Die Toten fallen

»Es ist die Erschöpfung, die den Hochkönig getötet hat«, sagte der Leibarzt des Herrschers von Bagorien, der kalt und bleich auf seinem Lager ruhte. Sein weiß gewordenes Haar umrahmte ein zufrieden wirkendes Gesicht, in dem der Tod ein stilles Lächeln hatte gefrieren lassen.

Fackeln flackerten unruhig und tauchten das Gemach des Hochkönigs in ein weiches, warmes Licht. Die Könige Athranors standen im Schatten, sodass ihre Gesichter kaum zu erkennen waren. Schon seit Tagen hatte sich König Orfon nicht mehr von seinem Lager erhoben. Ein stechender Schmerz in der Brust hatte ihn ans Bett gefesselt.

Während die Massen von überwiegend untoten Angreifern Gaa belagerten, stand das Bündnis mit einem siechenden Hochkönig da, der sich nicht mal mehr auf die Magische Lanze hätte stützen, geschweige denn sie erheben und mit ihr in den Kampf ziehen können. Jetzt umklammerte er die Lanze, dieses Symbol seines Hochkönigtums, noch im Tod.

»Orfon ist ein großer Held und hat sich Ruhm erworben«, sagte Candric von Beiderland. »Man wird ihn in einer Reihe mit den anderen Hochkönigen Athranors nennen, wenn die Geschichte unseres Kontinents einst erzählt werden wird. Er wird zusammen mit seinen viel gerühmten Vorgängern Tarmon von Nalonien und Nergon von Ambalor in der jenseitigen Welt an der Tafel der Götter seinen Platz finden.«

Zunächst herrschte Schweigen. Candric XIII. von Beiderland fühlte den kalten Blick Harabans auf sich gerichtet. Schatten bildeten ein dunkles Muster auf dem holzigen Gesicht des Waldkönigs und zeichneten die kleinen, aber tiefen Furchen in seiner borkenähnlichen Haut nach und ließen sie dadurch nur umso markanter hervortreten. Neben Haraban stand Harrgyr, König des Dalanorischen Reiches, dessen kürzlich eingetroffene Flotte dafür gesorgt hatte, dass unter den Verteidigern von Gaa neue Hoffnung aufgekommen war. Allerdings war die Anzahl der Dalanorier, die mit König Harrgyrs Schiffen eingetroffen war, lange nicht so groß wie erhofft, was wohl in erster Linie dadurch begründet war, dass ihnen nicht mehr Schiffe zur Verfügung gestanden hatten, die für eine so weite Hochseereise geeignet gewesen wären. Hochgewachsen, aufrecht und mit rotstichigem, dichtem Bart, der ihm fast bis unter die Augen wuchs, stand Harrgyr da und umfasste den rubinbesetzten Griff des Schwertes, das er an seiner Seite trug. Auch wenn er eigentlich einer der mächtigsten Herrscher Athranors war, dessen Macht der von Haraban oder Candric ebenbürtig genannt werden konnte, hatte er im Moment die wenigsten Krieger am Ort des Geschehens. Dieser Umstand nahm seinem Wort natürlich einiges an Gewicht.

Kalamtar von Condenna brach schließlich das Schweigen. »Es ist Eure Stunde, Candric von Beiderland«, erklärte der Truchsess von Ambalor. »Ihr müsst jetzt die Magische Lanze tragen, nun, da Orfon gefallen ist.«

»Wir könnten darauf warten, dass Orfons Sohn eintrifft«, schlug Haraban vor. »Es wäre eine gute Lösung, wenn er seinem Vater nachfolgen würde.« Haraban wandte sich an Kalamtar und fuhr entschuldigend fort: »Im Fall Eures Königs war dies in Ermangelung eines volljährigen Nachkommens ja leider nicht möglich.«

»Ich halte das für keine gute Lösung«, widersprach Kalamtar. »Wir brauchen den Hochkönig hier und jetzt. Schon deshalb, damit uns die bagorischen Truppen nicht einfach davonlaufen, nun, da ihr Herrscher sie nicht mehr anführt.« Der Truchsess machte einen Schritt nach vorn. Er trat an das Lager des toten Hochkönigs. Der Leibarzt sah ihn finster an, als Kalamtar nach der Lanze griff.

»Ihr wollt Hand an den toten König legen?«, entrüstete sich der Leibarzt.

»Geh zur Seite, Quacksalber«, forderte Kalamtar.

