Nach Colintia
Die Barkasse setzte zur Flussinsel Colintia über. Die von der Insel bis auf das Wasser wabernden Nebelschwaden waren so dicht, dass man auch jetzt allenfalls ein paar Schemen von dem erkennen konnte, was sich vielleicht dahinter verbarg. Schemen, die von Bäumen oder von großen Felsmassiven stammten oder vielleicht sogar von Gebäuden.
Zeitweilig hüllte der Nebel das Boot, das von Osgeion in Ufernähe gehalten wurde, vollkommen ein, sodass man sogar kaum noch das rasalische Ufer sehen konnte.
Plötzlich zog Whuon einen seiner Wurfdolche, und Borro griff zu seinem Bogen.
Ihre Gesichter waren schreckensbleich.
»Immer mit der Ruhe«, mahnte Osgeion. »Wenn ihr in den Nebeln Monstren und geisterhafte Fratzen zu entdecken glaubt, dann seid ihr nur besonders empfänglich für die einfache Illusionsmagie, mit der wir Elbenoiden ungebetene Besucher von unserer Insel fernhalten«, erklärte er lächelnd.
»Daher kommen also die Gerüchte, dass es hier spukt«, meinte Nomran-Kar.
»Und wir tun alles dafür, dass sie sich erhalten, um unbehelligt und in aller Abgeschiedenheit unser Leben auf eine Weise zu führen, die den Regeln unserer Gemeinschaft entspricht.«
»Sind wir etwa bei einem strengen Mönchsorden zu Gast?«, fragte Whuon.
Osgeion wirkte etwas überrascht. »Ich hatte eigentlich angenommen, dass Lirandil seine Begleiter so umfassend über uns informiert wie wir umgekehrt über seine Ziele und den Grund für euren Aufenthalt Bescheid wissen.«
Diesen Grund kennen wir ja nicht einmal selbst so richtig, dachte Arvan. Allerdings hütete er sich davor, dies laut auszusprechen.
Borro war da natürlich wesentlich ungenierter.
»Aber – wie kann das sein?«, fragte er.
»Ich glaube, es wird Zeit, dass Ihr uns einiges erklärt, werter Lirandil«, verlangte nun auch Brogandas, der sich danach an Arvan wandte und fortfuhr: »Immerhin haben wir soeben gesehen, dass dieser Elbenstab tatsächlich eine wirksame Waffe sein kann. Ich muss sagen, ich war beeindruckt, Arvan.«
»Danke«, murmelte Arvan, der offensichtlich nicht so recht zu wissen schien, was er von dem Kompliment eines Dunkelalben zu halten hatte.
»Es gab eine Phase in der Geschichte der Elbenheit, als mein Volk glaubte, dass man die primitiven, kurzlebigen Völker erziehen und bilden könnte«, begann Lirandil. »Damals gab es noch keine Menschen in Athranor, und die Durchfahrt durch die Kochende See zu den Ländern der Meeresherrscher von Relian war noch möglich. Und außerdem interessierten sich die Elben in einem weitaus stärkeren Maß für das Geschehen fernab ihres eigenen Landes.«
»Das muss unvorstellbar lange her sein«, meinte Arvan.
»Das ist es auch. Selbst gemessen an unseren Maßstäben«, gab Lirandil zu. »Unsere Seefahrer fanden in den Ländern jenseits der Kochenden See Menschen, von denen sie glaubten, dass es sich lohnen könnte, ihnen die elbische Heilkunst und auch die einfachen Formen der Magie beizubringen, denn sie lebten in unvorstellbarem Elend.«
»Elben handelten aus Mitgefühl – so etwas soll es tatsächlich einmal gegeben haben«, spottete Brogandas. »Ich glaube eher, dass unsere gemeinsamen Vorfahren die aufkommende Stärke dieser menschlichen Barbaren fürchteten – und es hat ja auch nicht lange gedauert, bis sie sich schließlich überall breitgemacht haben. Auch in Athranor.« Brogandas grinste breit. »Wenn man sie zu friedfertigen, schwachen Weichlingen hat erziehen wollen, die lieber altelbische Lyrik rezitieren, statt Schwerter zu schmieden und friedliche Elefanten zu kämpfenden Monstren zu dressieren, waren die damaligen Bemühungen nicht sonderlich erfolgreich, würde ich sagen.«
»Im Gegensatz zu Eurer Art des Umgangs mit Menschen und Halblingen, der darin besteht, sie zu versklaven?«, erwiderte Zalea mit einem scharfen Unterton. »Ist es das, worauf Ihr hinauswollt, Brogandas?«
»Fahr fort, Lirandil«, verlangte Whuon. »Was hat es mit den Elbenschülern auf sich?«
»Menschen, die zumindest einen Teil des Elbenwissens erworben haben – kein Wunder, dass Whuon sich dafür interessiert«, konnte sich Borro eine Bemerkung nicht verkneifen.
»Nun, es gibt dazu eigentlich nicht mehr viel zu sagen. Die sogenannten Elbenschüler erreichten durch die Anwendung der Elbenheilkunde ein höheres Alter und neigten weniger zur Gebrechlichkeit, als dies normalerweise bei ihnen der Fall gewesen wäre. Allerdings verloren die Elben irgendwann im Laufe der Jahrtausende das Interesse daran, ihr Wissen weiterzugeben. Und so überließen sie die Elbenoiden sich selbst. Zunächst rechtfertigte man sich damit, dass sich dieses Wissen sicherlich von allein weiter ausbreiten würde. Die Elbenschüler, so glaubte man, würden es bis in den letzten Winkel der Länder der Meeresherrscher von Relian tragen. Aber das war nicht der Fall. Viele Menschen betrachteten die Elbenoiden wegen ihrer Lebensweise als Sonderlinge, die ihnen unheimlich waren. Sie glaubten, dass sie mit finsteren Mächten im Bunde seien, und sahen nicht einmal den Wert, den das Geschenk des Wissens hatte, das die Elben den Menschen gemacht hatten. Stattdessen warf der Großteil von ihnen dieses Geschenk achtlos weg. Später kamen mit den ersten Menschen, die in Athranor siedelten, auch einige Elbenschüler auf unseren Kontinent. Vielleicht waren sie auf der Suche nach ihren Lehrern und konnten selbst nach all den Generationen noch immer nicht glauben, dass diese einfach das Interesse an ihrem Schicksal verloren hatten.«
»Unsere Vorfahren stellten fest, dass die Elben nicht nur das Interesse an ihren Schülern, sondern sogar weitgehend das Interesse an ihrem eigenen Schicksal und ihrer eigenen Zukunft verloren hatten«, sagte Osgeion. »Und wie Ihr seht, lebt unsere Gemeinschaft bis heute abgeschieden von den anderen Menschen. Unsere Lebensweise stößt bei ihnen nur auf Unverständnis.«
