Der neue Hochkönig
Der Audienzsaal des Statthalters von Gaa war vollkommen überfüllt. Die Könige von gleich mehreren Reichen hielten hier Hof, wo normalerweise lediglich ein Provinzstatthalter über Händler, Bauern und Fischer aus der Umgebung zu Gericht saß.
Auf einem hölzernen Podest war für sämtliche gekrönten Häupter je ein Thron aufgestellt worden, gefertigt aus dem Holz der Riesenbäume des Halblingwaldes. Ob es nun an einer diplomatischen Übereinkunft der Könige untereinander oder nur an einem Mangel an handwerklicher Fantasie lag, dass all diese Stühle gleich groß und von gleicher Erhabenheit in der Ausstattung waren, wusste nicht einmal Lirandil.
In der Mitte hatte König Orfon von Bagorien Platz genommen, ein ernst dreinblickender Mann mit dunkelgrauem Bart und von kräftiger Gestalt. Zu seiner Rechten saß der sehr viel jüngere König Candric XIII. von Beiderland in messingfarbenem Harnisch und mit der Hand am reich verzierten Schwertgriff. Zu König Orfons Linker hatte der Waldkönig Haraban Platz genommen, dessen durch einen Zauber veränderter, holzig wirkender, von einer rindenähnlichen Haut überzogener Körper so manchen im Saal bei seinem Anblick schaudern ließ. Er erschien kaum noch wie ein Mensch, und die lange Regierungszeit von mittlerweile mehr als einem Jahrtausend hatte ihn innerlich wohl von all seinen Untertanen sehr entfernt, gleichgültig, ob Menschen, Halblinge oder andere Geschöpfe, die innerhalb der Grenzen seines Reiches lebten.
Candric und Haraban – die mächtigsten Herrscher Athranors!, ging es Lirandil durch den Kopf. Dass man König Orfon genau zwischen diesen beiden platziert hat, kann wohl nur bedeuten, dass man sich auf den König von Bagorien als Nachfolger des Hochkönigs geeinigt hat.
Während Lirandil die Ernennung des Vorgängers mit herbeigeführt hatte, war diesmal mehr oder minder verhindert worden, dass der elbische Fährtensucher Einfluss nehmen konnte. Lirandil hatte das durchaus bemerkt. Und tatsächlich sprach zumindest aus Sicht der anderen Könige einiges für Orfon. Er ist schon älter, und die meisten seiner Soldaten sind noch weit entfernt von hier, wusste Lirandil. Es vertagt das alte Problem: Candric von Beiderland erscheint den anderen zu mächtig, um ihn an die Spitze zu heben, Haraban zu wenig menschlich. Und man will sich einigen, bevor der König des Dalanorischen Reiches eintrifft, denn es ist sicher leichter, zu einer Einigung zu gelangen, solange der sich nur durch einen Gesandten vertreten lassen kann …
Für den König des Dalanorischen Reiches hatte man aus Respekt einen leeren Thron aufgestellt, um zu demonstrieren, dass auch er in die Entscheidungsfindung einbezogen war.
Ganz außen hatte Kalamtar von Condenna Platz genommen, ein dunkelhaariger Mann mit dünnem Bart und hellblauen Augen. Seine noch immer dunkle Haarfarbe täuschte etwas über sein Alter hinweg. Er war Mitte fünfzig und der Truchsess des in der Schlacht auf der Anhöhe der drei Länder gefallenen Hochkönigs Nergon von Ambalor. Dessen Sohn und Thronfolger war noch minderjährig, sodass die Regierungsgeschäfte und vor allem der Befehl über das ambalorische Heer von Truchsess Kalamtar wahrgenommen wurden. Dass der Nachfolger des Hochkönigs ebenfalls aus Ambalor stammte, war daher so gut wie ausgeschlossen. Es war schlicht unvorstellbar, dass man einen Säugling zum Hochkönig wählte – und ein Truchsess ohne eigenes königliches Geblüt kam schon gar nicht in Frage.
