Griff seiner Pranke um den Axtstiel lockerte sich. Die Waffe entfiel ihm, und sein stämmiger, äußerst kräftiger Körper brach in sich zusammen.
Er sank in das feuchte Moos ein. Neldo war schon im nächsten Moment bei ihm, griff nach seinem Rapier und wollte es aus dem Hals seines Gegners herausziehen, als er bemerkte, dass der Ork noch lebte.
»Was habt ihr Scheusale getan?«, zischte Neldo, und sein Gesicht verzog sich zu einer grimmigen, hasserfüllten Maske. »Zu wie vielen seid ihr hier in der Gegend?«
Ein Schwall von Blut kam aus dem Rachen des Orks heraus.
»Du … bist … das Scheusal, Halbling«, wisperte er dann und war im nächsten Augenblick nicht mehr unter den Lebenden.
Neldo zog sein zierliches Schwert heraus, wischte es an dem reichlich vorhandenen Wandermoos ab und setzte dann seinen Weg fort. Er war völlig durchnässt. Bei jedem Schritt machten seine Füße platschende Geräusche, während er durch das Wandermoos schritt. Er kletterte die Borke eines Riesenbaums empor, schwang sich mit einer Rankpflanze weiter und landete auf einem der beiden Hauptäste eines noch größeren Baums. Dessen Nordwestseite war vollkommen verkohlt. Es gab kein Blätterwerk mehr, das den Blick verstellen konnte. Neldo musste schlucken, als er auf diese Weise die verkohlte Baumruine sah, die einst seine Heimat gewesen war. Gomlos Baum. Der Ort, auf dem er geboren worden war und wo er vermutlich sein ganzes Leben verbracht hätte, wenn er nicht auf den Gedanken gekommen wäre, sich Lirandil dem Fährtensucher anzuschließen, um ein Bündnis gegen Ghool zu schmieden.
Neldo kletterte in das äußere Geäst. Bei Bäumen, die gebrannt hatten, musste man sehr aufpassen. Jederzeit konnten Äste unvermutet brechen. Und im Gegensatz zu seinem Menschling-Gefährten Arvan war Neldo zwar ein äußerst geschickter Kletterer, aber er verfügte nicht über dessen wundersame Selbstheilungskräfte. Also musste er vorsichtig sein. Er nahm eine Rankpflanze, zog an ihr und versuchte zunächst abzuschätzen, ob sie sein Gewicht noch zu tragen vermochte und nicht schon zu sehr durch den Brand gelitten hatte.
Die Ranke hielt. Neldo schwang sich hinüber und landete auf der Hauptastgabel von Gomlos Baum.
Ein Bild des Schreckens bot sich ihm. Nicht nur, dass ein Großteil des Baums ausgebrannt und rußgeschwärzt war. Die Häuser und Baumhöhlen waren nur noch ausgebrannte Ruinen. Verkohlte Leichen von Halblingen und Orks lagen verstreut auf dem Platz der Hauptastgabel. Die Toten waren nicht mehr zu erkennen. Das Feuer, das die Orks offenbar gelegt hatten, hinterließ nur angerußte Knochen und bis zur Unkenntlichkeit verbrannte Körper.
Grausige Szenen mussten sich hier abgespielt haben. Ganze Familien von Halblingen waren in das äußere Geäst geflüchtet, um vor den Orks zu fliehen, und dann in die Tiefe gestürzt, weil das verkohlte Holz brach. Man sah die zu Tode Gestürzten nicht mehr auf dem Waldboden. Die Wandermoose hatten die Leichen vermutlich gnädig bedeckt. Nur einige von ihnen waren von den tiefer gelegenen Ästen aufgespießt worden und boten nun einen Anblick, bei dem sich Neldo der Magen zusammenkrampfte.
Aasvögel und die faustgroßen Baumfliegen hatten diese Aufgespießten allerdings durch ihren Fraß dermaßen entstellt, dass Neldo niemanden wiedererkennen konnte.
Gomlos Haus war nur noch eine verrußte Ruine. Neldo blickte durch eines der offenen Fenster. Im Inneren waren die sterblichen Überreste einiger Halblinge zu erkennen. Sie mussten im Haus verbrannt sein. Neldo zitterte, und der Herzschlag pulsierte an seinem Hals und hinter seiner Schläfe. Unfassbar war das Grauen, das er hier vorfand. Und es übertraf die schlimmsten Albträume, die ihn während der Zeit gequält hatten, da er an Lirandils Seite geritten war.