Lirandil nickte wissend. »Und so, wie die Elben einst keinen Sinn mehr darin sahen, ihr Wissen an barbarisch anmutende Menschen weiterzugeben, so haben die wenigen Gemeinschaften von Elbenoiden, die es in Athranor gibt, ebenfalls das Interesse daran verloren, ihr Wissen weiterzugeben und den Keim der Weisheit zu säen.«
»Als mein Vater jung war, stieß Lirandil auf seinen Streifzügen auch auf die Insel Colintia«, erklärte Osgeion. »Er unterrichtete meinen Vater in der Kunst des Fährtensuchens, und mein Vater hat sich bemüht, diese Kenntnisse wiederum an seine Schüler originalgetreu weiterzugeben.« Osgeion wandte den Blick in Lirandils Richtung und fuhr dann mit einem Tonfall des Bedauerns fort: »Leider habt auch Ihr, werter Lirandil, das Interesse an Eurem Schüler verloren, denn Ihr seid danach nie wieder nach Colintia zurückgekehrt.«
»Aber ich war seitdem stets mit Eurem Vater in geistiger Verbindung«, gab Lirandil zu bedenken. »Eine Verbindung, die immerhin stark genug war, um die Elbenoiden von Colintia in dieser schweren Stunde um Hilfe bitten zu können.«
»Aber eine Verbindung, die offenbar nicht stark genug war, um zu verhindern, dass Ihr Osgeion mit seinem Vater verwechselt habt«, stellte Brogandas fest. »Hättet Ihr das nicht spüren müssen, werter Lirandil? Oder ist Euer Verstand im Moment so stark mit anderen Dingen beschäftigt, dass man Euch dies nachsehen muss?«
Lirandils Augen leuchteten bläulich auf. Er ging nicht weiter auf Brogandas’ despektierliche Bemerkung ein und schien zunächst davon auszugehen, dass dieses Aufleuchten seiner Augen Antwort genug war. »Wer an die großen Dinge denken muss, kann sich in den Kleinigkeiten schon einmal irren«, sagte er dann – allerdings nicht als Antwort an Brogandas, sondern an Osgeion gerichtet. »Und ich gehe davon aus, dass sowohl Ihr als auch Euer Vater dafür Verständnis habt!«
Die Barkasse fuhr in eine Bucht ein, die einen natürlichen Hafen bildete. Eine ganze Anzahl von Booten war hier an einem Steg festgemacht worden, andere hatte man die sanft ansteigenden Anfurten hinaufgezogen.
Arvan und seine Gefährten gingen an Land, während Osgeion noch das Segel herabließ und die Barkasse mit ein paar kunstvoll verschnörkelten Knoten vertäute.
Einige Elbenoiden – sowohl erwachsene Männer und Frauen als auch Kinder – erwarteten sie bereits und betrachteten die Ankömmlinge mit unverhohlener Neugier.
Sie trugen alle die gleichen kuttenartigen Gewänder. Arvan fiel auf, dass keiner von ihnen bewaffnet war. Offenbar vertrauten sie zu ihrem Schutz voll und ganz den magischen Trugbildern, die ungebetene Besucher davor zurückschrecken ließen, die Insel zu betreten.
»Folgt mir«, sagte Osgeion freundlich.
»Die starren uns alle so an, als wären wir seltsame Kreaturen oder so etwas«, raunte Borro Arvan zu. »Irgendwie scheinen wir hier aufzufallen …«
»Vermutlich hat man auch hier bereits davon gehört, dass ich Zarton erschlug«, glaubte Arvan. »Und wenn Lirandil uns über eine geistige Verbindung zu seinem ehemaligen Schüler schon angekündigt hat, dann ist es doch kein Wunder, dass jeder weiß, wer wir sind.«
»Langsam scheint dir der Ruhm zu Kopf zu steigen«, mischte sich Zalea ein.
»Ich gewöhne mich daran, ein Held und kein Trottel mehr zu sein.«
»Ehrlich gesagt bin ich mir nicht sicher, ob ich den Trottel nicht mehr mochte.«
»Wie bitte?«
»Arvan, die Leute hier wundern sich über uns, aber ich glaube nicht, dass sie uns bewundern«, erklärte Zalea mit Nachdruck.
Osgeion führte sie ein Stück durch den Nebel, der die ganze Flussinsel wie ein schützender Kokon einzuhüllen schien. Sie erreichten wenig später die ersten Gebäude. Sie waren steinern und wirkten alterslos. Die durch zahlreiche Säulen geprägte Architektur erinnerte an die Bauwerke der Elben. Diese Bauten allerdings schienen vollkommen im Einklang mit den Gesetzen der Natur zu sein. Bei keinem hatte man den Eindruck, dass nur Magie die der Schwerkraft spottenden Mauern und Türme noch aufrecht hielt.
Auch hier wurden sie von vielen Schaulustigen erwartet.
Auch hier – keine einzige Waffe, stellte Arvan fest. Die Elbenoiden müssen tatsächlich in einer sehr friedfertigen Gemeinschaft leben.
Man führte sie in eines der steinernen Häuser. Es war sehr großzügig angelegt. Sie durchschritten eine Säulenhalle und erreichten schließlich einen Raum, in dem ein uralter Mann auf einem Diwan saß und in einem Buch blätterte.
»Ferach!«, rief Lirandil. »Es freut mich, Euch wohlauf zu sehen.«
Ferach blickte auf und klappte das Buch zu, auf dessen Einband Elbenrunen mit golddurchwirktem Garn eingestickt waren. »In meinem Alter ist das nicht mehr selbstverständlich«, sagt Ferach. »Auch dann nicht, wenn man sich an die Grundsätze der Heilkunde hält, die wir Elbenoiden einst von Eurem Volk gelernt und an die Besonderheiten menschlicher Körper angepasst haben.«
Die Ähnlichkeit zwischen Ferach und seinem Sohn Osgeion war tatsächlich frappierend.
Lirandil stellte alle Anwesenden kurz vor. Aber es schien beinahe so, als wäre das gar nicht nötig. Lirandil hatte einem ehemaligen Schüler in der Kunst des Fährtensuchens offenbar bereits in Gedanken ein Bild derjenigen übermittelt, die ihn begleiteten. »Erstaunlich«, murmelte der alte Mann. »Genauso habe ich mir jeden einzelnen Eurer Begleiter vorgestellt. Es hat mich gefreut, dass Ihr unsere gedankliche Verbindung vor einiger Zeit wieder aufgenommen habt, werter Lirandil. Das erinnerte mich an meine Jugend, als Ihr mich unterrichtet habt.«
»Meinem Gefühl nach ist die geistige Verbindung nie abgerissen«, wunderte sich Lirandil etwas.