Der Leibarzt schluckte und schien es dann für besser zu halten, der Aufforderung nachzukommen. Kalamtar nahm dem Toten die Magische Lanze ab.

Er hatte etwas Schwierigkeiten damit, die Waffe aus den im Todeskrampf um den Schaft greifenden Händen zu nehmen. Welbo, der Kanzler Harabans, warf einen Blick zu seinem Herrscher, so als könnte der Halbling aus dem Stamm von Brado dem Flüchter gar nicht glauben, dass der Waldkönig eine so geschmacklose Tat überhaupt zulassen konnte.

Aber Haraban schwieg – und Welbo hätte sich niemals erdreistet, das Wort zu erheben, wenn sein Herr es nicht tat.

Haraban schien sich damit abgefunden zu haben, dass es wohl kaum eine Alternative zu Candric gab. Er selbst hätte es liebend gerne angenommen, aber aus gewissen Gründen kam er dafür nicht in Frage. Und die Herrscher der weniger mächtigen Reiche waren nacheinander in die jenseitige Welt eingegangen.

Kalamtar trat auf Haraban zu und reichte ihm die Lanze. »Wenn König Candric die Lanze aus Eurer Hand empfängt, Immerwährender Herrscher, so werdet Ihr an seinem Ruhm und an seiner Macht teilhaben«, erklärte der Truchsess.

Haraban zögerte zunächst. Dann ergriff er die Lanze. Was für ein gerissener Hund, dieser Truchsess, dachte er. Und später wird er sich von Candric dabei helfen lassen, selbst den Thron von Ambalor einzunehmen.

Der Waldkönig trat mit etwas ungelenk wirkenden Schritten auf Candric zu. »Es ist Eure Stunde, Candric von Beiderland.«

»Ich danke Euch«, nickte dieser und nahm die Magische Lanze an sich. Getrocknetes Blut klebte noch an der Spitze.

»Kanzler, ich möchte, dass aufgeschrieben wird, was hier geschehen ist«, fuhr Haraban fort.

»Sehr wohl, Immerwährender Herrscher«, beeilte sich Welbo zu bestätigen, dass er die Anordnung seines Herrn verstanden hatte.

»Niemand soll daran zweifeln, dass der neue Hochkönig meine vollkommene Unterstützung hat«, setzte Haraban noch hinzu. Es ist seine Stunde, dachte der Waldkönig dabei. Aber viel mehr als eine Stunde wird es auch nicht sein. Ich hingegen habe alle Zeit der Welt

Schon seit einer Woche griffen die Untoten an. Hatten sie sich zunächst damit begnügt, Gaa nur zu belagern, so stürmte nun Angriffswelle auf Angriffswelle gegen die Mauern der Verteidiger. Hornechsen rammten die Stadttore, Orks und Wolfskrieger versuchten mithilfe von Seilen die Mauern zu erklimmen, und große Affenkrieger schleuderten Gesteinsbrocken bis in die Stadt. Dass die Angreifer auf dem Weg zu den Wehrmauern reihenweise durch Pfeile, Armbrustbolzen und Katapultgeschosse getroffen wurden, schien sie nicht zu kümmern. Diejenigen, die nicht völlig zerfetzt wurden, standen wieder auf und marschierten weiter. Manche der untoten Orks oder Wolfskrieger waren mit Dutzenden von Pfeilen gespickt, als sie die Mauern erklommen, und selbst wenn ihnen einer der Ogersoldaten den Kopf abgeschlagen hatte, kämpften sie noch weiter – beseelt von der unheimlichen Kraft Ghools. Nur wenige schafften es, an Seilen mit Wurfhaken tatsächlich die Zinnen der Wehrmauern zu erklimmen, aber die kämpften dann, bis sie vollkommen zerhackt worden waren. Selbst ohne Kopf auf den Schultern und völlig blind ließen sie ihre Sichelschwerter und Äxte durch die Luft wirbeln und waren nur unter Verlusten vollkommen kampfunfähig zu machen. Manchmal taumelten sie dann durch einen unvorsichtigen Schritt von der Wehrmauer herunter, schlugen mit einem dumpfen Geräusch auf das Pflaster, sodass man annehmen konnte, dass sie sich sämtliche Knochen im Leib gebrochen hatten. Doch sie standen auch dann wieder auf und kämpften weiter – ohne Rücksicht auf sich oder andere. Da sie nur von einem fremden Willen beseelte Körper waren, die keinerlei eigenes Interesse verfolgten, schonten sie sich nicht. Nur für ein Ziel waren ihre Leiber von den Schlachtfeldern wiedererstanden – um zu töten.