Auf einem weiteren Thron saß der weit über neunzigjährige Dolgan Jharad, seit Langem Ältermann des Admiralsrates von Carabor und seit Kurzem sogar Hochadmiral der freien Seestadt. Vor ein paar Tagen war er eingetroffen, und auch wenn der Großteil der caraboreanischen Flotte bei einem Orküberfall auf den Hafen verbrannt war, blieb die größte Stadt Athranors ein wichtiger Machtfaktor. Schließlich lebten in ihren Mauern mehr Menschen als in manch einem ausgedehnten Königreich, und die nach und nach von fernen Küsten zurückkehrenden Schiffe würden schon in Kürze wieder eine Flotte bilden, die größer und kampfstärker war als alle anderen Flotten des Kontinents. Dass der amtierende Hochadmiral von Carabor wie ein König neben andere Könige gesetzt wurde, war ein deutliches diplomatisches Zeichen für die Bedeutung, die die Stadt für das Bündnis einnahm. Umgekehrt war es aber auch ein Zeichen des Entgegenkommens, dass der Hochadmiral überhaupt bereit war, einen Hochkönig mitzuwählen und sich ihm formal zu unterstellen, denn streng genommen verstieß er damit gegen die Gesetze seiner Stadt, die es dem Admiralsrat verboten, jemals die Herrschaft eines gekrönten Hauptes anzuerkennen. Und wahrscheinlich konnte dies ohnehin nur ein 94-jähriger Mann vom Schlage eines Dolgan Jharad zu Hause vor dem Rat rechtfertigen und durchsetzen. Er kann immer sagen, dass es seinem Alter geschuldet ist, dass er dort unter Königen auf einem Thron sitzt, dachte Lirandil. Obwohl er in Carabor jede Versammlung des Admiralsrates stehend überstehen muss … Und vermutlich wird er argumentieren, dass er den Hochkönig zwar mitgewählt, ihm aber nicht gehuldigt oder ihm die Treue geschworen hat – womit er den Einfluss der Caraboreaner so wirksam wie möglich ausgenutzt hätte. Ein listiger Diplomat …
Prinz Eandorn nahm ganz bewusst an der Ausrufung des neuen Hochkönigs nicht teil. Wenn die Kunde an den Hof von König Péandir gedrungen wäre, dass Prinz Eandorn sich in irgendeiner Form an der Wahl eines Hochkönigs beteiligt hätte, so hätte dies am Hof des Elbenkönigs für arge Verstimmung gesorgt und alle Versuche, die Elben auch weiterhin im Bündnis zu halten, sehr erschwert. Natürlich wäre es für die stolze Elbenheit unvorstellbar gewesen, auch nur den geringsten Anschein zu erwecken, dass man sich einem Hochkönig aus dem kurzlebigen und vergleichsweise primitiven Menschenvolk unterwarf.
So hatte Prinz Eandorn sich in Zurückhaltung geübt und auch nicht den Hauch eines Anscheins dafür geboten, dass jemand hätte annehmen können, der Thronfolger des Elbenreichs sei im Namen seines Vaters irgendwelche Verpflichtungen eingegangen.
Unter den einfachen Gästen entdeckte Lirandil neben dem Statthalter von Gaanien auch Rhelmi von Thomra-Dun, den Botschafter von Zwergenkönig Grabaldin, in dessen Reich man sich wohl auch noch nicht entschieden hatte, auf welche Seite man sich in diesem Krieg nun endgültig stellen sollte. Wahrscheinlich glaubte man in König Grabaldins versunkenem, seit einer großen Flutkatastrophe bis auf wenige Inseln unterhalb des Meeresbodens gelegenem Reich, dass man weit genug vom Kampfgeschehen entfernt war, als dass man schon allzu bald von Ghools sich ausbreitender Macht hätte betroffen sein können.