Ferach lächelte nachsichtig. »So viel Elben und Elbenoiden auch gemeinsam haben mögen – das Empfinden der Zeit wird uns wohl immer unterscheiden. Und das gilt offenbar sowohl für einen Elb, der überwiegend unter Menschen lebt, als auch für Menschen, die versuchen, der Lebensweise der Elben nachzueifern.«
»Mag sein, dass ich die Zeit und ihre Bedeutung für die kurzlebigen Völker noch immer unterschätze.«
»Allerdings war ein Libellenreiter nicht dabei, als Ihr mir Eure Gedanken gesandt habt, Lirandil.« Ferach betrachtete Nomran-Kar ganz genau, ehe er schließlich auch die anderen Anwesenden einer ausgiebigen Musterung unterzog. »Und sollten nicht eigentlich drei Halblinge Euch begleiten?«
»Unser Freund Neldo hat uns leider vor einer Weile verlassen«, sagte Borro.
»Nun, ich weiß nicht, ob eine so kleine Gruppe von Geschöpfen wirklich zu dem imstande ist, was Ihr Euch vorgenommen habt …«
Selbst darüber scheint er mehr zu wissen als wir, ging es Arvan ärgerlich durch den Kopf. Lirandil schien seinen alten Schüler ausführlicher informiert zu haben als seine Gefährten. Arvan fand das mehr als einfach nur ärgerlich. Von wem hängt denn alles letztlich ab? Von dem, der diesen verfluchten Stab tragen muss, dachte er. Und nicht von einem alten Wunderling.
»Ihr seid angegriffen worden«, stellte Ferach fest. »Die Gedanken meines Sohnes haben mich das sehen lassen … Waren das Ghools Geschöpfe?«
»Man nennt sie Gharandoi«, sagte Lirandil. »Vogelreiter.«
»Glaubt Ihr, es besteht die Gefahr, dass sie zurückkehren, um die Insel zu betreten?«
»Vermutlich nicht, wenn wir so schnell wie möglich weiterreisen«, gab Lirandil offen zu. »Und davon abgesehen dürfte auch die Magie, die Eure Insel umgibt, zumindest einen gewissen Schutz darstellen.«
»Die Macht Ghools reicht gewiss aus, um sie zu überwinden«, gab Ferach zu bedenken.
»Das wird er nur tun, wenn der Aufwand sich für ihn lohnt. Er kämpft an vielen Fronten gleichzeitig und ist derzeit gezwungen, seine Kräfte zu konzentrieren.«
»Nicht alle in unserer Gemeinschaft sind glücklich über das Risiko, das Euer Besuch für uns derzeit gewiss bedeutet«, sagte Ferach offen. »Die Abstimmung im Ältestenrat darüber, ob wir Euch überhaupt helfen sollen, war sehr knapp.«
»Auch die Elbenschüler von Colintia könnten sich langfristig aus diesem Krieg nicht heraushalten«, gab Lirandil zu bedenken. »Denn Ghool wird es nicht zulassen, dass es einen Bereich gibt, der nicht seiner Herrschaft unterliegt.«
»Dieses Argument hat die Mehrheit überzeugt, Lirandil. Und deswegen seid Ihr hier und genießt das Asyl unserer friedlichen Insel. Mein Sohn Osgeion wird die Zeit nutzen, um ein Schiff auszurüsten, das Euch an die Küste des Ost-Orkreichs bringen wird. Von dort an seid Ihr dann auf Euch allein gestellt.«
»Ich danke Euch für Eure Großzügigkeit«, sagte Lirandil.
»Und ich hoffe, dass wir sie nicht noch bitter bezahlen werden«, entgegnete Ferach. »Wir sind eine friedliche Gemeinschaft, die das Tragen von Waffen ablehnt – und wir haben es über viele Generationen hinweg geschafft, uns aus den Kriegen der uns umgebenden Reiche herauszuhalten.«
»Dies ist kein Krieg wie jeder andere«, war Lirandil überzeugt.
»Ja, dieses Argument wird regelmäßig vor jedem neuen Waffengang wiederholt, und es gibt auch unter uns immer wieder Stimmen, die meinen, dass wir uns einmischen müssten, um unsere eigenen Interessen zu wahren. Ich kann nur hoffen, dass Eure Einschätzung richtig ist.«
Ferach erhob sich mit Mühe von seinem Diwan. Als Lirandil ihm helfen wollte, wehrte er jedoch ab. »Ich lasse mir nicht von jemandem aufhelfen, der noch älter ist als ich«, sagte er matt lächelnd. Dann wandte er sich Arvan zu. »Man spricht viel von dir, Arvan.«
»Das mag sein.«
»Anscheinend halten dich viele für den größten Helden von Athranor. Du sollst wissen, dass bei uns der Ruhm, der durch Gewalt erworben wird, nicht so hoch geachtet wird wie andernorts.«
»Ich erwarte keine besonderen Ehrungen oder dergleichen. Alles, was ich will, ist, dass die Bedrohung durch Ghool ein Ende findet.«
»Klingen da Hass und Schmerz in deiner Stimme mit?«
»Ich wuchs bei Halblingen auf, die mich großzogen und denen ich alles verdanke. Ghools Schergen haben vermutlich meine Zieheltern umgebracht und unzählige andere Halblinge getötet. Der Wohnbaum, auf dem ich aufgewachsen bin, ist nur noch eine verkohlte Ruine. Ja, ich denke, da klingt Schmerz in meiner Stimme mit, werter Ferach.«
»Schmerz … und Hass«, ergänzte Ferach.
»Und Wut. Eine unbändige Wut, der ich in der Schlacht gestatte, sich zu entfalten.«
»Diese Wut ist ein gieriges Ungeheuer, Arvan. Ein Ungeheuer, das mitunter auch den verschlingt, der es von der Kette lässt.«
Arvan spürte innerlich einen Widerwillen dagegen, dass dieser alte Elbenoide ihm Ratschläge zu geben versuchte. Was wusste dieser über Hundertjährige schon, der nicht viel von der äußeren Welt kannte und vermutlich sein Leben fast ausschließlich auf dieser nebeligen Insel verbracht hatte – abgeschieden und ohne Gefahren. Ihm ist nie etwas Vergleichbares widerfahren, und doch glaubt er, über mich urteilen zu können, ging es ihm ärgerlich durch den Kopf. Im selben Moment hoffte er allerdings, dass sein Gedanke nicht so intensiv gewesen war, dass Ferach ihn vielleicht empfangen hatte. Wie weit die diesbezüglichen Fähigkeiten der Elbenoiden tatsächlich gingen, war Arvan nicht so recht klar. Aber es schien ähnlich wie bei den Elben zu sein: Eine geistige Verbindung gab es zumeist nur dann, wenn man sich aus irgendeinem Grund nahestand. Und das war in diesem Fall sicherlich nicht gegeben.
»Ich werde Eure Worte bedenken, Ferach«, sagte Arvan laut.
Ferach lächelte. »Du brauchst mir gegenüber nicht diplomatisch zu sein, Arvan. Das widerspricht deiner ganzen Natur, wie mir scheint.«
»Großvater, ist das der große Held, der den siebenarmigen Riesen erschlug?«, drang eine weibliche Stimme durch den Raum.