Neldo sank auf die Knie. Augenblicke lang verharrte er so und fragte sich, ob das tatsächlich die Wahrheit sein konnte oder ob er nicht auch diesmal einfach nur von einem schlimmen Traum heimgesucht worden war.
Neldos Tränen versiegten.
Das Schlimmste steht dir noch bevor, erkannte er plötzlich und war wie erstarrt vor Schrecken. Niemand wird es dir ersparen können. Und du dir selbst am wenigsten.
In Gedanken hörte Neldo plötzlich die Stimme seines Vaters. Sieh hin!, hatte er so oft zu ihm gesagt, wenn Neldo mit einer Schnitzerei beschäftigt war. Sieh genau hin, das ist der erste Schritt zur Verbesserung. Unzählige Male hatte sein Vater das zu ihm gesagt, und es hatte Augenblicke gegeben, da er schon fast daran verzweifelt war und kaum noch geglaubt hatte, je ein passabler Schnitzer zu werden. Und dann hatte es Zeiten gegeben, in denen er sich insgeheim ein anderes Leben gewünscht hatte. Ein Leben, das abenteuerlicher und aufregender war. Und vor allem bedeutungsvoller. Aber in dem Moment, als er das bekam, hatte er es eigentlich schon gar nicht mehr wirklich haben wollen. Warum konnte nicht alles einfach so bleiben, wie es gewesen war?, fragte er sich, und eine tiefe Verzweiflung erfasste ihn bis in den letzten Winkel seiner Seele. Er erhob sich von seinen Knien und ging zögernd zu einem der Hauptäste. Die Baumhöhle seiner Eltern lag etwas höher. Er kletterte den gewaltigen Ast empor, der breiter war als selbst die Heeresstraßen, die der Waldkönig Haraban mitten durch sein Reich hatte ziehen lassen, um dessen einzelne Teile und Provinzen besser miteinander zu verbinden.
Wie oft war er den Ast früher emporgeklettert?
Er hätte es kaum zählen können. Jeden Tag war er mehrmals über diesen Ast gegangen. Wie oft hatte er diesen Weg verflucht und darüber geschimpft, dass seine Eltern unbedingt eine Baumhöhle bewohnen mussten, die verhältnismäßig weit oben im Geäst des Wohnbaums gelegen war.
Jetzt hätte er nichts dagegen gehabt, diesen Weg doppelt und dreifach zu gehen, wenn dafür nur alles so geblieben wäre, wie er es gewohnt war, und Gomlos Baum sich nicht in einen Ort des Grauens verwandelt hätte.
Dort, wo sich der Ast des riesigen Baums abermals teilte, lag die Wohnhöhle seiner Familie. Die Holztür war aus ihren Scharnieren gebrochen worden, das Glas in den Fenstern zersprungen. Ruß zeugte davon, dass auch hier Flammen gewütet hatten. Wahrscheinlich sogar länger als in den tieferen Bereichen des Wohnbaums, denn es gab hier nirgends Wandermoose. Sie hatten es offenbar nie bis hier oben geschafft, und der Brand war irgendwann von selbst erloschen.
Zögernd trat Neldo an die Tür. Das Rapier hielt er kampfbereit in der Rechten, denn er wusste ja nicht, ob nicht doch noch irgendwo ein versprengter Ork nur darauf wartete, ihn umzubringen. Selbst wenn es nur ein Verletzter war, den die Scheusale zurückgelassen hatten, konnte das ausgesprochen unangenehm werden.
Neldo schluckte. Sein Herzschlag hämmerte, und in seinem Magen machte sich ein flaues Gefühl breit.
Sieh hin!, sagte er sich. Du kannst der Wahrheit sowieso nicht entrinnen. Durch nichts, was du im Moment tun oder lassen könntest.
Dann fasste er etwas Mut, machte den entscheidenden Schritt in das Halbdunkel der Baumhöhle hinein.
Im nächsten Moment stieß er einen Schrei aus.
Einen Schrei, so schmerzvoll und verzweifelt, wie es wohl keinen zuvor aus dem Mund eines Halblings gegeben hatte.