Irgendwann fand jeder dieser Angreifer sein grausiges Ende, aber vorher versuchte er so viele Verteidiger von Gaa wie möglich zu vernichten.

Die Arme der Untoten erlahmten nicht, und deshalb waren die Verteidiger Tag und Nacht damit beschäftigt, sie abzuwehren. Kaum eine Ruhepause war ihnen gegönnt worden, obwohl so mancher bereits der vollkommenen Erschöpfung nahe war.

Eine Welle von Angreifern nach der anderen brandete gegen die Mauern der Stadt. Und auch der neue Hochkönig fand kaum einmal ein paar Stunden, um sich zu erholen. Er selbst kämpfte an vorderster Front, als das nordöstliche Stadttor durch ein Dutzend Hornechsen aufgerammt wurde und die Feinde hereindrängten. Aber die Magische Lanze schien ihre glücksbringende Kraft verloren zu haben. Über Stunden wüteten Hornechsen durch die Straßen, und untote Orks schlugen sich durch die Reihen der beiderländischen Ritter, an deren Spitze Candric den Eindringlingen entgegenzog. Klingen kreuzten sich, Speere und Pfeile bohrten sich ins Fleisch.

Candric kämpfte mit aller Verbissenheit. Ein Schlachtross lag bereits in seinem Blut, während er mit der Magischen Lanze in der einen und seinem Schwert in der anderen kämpfte.

Nur so konnte er den Verteidigern vielleicht etwas Mut machen, auch wenn er ihn selbst immer öfter zu verlassen drohte. Die Arme wurden schwer und schmerzten, und die Hiebe, die er mit einem Schwert austeilte, langsamer und weniger wuchtig.

Manchmal vermochte er nur noch unter Aufbietung letzter Kräfte den Axthieb eines Angreifers zu parieren.

Die dalanorischen Krieger aus dem Reich von König Harrgyr waren zwar eine willkommene Verstärkung, aber letztlich war ihre Zahl nicht groß genug, um die Übermacht der Angreifer auch nur annähernd auszugleichen.

Seit Längerem wartete man bereits darauf, dass die caraboreanischen Schiffe mit einem Heer von Zwergen den Langen Fjord hinaufsegelten und im Hafen von Gaa landeten. Nur noch wenige Schiffe waren in letzter Zeit in Gaa angekommen – aber deren Seeleute verbreiteten Gerüchte darüber, dass das Heer der Zwerge längst an Land gegangen sei – nur nicht in Gaa, wie der Gesandte Rhelmi es zugesagt hatte, sondern stattdessen in der Nähe von Carabor.

Noch waren das zwar Gerüchte, aber sie verbreiteten sich wie ein lähmendes Gift in den Straßen von Gaa. Unter den beiderländischen Rittern wurden sie ebenso weitererzählt wie unter den Kriegern aus Ambalor und Bagorien.

Candric hatte gerade einem Wolfsmenschen mit dem Schwert den Kopf vom Leib getrennt, der nun mit grimmig gefletschten Zähnen auf dem Boden lag. Der Wolfskrieger ließ sein Schwert kreisen. Er traf sogar die Magische Lanze und schlug dem König die Waffe so heftig aus der Hand, dass der Schaft brach. Es wirkte auf Candric wie ein Symbol für den Fluch, der zurzeit auf denjenigen zu lasten schien, die man zum Hochkönig ausgerufen hatte. Klirrend fiel die Lanzenspitze auf das Pflaster. Candric musste sich unter dem nächsten wuchtigen Hieb seines kopflosen Gegners hinwegducken. Der Stahl der Klinge, die der Wolfsmensch führte, strich dabei noch leicht über den durch einen Harnisch geschützten Rücken des Königs von Beiderland.

Candric fasste sein Schwert mit beiden Händen, bereit dazu, den Rumpf des Wolfsmenschen horizontal mit einem einzigen Hieb in zwei Hälften zu teilen, da sank der Kopflose plötzlich zu Boden und rührte sich nicht mehr.

Auch die anderen Untoten fielen mitten im Kampf zu Boden. Von einem Augenblick zum anderen war die Kraft aus ihnen gewichen, die ihnen zuvor zu scheinbarem Leben verholfen hatte. Selbst auf die Hornechsen traf das zu.