Arvan drehte sich um und sah eine junge Frau, etwa so alt wie er selbst. Das helle Haar fiel ihr bis weit über die Schultern. Die Gesichtszüge waren fein geschnitten, und ihre graublauen Augen musterten Arvan voller Interesse. Obwohl sie wie alle anderen Elbenschüler ein kuttenartiges Gewand trug, schmiegte sich dessen feines, fließendes Gewebe dennoch so sehr an ihren Körper, dass die anmutige Gestalt nicht verborgen wurde.
»Ja, das ist Arvan Aradis«, bestätigte Ferach. »Genau wie seine Gefährten wird er nicht lange auf Colintia bleiben – und spätestens morgen früh wird dein Vater mit ihnen zur Küste der Orks segeln.«
»Es freut mich, dich kennenzulernen, berühmter Arvan«, sagte sie und reichte dem völlig verdutzten jungen Mann die Hand. »Ich bin Lesene, die Tochter von Osgeion, der sich ja wohl angeboten hat, euch über das Meer zu bringen.«
»Die Freude … also … irgendwie … ist ganz auf meiner Seite«, erwiderte Arvan, der von Lesenes Anblick ganz verzaubert war.
»Und du hast wirklich einen Riesen erschlagen?«
Ehe Arvan antworten konnte, griff Ferach ein. »Du könntest unseren Gästen die Quartiere zeigen, in denen sie die Nacht verbringen werden, Lesene.«
»Aber gerne«, sagte sie. »Wenn ihr mir bitte folgen würdet.«
Lesene ging voran, und Arvan blieb zunächst wie angewurzelt stehen. Zalea gab ihm einen Stoß. »Pass auf, dass dir nicht die Augen aus den Höhlen fallen, du berühmter Held«, raunte sie ihm zu. »Und ich hoffe, dir ist aufgefallen, dass das keine echte Elbin ist – sondern nur eine, die so tut als ob.«
»Und deswegen auch glücklicherweise wohl nicht gehört hat, was du gerade gesagt hast«, flüsterte Arvan etwas ärgerlich zurück. Die anderen hatten sich in Bewegung gesetzt, um Lesene zu folgen.
Sie wurden durch einen hohen Gang geführt, dessen Decke mit einem Fresko bedeckt war, das offenbar Szenen aus der Geschichte der Elbenschüler zeigte. Man sah einen Elben, der einem Menschen ein Buch überreichte. Und beide schienen stets den Betrachter anzuschauen. Arvan stolperte fast, als er hinsah. Obwohl sie ihn wahrscheinlich gar nicht hätte halten können, wenn er gefallen wäre, griff Zalea ihm unter den Arm.
»Ich überlege, ob ich nicht doch etwas lauter sprechen sollte«, sagte sie. »Aber ihre Ohren kommen ja noch nicht einmal durch ihr Haar hindurch. Wie will man da etwas hören. Und was die kleinen Füße angeht, taugen die vermutlich auch zu nichts. Trotzdem hat sie deine Aufmerksamkeit fast so in Beschlag genommen wie damals diese Elbin, deren Namen mir jetzt einfach nicht mehr einfallen will.«
»Zalea!«
»Ich bewundere deine Heldentaten übrigens auch, Arvan. Auch wenn ich dummerweise immer wieder vergesse, gebührend zu erwähnen, dass du einen Riesen erschlagen hast, bevor ich dich anrede.«
Aber Arvan schien ihr gar nicht zuzuhören. Sein Blick war auf Lesene gerichtet, die sich jetzt zu den Gästen der Elbenoiden umdrehte. »Mein Großvater hat unsere größten Räume für Euch herrichten lassen«, sagte sie an Lirandil gerichtet. »Ihr wart sein Lehrer, und er hat sehr oft von dem erzählt, was Ihr ihm einst beigebracht habt.«
»Das freut mich über die Maßen«, nickte Lirandil. »Vor allem weil der Unterrichtung von kurzlebigen Wesen ja immer ein gewisser Hauch der Vergeblichkeit anhaftet.«
»Seid unbesorgt! Euer Wissen wurde von Generation zu Generation weitergegeben«, versicherte Lesene, deren Blick sich jetzt für einen Augenblick mit dem von Arvan traf, der sie bereits die ganze Zeit unverwandt angestarrt hatte.
Am Abend gab es ein festliches Essen in Ferachs Haus.
»Gibt’s hier gar kein Fleisch?«, wunderte sich Borro. »Man hätte mir ja Bescheid sagen können, dann wäre ich gern noch am Abend auf die Jagd gegangen. – Ich nehme an, dass es hier auf Colintia auch essbares Wild gibt.«
»Wir Elbenoiden essen kein Fleisch«, erklärte Osgeion daraufhin in einem Tonfall, der deutlich machte, wie sehr ihn allein der Gedanke an den Verzehr von Fleisch schon anwiderte. »Das gehört zu den Regeln, die wir uns gegeben haben.«
»Ich weiß ja, dass Elben wenig essen, aber dass Ihr grundsätzlich auf Fleisch verzichtet, war mir ehrlich gesagt neu, werter Lirandil«, wandte sich Borro etwas enttäuscht an Lirandil.
»Das trifft auch nicht zu«, erklärte dieser. »Die Verbindung zwischen den Elben und ihren Schülern ist vor so langer Zeit abgebrochen, dass sich in der Zwischenzeit vieles verändert hat. Vor allem natürlich bei den kurzlebigen Schülern, die ja mit dem Fluch leben, ihr Wissen in jeder ihrer kurzen Generationen wieder neu erwerben zu müssen.«
»Es entspricht unserer Tradition«, erklärte Ferach. »Vor allem deshalb, weil wir festgestellt haben, dass der übermäßige Genuss von Fleisch die Wirksamkeit von Elbenmedizin reduziert.«
»Also lieber krank und satt oder hungrig und dafür gesund bis ins hohe Alter«, brachte es Borro in seiner gewohnten Weise auf den Punkt. »Also, da wüsste ich schon, wie ich mich entscheiden würde.« Er wandte sich an Lirandil, nachdem er einen Bissen von den gebratenen Wurzeln genommen hatte, die serviert wurden. »Gleichgültig, wie sehr die Elben versucht haben mögen, auch Halblinge zu etwas Besserem zu erziehen – an den Essgewohnheiten meines Volkes hat das glücklicherweise keinen bleibenden Schaden hinterlassen.«
Lirandil quittierte Borros Bemerkung nur mit einem tadelnden Blick. Der Elb empfand die Worte des rothaarigen Halblings wohl als ungebührlich. Aber in dieser Hinsicht ließ Borro sich ja für gewöhnlich kaum beeinflussen.
Arvan bekam von alledem kaum etwas mit, denn er hatte nur Augen für Lesene, die ihm gegenübersaß. Sie fragte ihn nach seinen Erlebnissen, wollte, dass er ihr genau beschrieb, wie er den Riesen Zarton getötet hatte und weshalb er es abgelehnt hatte, sich zum Hochkönig ausrufen zu lassen. Arvan hatte noch nie in seinem Leben so sehr gestottert wie bei dieser Gelegenheit. Er wunderte sich darüber, dass Lesene seine unzusammenhängenden Sätze trotzdem zu verstehen schien und nicht aufhörte, an seinen Lippen zu hängen.