Rhelmi unterhielt sich gerade mit einem knollennasigen, grobschlächtig wirkenden Troll, dem die Bartstoppeln bis fast unter die Augen wuchsen. Darunter schimmerte steingraue Gesichtsfarbe hervor. Lirandil hatte davon gehört, dass ein Botschafter aus Trollheim in Gaa angekommen war, ebenso wie ein Gesandter der Magier von Thuvasien. Dieser stand etwas abseits und war sofort an den buschigen, schräg gestellten Augenbrauen und der keilförmigen Stirnfalte zu erkennen, die man in den Menschenreichen auch als Magierfalte bezeichnete. Während Lirandil mit dem Gesandten aus Thuvasien in den vergangenen Tagen bereits gesprochen hatte, hatte sich der Troll sowohl von Lirandil als auch von Prinz Eandorn ferngehalten. Vielleicht war das mit Rücksicht auf die alte Feindschaft zwischen Elben und Trollen geschehen, die in lange vergangenen Zeitaltern als »Elbenfresser« verschrien gewesen waren. Aber andererseits war der Fährtensucher Lirandil auf seinen ausgedehnten Reisen oft genug nach Trollheim gekommen, um deutlich werden zu lassen, dass die Vergangenheit zumindest für ihn keine allzu große Bedeutung mehr hatte. Wir werden sie jedenfalls alle als Verbündete brauchen, ging es Lirandil durch den Kopf.
Inzwischen hatte Rhelmi von Thomra-Dun ihn erreicht.
»Es freut mich, Euch zu sehen, Lirandil«, wisperte der stämmig gebaute breitschultrige Zwerg, während ein Herold bereits damit begonnen hatte, mit der feierlichen Begrüßung der Gäste und der Aufzählung der Großtaten aller anwesenden gekrönten Häupter zu beginnen.
»Die Freude ist ganz meinerseits, aber Ihr könnt ruhig noch leiser sprechen, werter Rhelmi«, antwortete Lirandil. »Wie Ihr sicher wisst, besitzen wir Elben ein überaus feines Gehör.«
»Außer Euch dürfte es hier niemanden geben, der sich in der Zwergensprache zu unterhalten weiß – insofern wird uns ohnehin niemand verstehen.«
»Mag sein.«
»Seht Ihr den Reiter mit den ineinandergreifenden Ovalen in seinem Wappen?«
»Ein Libellenreiter«, stellte Lirandil fest. »Ich habe ihn gestern aus Norden heranschweben sehen!«
»Es ist ein offizieller Gesandter der Libellenreiterstadt, nicht einfach nur irgendein Reiter, der in den Diensten von Haraban steht! Werter Lirandil, es scheint, dass Ihr nicht mehr ganz auf dem Laufenden der diplomatischen Entwicklungen seid.«
»Ja, das scheint mir langsam auch so«, gab Lirandil stirnrunzelnd zu.
Die ineinandergreifenden Ovale im Wappen des Reiters symbolisierten die Flügel der etwa pferdegroßen Riesenlibelle, die ausschließlich in den Sümpfen zwischen den verschiedenen Verzweigungen des altvaldanischen Grenzflusses schlüpften. Nur die Bewohner der in Flussnähe gelegenen Libellenreiterstadt wussten, wie man diese Riesenlibellen aufzog und zu willigen Reittieren machte. Die Libellenreiter waren als Kundschafter und Überbringer wichtiger Botschaften hoch geschätzt und ließen sich dafür fürstlich bezahlen. Offiziell gehörte die Libellenreiterstadt zu Harabans Reich, tatsächlich regierte sich die Stadt aber seit Langem selbst, und anstatt dass sie Steuern an den Waldkönig entrichtete, erhob der Stadtrat selbst eine Steuer auf den Lohn eines jeden Libellenreiters, auch wenn er für fremde Herrscher arbeitete. Wer sie nicht entrichtete, hatte keine Aussicht mehr, ein neues Reittier erwerben zu können – auf deren Aufzucht und Ausbildung hatte man ja das Monopol.
»Ich habe gehört, dass die Libellenreiter ursprünglich darauf bestanden haben, den neuen Hochkönig mitzuwählen«, sagte Rhelmi. »Aber das hätte Haraban wohl niemals zugelassen, denn als Nächstes wären dann wohl seine eigenen Herzöge mit demselben Anliegen aufgetreten.«
»Auch wenn ich ehrlich gesagt etwas überrascht bin, so halte ich es doch für ein gutes Zeichen, dass ein Gesandter der Libellenreiterstadt den Weg hierhergefunden hat«, meinte Lirandil. »Und dasselbe gilt für die Gesandten aus Trollheim und Thuvasien. Wir werden in diesem Kampf wirklich noch jeden Bundesgenossen dringend brauchen. Und wenn man am Hof von König Grabaldin denkt, dass ihn dieser Krieg vielleicht nie betreffen wird …«
»Genau deswegen sollten wir uns unterhalten«, unterbrach ihn Rhelmi.