Die massigen Körper brachen unter ihrem eigenen Gewicht zusammen. Die kraftlosen Beine knickten ein, und sie blieben einfach liegen. Ein unbeschreiblicher Geruch der Fäulnis verbreitete sich. Die Veränderungen, die der Tod dem Körper jeder lebendigen Kreatur zufügte, schienen von jener Kraft, die sie zum Leben erweckt hatte, für eine Weile aufgehalten worden zu sein. Jetzt zeigten sich diese Wirkungen umso schneller. Manche der Orks und vor allem die großen Hornechsen-Kadaver faulten innerhalb von Augenblicken.

Candric griff nach der gebrochenen Lanze.

Das Zeichen seines Hochkönigtums durfte er nicht zurücklassen, so verstörend der Anblick der sich zersetzenden Kadaver auch war. Selbst die hartgesottensten Ritter, die an seiner Seite gekämpft hatten, waren bis ins Mark entsetzt. Einige rissen sich die Helme vom Kopf und rangen nach Luft, so schwer lastete ein immer unerträglich werdender Pesthauch der Verwesung über allem.

Candric senkte sein Schwert. Mit weiten Schritten ging er zu dem Tor, das die Hornechsen gerammt hatten. Es war vollkommen zerstört. Selbst das Fallgatter war nicht mehr verwendbar.

»Man hole so viele Zimmerleute, wie man in der Stadt auftreiben kann, damit das Tor geschlossen wird!«, rief Candric einem der schreckensbleichen Hauptmänner der Stadtwache zu. »Na los, worauf wartet Ihr?«

»Sehr wohl, mein Hochkönig«, antwortete der Angesprochene schließlich und setzte sich in Bewegung.

Candric schritt vor das Tor. Jäh war der Ansturm der Untotenbrut zum Erliegen gekommen. Sie sind einfach zu Boden gefallen, so als hätte die Kraft Ghools sie plötzlich verlassen, ging es dem Hochkönig schaudernd durch den Kopf.

Einige seiner Mitstreiter folgten ihm. »Mein König, seid vorsichtig!«

»Man hat mich nicht erwählt, um vorsichtig zu sein«, murmelte Candric. Ein Leichenfeld erstreckte sich vor ihm. Und hoch oben am Himmel schwebte ein Schattenvogel, der sich Richtung Osten zurückzog und wenig später hinter dem Horizont verschwand.

Außerhalb der Reichweite der Katapulte hatten sich die Reihen jener Minderheit unter den Angreifern formiert, die nicht untot waren. Orks, Wolfsmenschen und einige Affenkrieger vor allem. Über den Horizont zog ein gewaltiger Heerzug. Orks, Hornechsenreiter, gewaltige Katapulte, schwer bewaffnete Wolfskrieger und Dämonenkrieger, die auf riesenhaften Hunden ritten, lösten ihre Marschordnung auf. Sie verteilten sich einem Flussdelta gleich in verschiedene Arme und begannen damit die Reihen der Belagerer aufzufüllen. Schaudernd stand Candric da und glaubte seinen Augen nicht trauen zu können, als er die ersten Riesenskorpione über die Hügel kommen sah.

Zur gleichen Zeit beobachtete Haraban zusammen mit seinem Kanzler Welbo von einem Turm aus, was sich auf dem Schlachtfeld getan hatte. Schon zuvor hatte er mit seiner Magie gefühlt, dass eine große Veränderung vonstattenging. Aber er hatte nicht gewusst, worin sie bestand. Vielleicht hab ich es auch nur nicht glauben wollen, überlegte der Waldkönig, während er über das Leichenfeld den anrückenden Feinden entgegensah. Die Untoten haben ihre Aufgabe erfüllt, erkannte er bitter. Unsere Truppen wurden hier in Gaa gebunden. Und jetzt trifft die Verstärkung ein, und die Lebenden ersetzen die Toten!

Es musste Ghool ein ungeheuer großes Maß an Kraft gekostet haben, all diese Untoten zu beseelen, sie von den Schlachtfeldern auferstehen und gegen Gaa marschieren zu lassen. Haraban konnte nicht umhin, den Verderber des Schicksals da insgeheim zu bewundern. Von einer derartigen Machtentfaltung war der Immerwährende Herrscher noch weit entfernt. Zum ersten Mal erfasste den Waldkönig ein tiefes Schaudern. Gaa ist verloren, dachte er. Und mit dieser Stadt auch die ganze Provinz.