Zalea wiederum verdrehte dabei nur die Augen.
Lirandil wandte sich inzwischen an Nomran-Kar. »Ich habe mit Ferach auch Euer Schicksal besprochen«, erklärte er. »Ihr könnt hier auf Colintia bleiben, bis sich für Euch eine Gelegenheit ergibt zurückzukehren.«
»Meinen Dank dafür«, sagte Nomran-Kar.
»Lirandil sieht offenbar keinen Sinn darin, dass ein Libellenreiter ohne Reittier uns begleiten würde«, meinte Whuon dazu, der neben Nomran-Kar saß und dem die rein pflanzlichen Speisen auch nicht sonderlich zu schmecken schienen, wie sein Gesichtsausdruck erkennen ließ.
»Es ist tatsächlich besser, wenn sich unsere Wege hier trennen«, bekannte Lirandil.
»Ein bisschen kenne ich den Elb inzwischen«, ergänzte Whuon. »Und ich würde sagen, dies war jetzt die diplomatische Art, dir zu sagen, dass er dich für nutzlos hält und dir nicht traut.«
»So etwas hab ich mir schon gedacht«, lächelte Nomran-Kar säuerlich.
»Aber du solltest dir nichts daraus machen, Libellenreiter. Jedenfalls ist deine Chance, in einigen Wochen noch am Leben zu sein, beträchtlich größer als bei denen, die mit dem verrückten jungen Riesenschlächter da vorn losziehen«, meinte Whuon und deutete dabei auf Arvan, der gar nicht mitbekam, dass von ihm die Rede war.
In diesem Augenblick starrte Nomran-Kar mit weit aufgerissenen Augen zur Tür und stieß einen Schrei aus.
Ein Ork stand dort. Seine Kleidung starrte nur so vor Dreck, und er sah aus, als wäre er einer Schlammgrube entstiegen. Auf seinem Rücken trug er eine Streitaxt von monströser Größe. Ein Kurzschwert und mehrere Dolche steckten hinter dem Gürtel. Der Harnisch war mehrfach gebrochen, und die einzelnen Stücke wurden nur notdürftig mit Drahtstücken zusammengehalten. Seine gesamte Gestalt war von einer Schicht getrockneten Schlammes bedeckt, der auch das etwa knielange Wams nahezu erstarren ließ.
Der Ork schrie ebenfalls.
Arvan wirbelte herum, sprang von seinem Platz und wollte nach einer Waffe greifen. Den Beschützer hatte er jedoch nicht bei sich. Ferach hatte darauf bestanden, dass zumindest beim Mahl keine Waffen getragen wurden, da dies ganz grob gegen die elbenoidische Tradition verstoßen hätte.
Und so hatten sie alle ihre Waffen in den Quartieren zurückgelassen. Selbst Whuon, dem das überhaupt nicht behagt hatte.
Den Elbenstab allerdings hatte Arvan nicht abgelegt – und Lirandil hatte ihn darin unterstützt. Es hatte niemand daran Anstoß genommen, schließlich war der Stab nicht auf den ersten Blick als Waffe erkennbar.
Arvan riss den Stab hervor und spürte, wie die Kraft ihn durchflutete. Ja, jetzt ist der Moment, um ein Scheusal zu töten, wisperte die Gedankenstimme des Stabes. Oder war es vielleicht doch ein Gedanke, der schon lange in ihm geschlummert hatte und den tiefen Wunsch nach Rache zum Ausdruck brachte? Wut keimte in Arvan auf.
»Arvan!«, rief Lirandil und sprang ebenfalls auf. »Das ist ein Freund!«
Der Ork stieß einen durchdringenden Schrei aus.
Töte ihn! Jetzt! Sofort! Du kannst es – und du solltest nicht zögern, wisperte die Gedankenstimme, die immer bedrängender wurde.
»Ich dulde keine Gewalt in meinem Haus«, rief Ferach – aber Arvan nahm die Stimme des alten Elbenoiden nur wie aus weiter Ferne wahr.
Denk an Gomlo und Brongelle! Denk an all die Halblinge, die diese Scheusale, ohne zu zögern, umgebracht haben, bedrängte ihn unterdessen die Stimme von Neuem, und sie war dermaßen eindringlich, dass sie für Augenblicke alles, was durch seine Ohren in seine Gedanken hätte dringen können, überdeckte.
Alles, bis auf die Worte, die Lesene sprach.
»Arvan, dieser Ork ist seit einiger Zeit unser Gast. Ich selbst geleitete ihn zu einem unserer Dörfer am nördlichen Arm des Flussdeltas, weil es hier bei uns keinen Sumpf gibt, der ihm für die Schlammwäsche hätte dienen können. Er hat mir nichts getan – und auch sonst niemandem auf Colintia.«
Inzwischen hatte Lirandil die Tafel umrundet und sich zwischen den Ork und Arvan gestellt. »Dieser Ork ist hier, weil er uns von nun an begleiten und führen wird! Denn wenn Osgeion uns an der Küste des Ost-Orkreichs absetzt, dann liegt noch ein anstrengender Weg bis zu Ghools Neufeste vor, wo er sich verbirgt und wo er immer neue Kräfte sammelt.«
Der Ork riss in diesem Augenblick die Axt aus dem Futteral auf seinem Rücken. Er warf sie auf den Boden. Klirrend folgten diesen monströsen Waffen wenig später auch noch mehrere Dolche und das Kurzschwert.
Da ließ auch Arvan schließlich den Elbenstab sinken. Wie schade … Kein Orkblut wird vergossen, meldete sich die Gedankenstimme. Und er fühlte noch immer, wie die drängende Kraft des Stabes ihn durchflutete. Sie schien sich mit der zügellosen Wut zu verbinden, die ihn auch früher schon bisweilen erfasst hatte. Arvan atmete tief durch. Ich muss der Herr meiner selbst bleiben, dachte er – und er war sich für einen Moment nicht sicher, ob dies sein eigener Gedanke oder die Stimme des Stabes war. Lirandil zufolge war ja beides ohnehin dasselbe. Aber in diesem Augenblick hielt es Arvan zum ersten Mal für möglich, dass dies tatsächlich der Wahrheit entsprach. Ihn schauderte, während sich beide Hände um den Stab schlossen. Er sah auf die Runen, sah sie sich verändern und golden schimmern – so unruhig wie nie zuvor. Wie aus weiter Ferne glaubte er eine protestierende Stimme in seinem Kopf zu hören, deren Worte er aber nicht zu verstehen vermochte. Die Runen erstarrten schließlich und verloren ihren goldenen Glanz.
»Es war nicht meine Absicht, gegen Eure Sitten beim Essen zu verstoßen, werte Elbenschüler«, sagte der Ork in einem so perfekten Relinga, dass es einige im Raum verwunderte.