»So?«
»Ich habe besorgniserregende Neuigkeiten aus meiner Heimat …«
In diesem Moment erhob sich nun Haraban. Der Waldkönig schien es als sein legitimes Recht anzusehen, den neuen Hochkönig zu proklamieren, nachdem er es selbst schon nicht werden konnte. »Orfon von Bagorien wird uns in die kommenden Schlachten führen!«, verkündete er. »Niemand zweifelt an seinem Mut, und sein Geschick als Feldherr ist Legende. Überall breiten sich die Horden schier unaufhaltsam aus, die Ghool entsandt hat, um Tod und Vernichtung über Athranor zu bringen und eine Herrschaft zu errichten, die auf Gewalt und finsterster Magie beruht …«
»Als ob die eigene Herrschaft dieser grotesken Mischwesen aus Baum und Mensch auf irgendetwas anderem beruhen würde als auf Gewalt und finsterster Magie!«, raunte Rhelmi Lirandil zu.
»Ihr scheint Euch ja wirklich sehr sicher zu sein, dass hier niemand im Saal ist, der erstens ein ebenso feines Gehör hat wie ich und zweitens Eure Sprache versteht.«
»Ach, zum Teufel mit Eurer Elbendiplomatie!«
Unterdessen erhob sich nun auch Orfon von Bagorien.
Ein Soldat in bronzefarbenem Harnisch und einem Federbusch auf dem Helm brachte die Magische Lanze, die König Nergon von Ambalor getragen hatte und mit der Arvan den siebenarmigen Zarton bekämpft hatte, nachdem der Hochkönig gefallen war.
Niemand hatte die Waffe seitdem gereinigt.
Das Blut Zartons war an ihr getrocknet und teilweise in den Schaft eingezogen, der sich dunkel verfärbt hatte.
Haraban wollte die Lanze nehmen.
»Halt!«, rief nun König Candric von Beiderland und erhob sich ebenfalls. In der Kleidung eines stolzen Ritters stand er da und ließ einen angemessenen langen Zeitraum verstreichen, ehe er weitersprach. »Es war der Elb Lirandil, der die Magische Lanze über die Zeit bewahrte, seitdem sie in den Magierkriegen von Tarman von Nalonien geführt wurde. Lirandil hat sie auch Nergon von Ambalor übergeben, unserem heldenhaft in der Schlacht gefallenen Hochkönig. Er soll auch den neuen Hochkönig auf diese Weise mit dem Zeichen seiner Herrschaft versehen!«
Zustimmende Rufe erschallten im Saal.
Weder Candric noch Haraban kann – aus unterschiedlichen Gründen – Hochkönig werden, obwohl sie es beide gern würden. Aber obwohl die Entscheidung längst gefallen ist und wir uns eigentlich der Verteidigung Athranors widmen sollten, geht die Rivalität zwischen ihnen weiter, ging es Lirandil durch den Kopf. Und das Schlimmste ist: Sie machen mich jetzt zu einem Teil ihres Ränkespiels – und ich habe keine Möglichkeit, mich dem zu entziehen.
»So tretet vor, Lirandil, Fährtensucher der Elben!«, sagte Candric von Beiderland.
Es entstand eine Gasse, und Lirandil trat vor. Man reichte ihm die Lanze.