Dazu kam der Verrat des Hochadmirals Dolgan Jharad, der offenbar dafür gesorgt hatte, dass das Heer der Zwerge nicht nach Gaa, sondern nach Carabor gebracht worden war. Am Wahrheitsgehalt der diesbezüglichen Gerüchte konnte überhaupt kein Zweifel mehr bestehen. Haraban hatte seit Langem Gewährsleute und Spione in Carabor. Noch bevor die Gerüchte über den Verrat des Hochadmirals den Weg nach Gaa gefunden hatten, war der Waldkönig durch regelmäßige, per Brieftaube übersandte Nachrichten informiert worden. Das Wissen über den Verbleib des Zwergenheeres hatte er zunächst für sich behalten. Zu deprimierend wäre dies für die Stimmung in der Stadt gewesen. Und zudem hätte es nach Orfons Tod vielleicht dazu geführt, dass die dringend gebrauchten Bagorier und Oger die Gefolgschaft aufgekündigt hätten.

Die Ankunft von König Harrgyr und seinen Dalanoriern hatte auch bei Haraban zeitweilig die Hoffnung geweckt, dass Gaa vielleicht doch zu halten sein würde. Aber angesichts der gewaltigen Übermacht, die sich Haraban nun offenbarte, erschien dem Immerwährenden Herrscher der Kampf um die Stadt, und damit auch jener um die gesamte Provinz, verloren zu sein.

»Ich habe eine dringende Bitte, Kanzler Welbo«, wandte sich der Waldkönig an seinen Kanzler.

»Was immer es auch sei, ich werde versuchen, es zuverlässig und unverzüglich zu veranlassen«, versicherte der Halbling.

»Bereitet eine Möglichkeit der unauffälligen Abreise für mich vor.«

»Sehr wohl, Majestät.«

»Wenn wir erst damit warten, bis hier in Gaa das Chaos ausbricht, dann wird es selbst für mich sehr schwer werden, die Stadt noch rechtzeitig zu verlassen.«

Welbo runzelte die Stirn, aber als der wie ein groteskes Mischwesen aus Baum und Mensch wirkende Waldkönig seinen Kanzler mit stechenden Augen musterte, beeilte sich dieser, ihn seiner Ergebenheit zu versichern.

»Ich denke, ich habe Euch verstanden, Immerwährender Herrscher.«

Harabans Blick glitt wieder hinaus zu den sich füllenden Reihen der Feinde. Ich hätte zu gern gewusst, ob es neben der Kraftersparnis noch irgendeinen anderen Grund dafür gibt, dass Ghool offensichtlich seine Kräfte aus den Untoten zurückgezogen hat, ging es Haraban durch den Kopf. Gab es einen besonderen Grund dafür, dass der Schicksalsverderber seine Kräfte abzog? War er gezwungen, seine Kraftreserven neu auszurichten?

Aber sosehr Haraban mit seinen magischen Sinnen auch mehr darüber herauszufinden versuchte, es gelang ihm einfach nicht, Licht ins Dunkel zu bringen.

In der Nacht waren in Gaa immer wieder jene Hornsignale zu hören, die ersonnen worden waren, um ein Feuer zu melden. Die Schiffe im Hafen brannten. Allerdings betraf das vor allem die Schiffe der Dalanorier, denn andere waren kaum noch an den Anlegestellen zu finden. Orks hatte sich ein Stück flussaufwärts an Baumstämme geklammert und durch die Strömung bis zum Hafen an der Mündung treiben lassen, um den Brand zu legen. Als die Wachen sie bemerkten, war es zu spät.

Am Morgen darauf begann der Sturmangriff auf die Mauern Gaas mit einem unablässigen Beschuss durch die Katapulte.

»Ich habe damit gerechnet, dass sie bald angreifen werden«, meinte Candric, als er mit frischem Ross und hoch gerüstet zusammen mit Kalamtar von Condenna an der äußeren Verteidigungsmauer eintraf. Mit ihnen ritt auch König Harrgyr von Dalanor, der sich von dem Schrecken darüber, dass seine Schiffe in der vergangenen Nacht in Flammen aufgegangen waren, noch nicht erholt hatte. Eigentlich war geplant gewesen, dass diese Schiffe in den nächsten Tagen zurück an die ferne Küste des Dalanorischen Reiches segeln sollten, um weitere Verstärkung herbeizuschaffen. Auch wenn das viele Wochen in Anspruch genommen hätte, war es doch zumindest ein Hoffnungsschimmer gewesen.

»Ich habe viel über Euch gehört, Candric von Beiderland – aber dass Ihr hellseherische Fähigkeiten habt, war mir neu«, gab Harrgyr zurück.