Nicht jedoch Lirandil.
»Seid gegrüßt, guter Freund«, sagte der Elb. »Ich hoffe, Ihr seid wohlauf.«
»Fast erschlagen wurde ich, als ich am Orktor zusammen mit dem Herzog von Rasal und seinem Gefolge gegen die Flut der Angreifer kämpfte«, sagte der Ork. »Das Singende Schwert zerbrach dabei – und mit ihm ist auch der letzte Widerstand im West-Orkreich zerbrochen. Nur mit knapper Not konnte ich entkommen.«
»Ums so mehr freut es mich, Euch zu sehen«, erklärte Lirandil mit beinahe feierlichem Ernst.
»Vielleicht hättest du die Güte, uns dieses schlammverschmierte Scheusal mal vorzustellen, Elb«, meldete sich Whuon zu Wort.
Der Ork schnaufte daraufhin geräuschvoll. Schleim spritzte ihm aus den Nasenlöchern, und ein grollender, gurgelnder Laut drang aus der Tiefe seiner Kehle zwischen seinen Hauern hervor.
»Nichts lieber als das«, antwortete Lirandil unterdessen dem Schwertkämpfer. »Dies ist niemand anderes als Rhomroor, der ehemalige Herr aller Orkländer und zuletzt der Anführer des Widerstandes im West-Orkreich. Man nennt ihn den friedlichen Ork, und er hat lange unter Menschen gelebt.«
»Das erklärt sicher seine penible Körperpflege«, meinte Whuon spöttisch.
»Schlammbäder sind für die Gesundheit eines Orks auf die Dauer unerlässlich«, sagte Rhomroor. Durch seine guten Kenntnisse der menschlichen Sitten und Gewohnheiten schien er gleich zu ahnen, worauf Whuon mit seiner Bemerkung gezielt hatte. »Und da ich mir vorgenommen habe, der erste Ork zu sein, der eines fernen Tages eines natürlichen Todes stirbt, will ich wenigstens, dass mich nicht irgendwelche Parasiten bei lebendigem Leib langsam auffressen, nur weil ich die Poren meiner schuppigen Haut nicht mit genügend Schlamm gereinigt habe.«
»Setzt Euch zu uns, werter Rhomroor. Ihr habt mehr für die Freiheit Athranors getan als viele andere.«
Rhomroor wandte sich sich an Ferach. »Es ist Euch sicher unangenehm, wenn ich Eure Sitzmöbel mit dem getrockneten Schlamm verunreinige, der mir anhaftet. Darum ziehe ich es vor, stehen zu bleiben.«
»Setzt Euch nur«, sagte Ferach. »Wir haben Euch bei uns aufgenommen, und Ihr seid unser Gast, werter Rhomroor. Und es wird niemand von Euch verlangen, dass Ihr menschlicher seid als ein Mensch.«
»Oder reinlicher als ein Elbenschüler«, murmelte Borro vor sich hin – allerdings wie üblich laut genug, dass man seine Worte auch ohne ein hochempfindliches Elbengehör deutlich verstehen konnte.
Zögernd setzte sich Rhomroor also an den Tisch. »Von Eurem Mahl möchte ich jedoch lieber nichts angeboten bekommen«, erklärte er an den alten Elbenoiden gerichtet. »Denn dann wäre ich gezwungen, so unhöflich zu sein und es abzulehnen.«
»Die Küche der Elbenschüler ist nicht jedermanns Geschmack«, sagte Ferach. »Dafür haben wir Verständnis.«
»Nein, es liegt nicht so sehr an dem bekanntermaßen faden Geschmack Eurer fleischlosen Speisen, sondern daran, dass es eine Ewigkeit her ist, seit ich zuletzt an einem menschlichen Mahl teilgenommen. Und, ehrlich gesagt, so große Mühe ich mir auch gab, so bin ich doch stets daran gescheitert, mir die Nahrung so einzuverleiben, dass niemand damit bekleckert wird. Aber davon abgesehen bin ich auch nicht hungrig.«
»Berichtet, wie es Euch ergangen ist, werter Rhomroor«, forderte Lirandil.
»Leider war alles umsonst. Das West-Orkreich hat tapfer und bis zum letzten Blutstropfen gekämpft, aber die Zahl meiner Mit-Orks, die unter die Herrschaft Ghools gerieten, war zu groß. Ich weiß nicht, welche magischen Einflüsterungen dazu führten, dass sie ihm wie blind folgen und sich von ihm in Schlachten schicken lassen, in denen sie nichts als Werkzeuge des Bösen sind. Aber es ist eine Tatsache, dass Ghool so viel Macht über sie hat, dass sie sich niemals daraus befreien könnten. Nicht aus eigener Willenskraft jedenfalls.«
Lirandil nickte finster. »Ja, da mögt Ihr leider recht haben, guter Freund«, bestätigte der Elb die Ansicht des Orks.
»Ich kämpfte mit meinen getreuen Orkbrüdern an der Seite des Herzogs von Rasal und bin durch ein Meer von Blut gewatet. Ein Stein aus einer Schleuder verletzte mich am Kopf und raubte mir die Sinne. Später erwachte ich, bedeckt von Leichen. Menschen, Orks, Wolfskrieger … Das Gesäß eines gepanzerten Pferdes lastete ziemlich schwer auf meiner linken Schulter. Aus diesem Tier floss so viel Blut, dass ich darin beinahe ersoffen wäre. Aber ich will nicht klagen, und eigentlich kann ich froh sein, dass nicht eine der in der Schlacht getöteten Hornechsen mich unter sich erdrückt hat. Als ich mich dann umsah, waren Ghools Horden längst weitergezogen. Die Toten hatten sie zurückgelassen, aber wie ich gehört habe, soll der Schicksalsverderber inzwischen seine Kräfte dazu benutzt haben, viele von ihnen wiederzuerwecken, damit sie sein Heer auffüllen. Ob das nur vorübergehende Nachschubprobleme sind oder tatsächlich ein Zeichen dafür, dass Ghools Macht doch nicht grenzenlos ist, vermag ich nicht einzuschätzen.«
»Ich gehe von Ersterem aus, Rhomroor.«
»Im West-Orkreich zu bleiben hatte für mich wenig Sinn. Alle, die dort gegen Ghool und unsere Orkbrüder aus dem Ost-Orkreich und der Insel Orkheim gekämpft hatten, wurden verfolgt und niedergemacht – oder sie waren bereits tot. Ich hatte davon gehört, dass es einer kleinen Gruppe von Orks, die mit uns gekämpft hatte, gelungen war, nach Norden zu fliehen, nach Rasal oder Pandanor. Ihnen folgte ich, in der Hoffnung, mit ihnen den Widerstand gegen Ghools Herrschaft über die Orks neu entfachen zu können.«
»Habt Ihr noch einmal von diesen Ork-Bundesgenossen gehört?«, fragte Lirandil.