»Sicherlich ist Lirandil würdig, die Magische Lanze zu übergeben, aber sollte das nicht derjenige tun, der sie zu nutzen wusste?«, mischte sich nun Dolgan Jharad ein. Niemand hatte von dem alten Mann erwartet, dass er sich auf diese Weise einmischen würde. Er erhob sich von seinem Stuhl und sah sich um. »Ist Arvan Aradis hier im Saal? Er vergoss das Blut von Zarton, wie man überall erzählt. Er war es, der die Magische Lanze an sich nahm und damit gegen dieses Ungeheuer kämpfte. Ein Junge, der aus Carabor stammt, auch wenn er aufgrund gewisser Umstände bei den Halblingen am Langen See aufwuchs!«
Lirandil sah Dolgan Jharad an. Einen Hochkönig von Carabors Gnaden – ist das die Botschaft, die von diesem Saal ausgehen soll?, überlegte Lirandil ärgerlich, und es fiel ihm schwer zu glauben, dass ausgerechnet der eigentlich so uneitle Caraboreaner jetzt seine Stadt in den Vordergrund zu rücken versuchte.
»Man soll diesen Arvan rufen lassen!«, forderte Orfon von Bagorien.
»Arvan ist zu bescheiden, als dass ihm an höfisches Gepränge etwas läge«, sagte Lirandil. »Er hat es abgelehnt, selbst Hochkönig zu werden, obwohl viele im Überschwang der Siegesfreude genau das verlangt haben. Ihr werdet also mit mir vorliebnehmen müssen.« Der Fährtensucher umfasste die Magische Lanze mit den Händen und reichte sie Orfon. »Lang lebe der neue Hochkönig von Athranor! Und die Götter mögen auf seiner Seite sein!«
Orfon nahm die Lanze, hob sie, und ein ohrenbetäubender Jubel ertönte im Audienzsaal des Statthalters von Gaa. Aber Lirandil der Fährtensucher hatte lange genug unter den Menschen gelebt, um zu wissen, dass dieser Jubel sich in Wahrheit mit Verzweiflung mischte und nicht das ausdrückte, was die meisten im Saal wirklich dachten und fühlten.
»Überall soll es verkündet werden!«, rief Orfon. »Ich werde die Orkbrut über das Gebirge zurück in die Aschendünen treiben! Und das Blut der Dämonenkrieger wird die Erde tränken, sodass sie sich abwechselnd rot, schwarz oder grün färbt, je nachdem, welcher übel riechender Lebenssaft ihnen auch entströmen wird!«
Unter anderen Umständen hätte eine derart martialische Ansprache im Audienzsaal nur dafür gesorgt, dass die Nasen über diesen Barbarenkönig aus Bagorien gerümpft wurden, dessen halbe Armee aus Ogern bestand und der anscheinend auch deren Manieren teilweise angenommen zu haben schien. Aber in diesem Moment schienen Orfons Worte sogar dem erlesenen Publikum zu gefallen, das hier versammelt war. Und Orfon schien das zu spüren. Er fuhr fort und malte in den blutrünstigsten Farben aus, wie er die Horden Ghools zu bekämpfen gedachte.
Lirandil entfernte sich unterdessen von dem Podest der Throne. Er hatte seinen Teil getan. Und jetzt mochte man sich seinetwegen ruhig auf diese Weise Mut machen. Es würde sicher schon bald die Stunde kommen, da man diesen Mut auch unter Beweis stellen musste.
»Lirandil!«
Aus all dem immer wieder aufbrandenden Jubel hörte Lirandil heraus, dass jemand seinen Namen rief.
Rhelmi holte den Elb rasch ein.
»Gehen wir zum Ausgang«, schlug Lirandil fort. »Der Palast hat gute Ohren.«
»Ja, aber wie Ihr schon bemerkt habt, sind sie für die Sprache der Zwerge wohl weitgehend taub.«
Sie erreichten schließlich das Portal des Audienzsaals. Selbst die Wächter an der Tür waren mehr auf das konzentriert, was sich in dessen Innerem tat, als dass sie auf einen Zwerg und einen Elb geachtet hätten, die etwas miteinander zu besprechen hatten und dabei auch noch eine Sprache benutzten, die zumindest den Menschen von Athranor kaum noch bekannt war.
Rhelmi drehte sich kurz um. Dann griff er in die Tasche seines Wamses und holte einen Kristall daraus hervor. »Mithilfe dieses magischen Kristalls habe ich die Verbindung in meine Heimat aufrechterhalten und meinen König ständig über die neuesten diplomatischen Entwicklungen informiert.«
»So etwas Ähnliches habe ich erwartet«, gestand Lirandil.