Candric lächelte nachsichtig. »Es ist wegen der Riesenskorpione«, sagte er. »Als ich sie sah, wusste ich, dass unsere Feinde jetzt aufs Ganze gehen. Diese Kreaturen vertragen nämlich nur das trocken-heiße Klima im Inneren der Orkländer. Hier werden sie früher oder später eingehen – aber vorher werden sie gegen unsere Mauern anrennen und einen Teil von ihnen einreißen.«

»Wo ist übrigens unser Verbündeter Haraban? Ich habe nach seinem Kanzler geschickt, aber der war unauffindbar.«

»Er hat die Stadt verlassen«, mischte sich Kalamtar von Condenna ein. Harrgyr schien überrascht zu sein, Candric jedoch nahm diese Nachricht anscheinend mit großer Gelassenheit zur Kenntnis.

»Was sagt Ihr da?«, fragte Harrgyr entrüstet. »Ich dachte, wir kämpfen hier um die Freiheit ganz Athranors. Und der Immerwährende Herrscher macht sich klammheimlich davon?«

»Er möchte wohl, dass seine Immerwährende Herrschaft kein jähes Ende durch ein Sichelschwert der Orks erfährt«, meinte Kalamtar sarkastisch. »Und davon abgesehen ist Haraban noch nie als großer Schwertkämpfer hervorgetreten, der seine Truppen persönlich anführt.«

»Ich kann diesen Akt verachtenswerter Feigheit trotzdem kaum glauben«, stieß Harrgyr hervor.

»Unser Freund Kalamtar ist aber für gewöhnlich gut informiert«, stellte Candric fest. Er zügelte sein Ross, und die beiden anderen folgten seinem Beispiel. »Sagt, wer ist die Quelle dieser Kunde?«

»Einer meiner Vertrauensleute im Umkreis des Waldkönigs hat erfahren, dass Kanzler Welbo eine geschlossene Elefantengondel ausstatten ließ.«

»Dieser hinterhältige Halbling«, knurrte Harrgyr. »Den konnte ich vom ersten Augenblick an nicht leiden.«

»Ich nehme an, dass der Immerwährende Herrscher bereits in der Nacht, während das Feuer im Hafen wütete, über die Brücke nach Neuvaldanien gelangte und jetzt auf dem Weg zu seinen Schiffen ist, die an der Südspitze des Langen Sees vor Anker liegen und ihn sicher am schnellsten in die Sicherheit seines fernen Hofs bringen können.«

Harrgyr stieß einen wilden Fluch in dalanorischem Dialekt aus, den weder Kalamtar noch Candric verstanden. Dann fügte er grimmig hinzu: »Um diesem morschen Holzkopf von einem König den Thron zu retten, bin ich um den halben Kontinent gesegelt, und er macht sich davon wie ein Dieb! Pah! Fluch über ihn!«

»Behaltet für Euch, was Ihr jetzt wisst«, bat Kalamtar. »Sonst schadet Ihr der Moral unserer Truppen.«

Als sie das nordwestliche Tor erreichten, reckte Candric aufmunternd die Magische Lanze empor.

Die Waffe war mit einem neuen Schaft versehen worden, und Candric hielt sie mit trotzigem Stolz in die Höhe. Das Kampfgeschrei, mit dem das quittiert wurde, blieb verhalten. Jedem, der bis jetzt innerhalb der Mauern von Gaa ausgehalten hatte, musste inzwischen klar sein, dass die Chancen nicht gut standen.

Das nordwestliche Tor, das von den Hornechsen gerammt worden war, würde vermutlich auch diesmal den Schwachpunkt der Verteidiger bilden, denn es war nur notdürftig verriegelt worden. In aller Eile hatten Dutzende von Zimmerleuten versucht, es zu schließen. Ein Tor aus einer der inneren Mauerringe von Gaa war ausgebaut und hier wieder eingesetzt worden, wozu man es erst mit Sägen hatte beschneiden müssen.