Rhomroor stieß einen gurgelnden Knurrlaut aus, und seine Pranken ballten sich zu mächtigen Fäusten. »Ich habe sie sogar gefunden. Niedergemacht und zerstückelt. Manche von ihnen waren auf bestialische Weise gefoltert worden.«
»Ja, die Schergen Ghools dürften sich davon versprochen haben, ihnen Informationen zu entreißen«, glaubte Lirandil.
»Das waren nicht Ghools Schergen«, erwiderte Rhomroor. »Das waren Menschen! Ritter aus Pandanor und Rasal, mit tiefem Hass gegen alle Orks! Sie haben meine Orkbrüder wohl für Diener Ghools gehalten und nicht glauben wollen, dass wir auf derselben Seite stehen. Mich haben diese Ritter dann auch bald entdeckt, und ich konnte ihnen nur mit knapper Not entkommen. Bis zum Fluss verfolgten sie mich. Mit der Streitaxt, die ich einem gefallenen Ork abgenommen hatte, schlug ich einen Baum, der mich über den Fluss trug. Die Strömung spülte mich an das Ufer dieser Insel – aber in deren Geisternebel wollte mir dann niemand mehr folgen …«
»Rhomroor trug ein Amulett, von dem ich wusste, dass es von Lirandil stammte«, erklärte Ferach. »So wussten wir, dass wir ihm vertrauen können und er die Wahrheit sprach …«
Rhomroor holte das Amulett unter seinem schlammverschmierten Gewand hervor, sodass es nun über dem zerbrochenen Harnisch hing. Es zeigte einige ineinander verschnörkelte Elbenrunen. Seinem Stirnrunzeln nach schien selbst Whuon, der sich ja alle Mühe gegeben hatte, die Schrift der Elben zu erlernen, die einzelnen Runen dieser besonderen Ligatur nicht auseinanderhalten, geschweige denn ihre Bedeutung erkennen zu können.
»Diese Elbenschüler waren sehr freundlich zu mir«, sagte Rhomroor. Er wandte sich an Lirandil. »Und ihr Anführer behauptete, in geistiger Verbindung mit Euch zu stehen.«
»Ihr wärt nicht hier, wenn Euer Elbenfreund sich nicht durch einen eindeutigen Gedanken für Euch verbürgt hätte, Ork«, meldete sich nun eine andere Elbenoidin zu Wort. Arvan war schon zuvor aufgefallen, wie ähnlich diese Frau Lesene sah. Sie sah wie ihr älteres Ebenbild aus, und daher war anzunehmen, dass sie ihre Mutter und Osgeions Frau war.
Allerdings war nicht zu übersehen gewesen, dass sie Arvan und seinen Gefährten gegenüber sehr reserviert zu sein schien. Dass sie sich weder vorgestellt hatte noch den Besuchern mit irgendeinem Wort begegnet war, hatte Arvan zunächst für Bescheidenheit gehalten. Aber vielleicht war es auch unterschwellige Feindseligkeit. Etwas, das man bei den sanftmütigen Elbenoiden nicht auf den ersten Blick vermutete.
»Meine Schwiegertochter Rasene«, stellte Ferach sie vor.
»Dass wir diesen Ork bei uns aufgenommen haben, war unser erster großer Fehler«, behauptete Rasene in einem Tonfall, der eisig klang. »Denn dadurch haben wir etwas getan, was wir nicht wollten: uns in den Krieg eingemischt, der zurzeit Athranor erschüttert. Und jetzt tun wir es wieder.«
»Rasene!«, versuchte Osgeion ihren Redefluss zu stoppen. Aber das schien unmöglich zu sein. Zu vieles schien sich da aufgestaut zu haben, von dem Rasene das Gefühl hatte, dass es aller Höflichkeit gegenüber den Gästen zum Trotz einfach ausgesprochen werden musste.
»Ich war dagegen, dem Ork zu helfen. Und ich war auch dagegen, dass wir uns ausgerechnet jetzt von Lirandil und seinen Begleitern besuchen lassen.« Sie wandte den Blick in Richtung ihres Mannes. »Und ich bin dagegen, dass du diese Leute über das Elbische Meer zur Küste der Orkländer segelst!«
»Rasene! Nicht hier und jetzt!«, erwiderte Osgeion.
»Darüber sind Beschlüsse gefasst worden«, griff nun Ferach ein. »Und die waren eindeutig. Wir haben das Für und Wider ausführlich erörtert und werden es jetzt in diesem Kreis nicht noch einmal tun!«
»Dieser Elb, der seit Jahrhunderten ein Kriegsbündnis zu schmieden versucht, nutzt uns doch nur für seine Zwecke aus. Genauso wie der Ork, der ja mal in seiner Heimat ein großer Anführer war und es wohl nicht erträgt, dass die Orks heute von einem anderen geführt werden«, ereiferte sich Rasene. »Wir werden zu einem Teil ihrer Pläne, ohne dass es gleich zu bemerken war. Offenbar ist die geistige Verbindung zwischen dem Vorsitzenden unseres Ältestenrates und Lirandil schon völlig ausreichend, um unsere Gemeinschaft in einer Weise zu manipulieren, wie es den Grundsätzen des wahren Elbenschülertums widerspricht.« Sie atmetet tief durch, und ihr Gesichtsausdruck drückte jetzt eine Entschlossenheit und einen Widerspruchsgeist aus, der so sehr im Gegensatz zu ihrer ansonsten nach außen hin gezeigten Sanftmut stand, dass Arvan sie nur vollkommen perplex ansah.
Rasene wandte jetzt den Blick in Arvans Richtung und fuhr fort: »Und zu allem Überfluss schmachtet meine Tochter einen in ganz Athranor bekannten Schlächter an, dass man nicht mehr zusehen mag.«
»Wie ich schon einmal sagte, die Beschlüsse sind gefasst, und wahre Elbenschüler sind nicht nur friedfertig, sondern sie stehen auch zu ihrem Wort«, erklärte Ferach nun ziemlich ärgerlich.
»Ich weiß, dass an den Beschlüssen wohl nichts mehr geändert werden wird. Und mir ist auch klar, dass sich mein Mann nicht davon abhalten lassen wird, die Gefahren auf sich zu nehmen, die eine Reise zur Küste der Orks in jedem Fall mit sich bringen wird. Aber es muss mir ja nicht unbedingt gefallen, und wenn jemand erwartet, dass ich meine Meinung für mich behalte, dann kennt er mich nicht.«
Rasene erhob sich von ihrem Platz. »Wir Elbenschüler haben seit undenklich langer Zeit keinen Krieg mehr geführt und uns auch in keinen eingemischt. Aber genau das ist nun geschehen, und ich fürchte, für eine der beiden Seiten werden wir jetzt ein Feind sein.« Damit verließ sie den Raum. Osgeion eilte ihr nach und kehrte lange Zeit nicht zurück. An der Tafel war die Gesprächsatmosphäre nicht mehr wie vorher. Und Arvan stellte fest, dass sogar Lesene seinen Blicken jetzt überwiegend auswich.