»Ihr Elben lebt so lange, dass Ihr es nie nötig hattet, eine praktische Magie zu entwickeln. Oder Ihr verbannt diejenigen, die es doch tun, wie diesen bärtigen Magier, der mit seinem Himmelsschiff auf und davon flog und diesen Turm hinterließ …«
»Wir wollen uns über die unterschiedlichen Qualitäten von elbischer und zwergischer Magie heute nicht streiten«, erklärte Lirandil. »Was wolltet Ihr mir mitteilen? Vorhin klang es sehr wichtig.«
»Seht Ihr diesen Kristall?«
»Ich kann nichts Ungewöhnliches daran feststellen.«
»Er ist mit Magie aufgeladen, und er hat nicht die kleinste Unreinheit, die seine Funktion beeinträchtigen könnte!«
»Nun ja, für den verschwommenen Blick eines Zwergenauges mag diese Aussage zutreffend erscheinen.«
»Es gelingt mir nicht mehr, mit dem Zwergenhof in den Höhlen unterhalb der Insel Kergur-Dun in Verbindung zu treten.«
»Nun, auch wenn man Angehörigen des Elbenvolkes immer wieder nachsagt, dass sie in Magie bewandert wären, so trifft das auf mich nur teilweise zu. Ich habe weder eine Ausbildung zum Schamanen noch zum Magier genossen und bin auch weder dem Orden noch der Gilde beigetreten. Also kann ich Euch auch keine fachkundige Einschätzung geben. Und davon abgesehen …«
»… unterscheidet sich Zwergenmagie ja auch sehr deutlich von der Magie der Elben«, unterbrach Rhelmi den Fährtensucher. »Aber Ihr irrt! Aus den bruchstückhaften Bildern und Worten, die ich noch empfangen konnte, geht hervor, dass sich irgendeine Katastrophe ereignet hat. Und dass dieser Kristall nicht auf gewohnte Weise eine magische Verbindung nach Kergur-Dun knüpfen kann, ist nur auf eine Weise erklärlich …«
Lirandil hob die Augenbrauen. Ein Zwerg als Kundiger der magischen Künste? Ich sollte mir trotzdem wenigstens anhören, was er zu sagen hat, wies er sich selbst zurecht. Unter Umständen kann es ja aufschlussreich sein.
»Durch den Einsatz von Magie könnten solche Wirkungen erzielt werden«, behauptete Rhelmi. »Es gibt Arten von Dämonenwesen, die in der Tiefe der Erde aufsteigen. Sie sind schwer zu rufen und noch schwerer zu unterwerfen …«
»Aber Ghool ist das zuzutrauen!«
»Ihr sprecht wahr, werter Lirandil.«
»Dann befürchtet Ihr also, dass ein Angriff Ghools auf das Zwergenreich stattgefunden hat?«
»Oder gerade im Gange ist …«
»Das täte mir leid!«
»Ich bitte Euch, sprecht mit dem Hochadmiral von Carabor. Ich weiß, dass der Großteil der caraboreanischen Flotte vernichtet wurde, aber aus den zurückkehrenden Schiffen wird man eine neue Flotte bilden. Vielleicht könnten ein paar dieser Schiffe auch einmal nach Kergur-Dun segeln und nach dem Rechten sehen …«
Lirandil sah den Zwerg ziemlich überrascht an. »Ich werde sehen, was ich tun kann«, versprach Lirandil.
»Euer Ziel war es immer, die Zwergenheit dem Bündnis einzugliedern, das im Wesentlichen von Euch geschmiedet wurde, Lirandil.«
Lirandil nickte. »Das trifft allerdings zu, werter Botschafter.«
»Vielleicht war der Moment, dies zu erreichen, noch nie so günstig wie jetzt.«
Ein Ruck durchlief Lirandils Körper. Er schloss für einen Moment die Augen. Da war plötzlich ein Gedanke in ihm. Der einfache, schlichte Gedanke eines jungen, siebzehnjährigen Menschensohnes, mit dem ihn hin und wieder eine innere gedankliche Verbindung verband, seitdem er mit ihm eine kurze geistige Verschmelzung eingegangen war, um ihm das Leben zu retten.