Der Leichengeruch war immer noch unerträglich. Die verfaulenden Überreste der Orks und anderer Eindringlinge hatte man einfach über die äußere Stadtmauer geworfen. Die massigen Hornechsenkadaver hingegen waren dazu verwendet worden, das Tor mit einer zusätzlichen Barriere zu verstärken. Ein Knall ertönte. Eine schwarze Kugel aus dunklem Metall traf und durchdrang das Mauerwerk. Schwarzlicht sprühte hervor. Offenbar war diese Katapultmunition mit magischen Kräften zusätzlich aufgeladen worden, sodass die Zerstörungskraft noch gesteigert wurde. Steine flogen durch die Luft, trafen Wachsoldaten und ließen sie zu Boden sinken. Candrics Pferd stellte sich wiehernd auf die Hinterhand und war kaum zu bändigen, als dicht neben dem Tier einige Brocken einschlugen. Von überall her gellten Schreie. Kurz darauf traf ein weiteres, gleichartiges Katapultgeschoss das Dach eines Gebäudes, das über die äußeren Mauern hinausragte.

Es würde nur noch eine Frage der Zeit sein, bis der Beschuss so große Löcher in die Mauern gerissen hatte, dass massenweise Orks und Wolfskrieger ins Innere der Stadt eindringen konnten. Mit Mühe gelang es dem Hochkönig, wieder die Herrschaft über sein Pferd zu erlangen, während es in einiger Entfernung einen Volltreffer in das Mauerwerk gab. Wieder sprühte Schwarzlicht empor. Ein ganzes Stück der Brustwehr stürzte mitsamt zwei Dutzend Söldnern aus Harabans Heer, einem Springald sowie einem zur Bedienungsmannschaft des Katapults gehörenden Waldriesen in die Tiefe.

Bis zum Mittag dauerte der ununterbrochene Beschuss an. Die Katapulte der Angreifer wurden unermüdlich nachgeladen und gespannt. Am frühen Nachmittag begann der Sturm. Die zu wandelnden Festungen gewordenen Riesenskorpione mit ihren Brustwehren aus Skorpiondung bildeten die Vorhut. In ihrem Schutz folgten Abertausende von Orks. Sie ritten entweder zu zweit oder zu dritt auf dem Rücken von Hornechsen oder liefen zu Fuß. Wolfskrieger und die auf riesigen Reithunden dahinschnellenden Dämonenkrieger bildeten eine kleine Minderheit unter dieser ersten Angriffswelle.

Soweit die Katapulte hinter den Zinnen von Gaa noch einsatzfähig waren, wurde versucht, die Flut der Angreifer zu dezimieren. Aufzuhalten war sie nicht. Schon drängten die ersten Orks in die Stadt. Auf ihren Hornechsen trampelten sie die Verteidiger einfach nieder. Riesenskorpione drängten sich durch die vom Katapultbeschuss in die Mauern gerissenen Löcher und vergrößerten sie noch. Weitere Mauerteile wurden durch die gewaltigen Geschöpfe zum Einsturz gebracht.

Candric zog sich zusammen mit Kalamtar und Harrgyr rechtzeitig zurück. Das Schwert des dalanorischen Königs troff nur so von Orkblut. Die Wut der Verzweiflung schien ihm zusätzliche Kräfte zu verleihen und ihn tollkühn zu machen. Aber auch ihm musste bald klar werden, dass dies ein Krieg war, der sich mit keinem anderen vergleichen ließ, den die Geschichte des Kontinents bisher gesehen hatte.

»Zurück!«, rief Candric seinen Männern zu. »Zieht euch zurück!«

Der äußere Mauerring von Gaa war schlicht und ergreifend gegen die gewaltige Übermacht nicht zu halten. Die Ordnung unter den Verteidigern hatte sich längst aufgelöst, als die ersten Riesenskorpione in die Stadt eindrangen. Orks sprangen von den gewaltigen Geschöpfen herab und machten Jagd auf die letzten Ogerkrieger, die noch hinhaltenden Widerstand leisteten.

Überall begannen Rauchfahnen über der Stadt aufzusteigen. Todesschreie mischten sich mit den triumphierenden Kriegsrufen der Orks und den dröhnenden Rufen der Hornechsen.

Candric zügelte sein Pferd und drehte sich im Sattel um, bevor er das Tor zur Burg des Statthalters passierte. Ein Riesenskorpion rammte seinen Stachel in einen der Türme, auf dem sich ein Katapult befand. Noch schossen Armbrustschützen von oben auf die Orks auf dem Rücken der gewaltigen Kreatur. Fast die Hälfte von ihnen sank innerhalb von Augenblicken getroffen zu Boden, aber dann stieß der Riesenskorpion ein zweites Mal zu. Der Turm verlor seine Stabilität. Er brach zusammen. Katapult und Steine fielen herab. Manche Orks wurden durch herabfallende Söldner aus Harabans Heer erschlagen.