In aller Frühe brachen die Gefährten am Morgen auf. »Wir müssen zu einer Anfurt, die ein Stück nördlich von hier liegt«, erklärte Osgeion. »Dort liegt ein Schiff, das groß genug ist, um damit bis zur Küste des Ost-Orkreichs zu segeln«, erklärte der Elbenschüler.
Einige Elbenoiden hatte sich versammelt, um Arvan und seine Gefährten zu verabschieden – darunter auch Ferach und Osgeions Frau Rasene mit ihrer Tochter. Rasene allerdings verabschiedete nur ihren Mann und würdigte die Gefährten keines Blickes.
Und natürlich hatte sich auch Nomran-Kar eingefunden.
»Richtet Eurem König aus, dass wir unser Bestes tun werden«, wandte sich Lirandil an den Libellenreiter, bevor sie losgingen.
Nach ein paar Dutzend Schritten, kurz bevor der auf der Insel allgegenwärtige Nebel sie vollkommen einhüllte, drehte Arvan sich noch einmal um. Lesene sah ihm nach. Sie winkte ihm verhalten zu. Aber ihr Gesicht wirkte sehr ernst und nachdenklich.
»Du wirst sie sowieso nie wiedersehen, Arvan«, meinte Zalea.
»Wieso nicht?«
»Weil ich wette, dass ihre Mutter ihre ganze Friedfertigkeit vergessen wird, wenn du noch einmal einen Fuß auf diese Insel setzen solltest. Und in dem Fall können dir weder dein Beschützer noch dieser Elbenstab helfen, fürchte ich.«
Osgeion führte sie zu einer Bucht, in der ein Schiff vor Anker lag, das erheblich größer war als die Barkasse, mit der er Arvan und seine Gefährten über den Fluss gesetzt hatte. In seiner schlanken, grazilen Bauweise erinnerte es an die Schiffe der Elben. Irgendwie sieht es aus, als wäre es nie ganz fertig geworden, kam es Arvan unwillkürlich in den Sinn. All die kleinen Verzierungen, die er bei den Schiffen im Elbenfjord bemerkt hatte, fehlten hier.
»Das ist die Nebelbringer«, erklärte Osgeion. »Sie ist mit einem Zauber versehen, der sie während der Fahrt mit Nebel umhüllt und auf die Weise vor den Blicken anderer verbirgt.«
»Dann wollen wir hoffen, dass das auch gegen den Blick des Schattenvogels wirkt«, meinte Whuon zweifelnd.
»Wir sollten nicht zu viel erwarten«, raunte ihm Brogandas zu. »Das ist Elbenmagie in ihrer primitivsten Form … Aber doch besser als nichts, würde ich sagen.«
Ein Dutzend Mann gehörten zur Besatzung der Nebelbringer. Sie hatten das Schiff bereits zum Auslaufen klargemacht. Während die anderen bereits in das Beiboot stiegen, das sie an Bord der Nebelbringer übersetzen sollte, wandte sich Lirandil an Arvan. Er fasste ihn bei den Schultern. Die Augen des Elben leuchteten blau auf – so stark, dass Arvan sich im ersten Moment geblendet fühlte.
»Die Schiffe der Elbenoiden sind schnell, das weiß ich aus eigener Erfahrung. Wir werden unser Ziel also bald erreichen, Arvan. Und bevor es so weit ist, werde ich noch einiges von dem Wissen auf dich übertragen müssen, das mir in Asanils Turm zuteilgeworden ist.«
»Was meint Ihr genau damit?«, fragte Arvan stirnrunzelnd.
Zalea wartete in einiger Entfernung und blickte zurück. Ihr schien es aus irgendeinem Grund nicht zu behagen, dass Lirandil Arvan zur Seite genommen hatte.
»Ich werde während der Seereise, die wir vor uns haben, noch einmal eine Verschmelzung des Geistes mit dir vornehmen.«
»So wie … damals, als ich so schwer verletzt war, dass mir selbst meine besondere Heilkraft nichts mehr genutzt hätte?«
»Das ist selbst nach den Maßstäben deines Volkes noch nicht besonders lange her, Arvan.«
»Mag sein. Aber was soll das für ein Wissen sein? Wie man mit dem Elbenstab umgeht, weiß ich doch. Schließlich habe ich ihn schon einmal benutzt.«
»Leider …«, nickte Lirandil. »Aber die Diskussion, ob du eine andere Wahl gehabt hättest, um die Vogelreiter zu bekämpfen, will ich jetzt nicht noch mal aufgreifen.«
»Worum geht es denn dann?«
»Weder um den Elbenstab noch um dich oder deine Fähigkeiten. Es geht um denjenigen, der dir schlussendlich als Gegner gegenüberstehen wird, wenn alles so verläuft, wie ich es vorgesehen habe.«
Arvan schluckte.
»Ghool?«
»Ja. Du musst über ihn Bescheid wissen, um ihn besiegen zu können. Aber dieses Wissen ist gefährlich – noch gefährlicher als die Kräfte des Elbenstabs …«
Arvan zuckte mit den Schultern. »Ihr wisst doch, dass ich mich nicht fürchte, werter Lirandil.«
Lirandil betrachtete Arvan nachdenklich. »Vielleicht wäre es gar nicht so schlecht, wenn du das tätest, Arvan – dich fürchten. Wenigstens dieses Mal.«
Wenig später glitt die Nebelbringer den südlichen Arm des Flussdeltas entlang. Ein sanfter Wind bewegte das Segel, ohne es richtig zu blähen. Und tatsächlich blieb das Schiff stets von Nebel eingehüllt, selbst dann, wenn es sich mal etwas weiter vom Ufer der Flussinsel Colintia entfernte.
»Wie könnt Ihr überhaupt Euer Ziel finden, wenn das Schiff von Nebel umhüllt ist?«, hörte Arvan Borro einen der Elbenoiden fragen, die zur Besatzung gehörten.
»Welchen Nebel?«, fragte der Angesprochene, um dann im nächsten Moment fortzufahren: »Ach, du meinst diese Illusionsmagie, die unser Schiff schützen soll …«
»Na ja, jedenfalls kann man nicht hindurchsehen, geschweige denn nach dem Stand der Sonne oder der Sterne oder irgendwelchen anderen Zeichen navigieren.«
»Es ist eine Illusion«, sagte der Elbenoide. »Mit etwas Übung kannst du hindurchsehen.« Er tickte gegen seine Schläfe. »Eine Sache der geistigen Sammlung, verstehst du? Und was die Navigation betrifft, so sind uns Sonne und Sterne sowieso viel zu unsicher … Wir orientieren uns an den Strömungen des Meeres, die jeder sehen kann, der auf das Wasser schaut.«
Borro sah auf das Wasser und kratzte sich an den roten Haaren. »Na ja, jeder sieht eben etwas anderes«, meinte er. »Hauptsache, wir kommen auch dort an, wo wir hinwollen!«