Lirandil, ich bin zurück, lautete dieser kurz aufflackernde Gedanke, der den Fährtensucher erreichte.
Kein Mensch und kein Zwerg oder Halbling hätte eine äußerliche Veränderung an ihm wahrnehmen können. Aber für elbische Verhältnisse war das, was mit ihm nun geschah, nicht nur ein Aufatmen, sondern einen Seufzer der Erleichterung.
Man hat dich hier schon vermisst, Arvan, dachte er.
In den nächsten Tagen wurde der neue Hochkönig auf allen Plätzen der Stadt präsentiert. Die Bevölkerung drängte sich in den Straßen, und auch in der Umgebung von Gaa sprach sich die Ausrufung von Orfon von Bagorien schnell herum. Dass so viele Bewohner des Umlandes nach Gaa strömten, war allerdings nicht nur durch das Interesse am neuen Hochkönig begründet, der in seinen martialischen Reden immer wieder davon sprach, wie machtvoll das Heer der Verbündeten gegen Ghools Horde vorzugehen beabsichtigte. Viele Bewohner Gaaniens hatten wohl Furcht davor, dass auch sie bald von Überfällen und Plünderungen der Orks betroffen sein würden. Im Westen der Provinz war das schon seit Längerem der Fall, ebenso in den Gebieten, in denen das gaanische Hügelland in den Halblingwald überging. Und für manchen war Gaa nichts weiter als eine kurze Zwischenstation. Die Brücke über den Fluss war in diesen Tagen hoch frequentiert, und zwar in beide Richtungen. Während Truppen die Heerlager innerhalb der Stadt und in ihrem weiteren Umkreis auffüllten, gab es auch einen steten Strom von Gaaniern, die auf die andere Seite des Stroms in die Provinz Neuvaldanien flohen, weil sie wohl nicht daran glaubten, dass man Ghools Horde mehr als nur einen hinhaltenden Widerstand entgegensetzen konnte. Zu lange hatte sich die Proklamation des neuen Hochkönigs wohl hingezogen, um für diese Menschen noch ein Zeichen der Hoffnung sein zu können. Und zu schlimm waren die Nachrichten, die von überall her die Stadt erreichten. Viele dieser Nachrichten glichen eher bösen Gerüchten, aber die Stimmung war so, dass viele offenbar selbst die schlimmsten Gerüchte noch für untertreibende Schilderungen der wahren Lage hielten.
In all dem Trubel, die Orfons Proklamation mit sich brachte, ging es beinahe unter, dass die Tharnawn den Hafen von Gaa erreichte. Prinz Eandorns Schiff war gekommen, um den Thronfolger des Elbenreichs und sein Gefolge abzuholen und zurück an den Elbenfjord zu bringen.
Arvan und seine Gefährten verabschiedeten die Elben am Hafen. Arvans Wunden waren in der Zwischenzeit nahezu vollkommen geheilt. Zalea hatte zwar eine heilende Tinktur nach Art der Heiler des Halblingvolks aufgetragen, aber auch ihr war bewusst, dass dies allenfalls zur Linderung von Schmerzen, aber wohl kaum zur Heilung selbst beigetragen hatte. Es waren vielmehr die in Arvan schlummernden Selbstheilungskräfte, die dafür verantwortlich waren, dass er sich selbst von schwersten Verletzungen auf wundersame Weise erholte. »Du solltest aber bedenken, dass auch die Kräfte dieses Elbenzaubers, der an dir durchgeführt wurde, nicht endlos sind und dich nicht immer retten können«, hatte Arvan noch ihre Worte im Ohr. »Du solltest in Zukunft nicht mehr so große Risiken eingehen, Arvan!«
Arvan hatte darauf nur mit einem Lächeln geantwortet. Große Risiken meiden? Ausgerechnet in einer Zeit, da Athranor sich mitten in einem grausamen Krieg befand? Nein, um ein risikoloses Leben zu führen, war er wohl einfach im falschen Jahr und in der falschen Gegend geboren worden. Es erschien ihm unvorstellbar, und vor allem hatte er auch keine Ahnung, wie er das hätte anstellen sollen. Schließlich war es seinem Gefühl nach nicht er, der die Gefahr suchte, sondern die Gefahren hatten es offenbar auf ihn abgesehen, und er fand, dass er bisher das Beste daraus gemacht hatte. Die Tatsache, dass er trotz allem, was ihm seit seinem Aufbruch aus dem Halblingwald widerfahren war, immer noch lebte, sprach seiner Ansicht nach für sich.