»Worauf wartet Ihr?«, rief Kalamtar von Condenna, der zusammen mit Harrgyr das Tor schon passiert hatte.

Ein Fußsoldat aus Ambalor, der ebenfalls versuchte, sich in die Burg des Statthalters zu retten, wurde durch ein Wurfbeil getroffen. Es steckte nun im Hinterkopf des Ambaloriers, dem sein Helm wohl schon zuvor im Kampf abhandengekommen war.

Gaa ist verloren, durchfuhr es Candric. Und noch viel mehr

Er wollte gerade dem Pferd die Sporen geben, um sich hinter dem Burgtor zumindest vorläufig in Sicherheit zu bringen, als ein dröhnendes Brüllen ihn noch einmal herumfahren ließ.

Einer der dämonischen Hundereiter schnellte unter dem Riesenskorpion hindurch, unter dessen gewaltigem Körper einige Wolfskrieger mit ein paar eingekreisten Bagoriern kämpften.

Der Hund, auf dem das Dämonenwesen ritt, war größer als selbst das stämmigste Kaltblutpferd, das Candric je gesehen hatte. Geifer troff von den Lefzen des zähnefletschenden Ungeheuers. Der Reiter auf seinem Rücken war langgliederig und schmal. Sein Kopf glich einer tierhaften Fratze. Die Augen leuchteten. Vier anscheinend in jede Richtung biegsame Arme, die keinerlei Gelenke zu haben schienen, wuchsen aus seinem Körper – drei rechts, einer links. Letzterer trug einen Schild, die drei anderen jeweils ein Schwert, einen Speer und eine Streitaxt.

Candric schleuderte die Magische Lanze auf den Dämonenkrieger. Die Lanze durchbohrte seine Brust und ragte eine Elle weit aus dem Rücken heraus.

Der Dämonenkrieger stieß einen ohrenbetäubenden Schrei aus, während schwarzes Blut aus der Wunde und aus seinem Mund herausspritzte.

Candric riss sein Ross herum und preschte durch das Tor.

Mit letzter Kraft schleuderte der im Sattel seines Riesenhundes schwankende Dämonenkrieger noch den Speer, während gleichzeitig Dutzende von Armbrustbolzen und Pfeilen die Kreatur durchbohrten. Der balkendicke Pfeil eines Springalds fegte ihn nur einen Augenblick später förmlich aus dem Sattel und zerriss ihn.

Aber der Speer des Dämonenkriegers hatte ebenfalls getroffen. Er steckte Candric von Beiderland im Rücken und fiel nun von ihm ab. Die Wucht, mit der der Dämonenkrieger die Waffe geschleudert hatte, war groß genug gewesen, dass die Spitze das Metall von des Königs Harnisch durchdringen konnte. Candric wurde nach vorn gerissen, hielt sich notdürftig an seinem Sattelknauf fest, während er in den Burghof preschte. Der Speer des Dämonenkriegers lag auf dem Pflaster. Die Metallspitze war blutig.

Das Fallgatter wurde unterdessen herabgelassen. Der Reithund prallte regelrecht gegen das Gitter aus Gusseisen. Er knurrte und bleckte die Zähne. Mit ungeheurer Kraft drückte er gegen das Fallgatter. Armbrustschützen eilten herbei. Es waren Männer aus Harabans Söldnerarmee. Sie näherten sich dem Fallgatter, dessen Halterungen unter dem Druck der geifernden Kreatur schon beinahe aus den Halterungen zu brechen drohten, um hindurchschießen zu können. Zwei Dutzend Armbrustbolzen trafen innerhalb weniger Augenblicke das Geschöpf hinter den Gitterstäben, dessen Blut so weit spritzte, dass keiner der Armbrustschützen davon unbefleckt blieb. Die Bestie war allerdings äußerst schwer zu töten und erst, nachdem das erste halbe Dutzend Schützen die Armbrust noch einmal nachgeladen und erneut gespannt hatte und die Waffe ein zweites Mal ihre todbringende Ladung abgefeuert hatte, gab es keinen Laut mehr von sich.

»Candric, was ist mit Euch?«, rief inzwischen Kalamtar von Condenna besorgt.

Er stieg vom Pferd, um Candric zu stützen, denn der Hochkönig drohte aus dem Sattel zu rutschen.

»Es … es ist aus …«, murmelte der Hochkönig, während bereits einige Männer herbeieilten, um ihn aus dem Sattel zu hieven. Als man ihn davontrug, war der Hochkönig schon nicht mehr bei Bewusstsein.