Lirandil unterhielt sich mit Prinz Eandorn in der Elbensprache.
»Er wünscht dem Prinzen viel Erfolg bei seinen diplomatischen Bemühungen am Hof des Elbenkönigs«, übersetzte Whuon die Worte des Fährtensuchers.
»Du scheinst die Sprache der Elben ja ziemlich gut gelernt zu haben«, stellte Arvan fest.
»Ich hatte einen guten Lehrer.«
Zalea mischte sich ein. »Du suchst doch die Wahrheit der Magie, nicht wahr? Alles über die Natur zauberischer Kräfte … Und um davon mehr zu verstehen und die Schriften der Elben lesen zu können, hast du ja schließlich auch die Mühe auf dich genommen, ihre Sprache zu erlernen.«
»Das ist richtig.«
»Was ist, wenn sich herausstellen sollte, dass du darüber von Lirandil nicht mehr erfahren kannst?«
Whuon hob die Augenbrauen. Er hatte die kräftigen Arme vor der Brust verschränkt. Sein Schwert trug er auf dem Rücken.
»Was soll schon sein? Ich werde dann woanders nach der Natur dieser Kräfte suchen.«
»Und wenn dir jemand anders anbietet, dir dabei zu helfen?«
»Was soll die Fragerei?«
»Es gibt in Athranor wohl kein Geschöpf, das eine größere magische Begabung besitzt als Ghool!«, gab Zalea zu bedenken.
Whuon lachte. »Und du glaubst, dass ich deswegen gleich in seine Dienste träte, wenn er mir Versprechungen machen würde?«
»Ist das so abwegig? Schließlich wäre es ja auch nicht das erste Mal, dass du aus einem Heer desertieren würdest.«
»Das war nur deshalb, weil die Magier von Thuvasien ihre Versprechen nicht gehalten haben, mit denen man mich angeworben hatte! Bei Lirandil gehe ich davon nicht aus.«
Zalea wandte den Blick zu Arvan. »Wenn du mich fragst: Wirklich beruhigend klingt das nicht.«
Aber Arvan hörte gar nicht richtig zu. Stattdessen sah er zu dem Elbenschiff hinüber, das gerade im Begriff war abzulegen. Wenig später segelte die Tharnawn bereits mit günstigem Wind hinaus auf das Meer.
»Ich hätte Prinz Eandorn darum bitten sollen, Zoéwén meine Grüße auszurichten«, sagte er plötzlich.
»Wem bitte?«, fragte Zalea.
»Ach, ich habe nur laut gedacht.«
»Meinst du etwa diese Elbin, die du so angestarrt hast, als wir auf König Péandirs Burg waren?«
Arvan nickte. »Ja. Sie geht mir einfach nicht aus dem Kopf.«
»Arvan, ich habe dir damals schon gesagt, dass sie dich nicht mal bemerkt haben dürfte.«
»Aber schön war sie trotzdem, oder?«
»Es ist nicht zu fassen! Wie kann der größte Held Athranors so einfältig sein, dass er nicht begreift, dass …«
Arvan bemerkte ihren Zorn. Er verstand den Grund dafür nicht. Er sah sie irritiert an. »Was wolltest du noch sagen?«, fragte er, da sie nicht weitergesprochen hatte.
Sie schluckte, und ihr Gesicht war von jener dunklen Röte überzogen, die Arvan schon so manches Mal bei ihr bemerkt hatte, wenn sie wirklich ärgerlich war.
»Nichts«, sagte sie. »Gar nichts.«