Die Magie des Turms

»Warum habt Ihr darauf verzichtet, seinen Willen zu brechen?«, fragte Brogandas, während die Gruppe das letzte Stück zum Turm zurücklegte.

»Ich spare mir meine Kräfte lieber auf«, erwiderte Lirandil. Der Elb blieb stehen. Die Pferde scheuten nun alle im selben Moment.

»Lasst sie los!«, rief Lirandil. »Sie werden nicht fortlaufen, dazu ist ihr Wille zu schwach. Aber die Magie ängstigt sie zu sehr.«

»Hauptsache, wir müssen sie nicht hinterher wieder mühsam einfangen«, meinte Borro, nachdem er die Zügel seines Pferdes losgelassen hatte. Doch das Tier beruhigte sich sofort. Es blieb zurück, rührte sich kaum noch und schnaubte nur kurz einmal. Eine geheimnisvolle Kraft schien es zu bannen.

Arvan spürte, dass er den Einfluss auf den Willen seines Tieres mit dieser Kraft teilen musste.

»Ich sehe, Ihr braucht Hilfe, Seldos von Thuburg«, rief Lirandil dem an der Wand hängenden Magier entgegen. Dessen Gesicht verzerrte sich vor Zorn. Gleichzeitig wurde das magische Leuchten des Turms greller und strahlte für einen Augenblick sogar durch ihn hindurch, sodass die Schatten seiner Knochen sichtbar wurden.

»Du musst Lirandil der Fährtensucher sein«, krächzte dann die Stimme des Magiers.

»Das ist richtig. Ich war ein Freund desjenigen, der den Turm errichtete. Aber was habt Ihr hier zu suchen?«

»Helft mir, Lirandil!«, rief Seldos.

»Dann sagt mir genau, was geschehen ist.«

»Nun, das seht Ihr doch! Die Wächter waren leicht zu beeinflussen, deswegen haben die mich gar nicht bemerkt, als ich mich dem Turm näherte. Aber die Magie in ihm … Sie ist so stark, dass ich nicht gegen sie ankomme.«

»Und da erwartet Ihr Hilfe von einem Elben, wo es doch allgemein bekannt ist, dass die Magie der Elben immer schwächer wird?«, fragte Lirandil. »Noch dazu von einem Elben, der keinerlei Ausbildung als Magier oder Schamane genossen hat und nur über das Maß an Magie verfügt, das nahezu allen Elben eigen ist?«

»Ihr könnt mir glauben, es ist nicht sehr angenehm, hier zu hängen, Lirandil! Also wäre ich Euch sehr dankbar, wenn Ihr mir rasch helfen würdet.«

»Wahrscheinlich erwartet Euch danach ein Kerker in Asanilon, denn Ihr habt gegen die Gesetze der Stadt verstoßen.«

»Daraus könnte ich mich schon selbst befreien.«

»Seid Euch da mal nicht zu sicher«, warnte Lirandil. »Genauso wenig wie Ihr Euch sicher sein könnt, dass ich bereit wäre, einem Dieb zu helfen. Denn nichts anderes seid Ihr doch letztlich!«

Der Magier stieß ein paar Worte auf Thuvasisch aus. Seine keilförmige Magierfalte begann dabei dunkelrot zu glühen. Aber was immer er auch für eine Formel anzuwenden versuchte, sie funktionierte nicht auf die gewünschte Weise. Stattdessen nahm das Leuchten des Turms um ihn herum wieder zu. Und für einige Augenblicke wurde seine Gestalt so grell überstrahlt, dass man ihn überhaupt nicht mehr sehen konnte. Arvan und die Halblinge schützten ihre Augen mit den Armen, Whuon wandte den Kopf zur Seite, und die zurückgelassenen Pferde senkten schnaubend die Köpfe. Selbst die Soldaten, die zur Bewachung des den Turm umgebenden Steinkreises abgestellt worden waren, schützten ihre Augen. Und auf dem sich anschließenden Marktplatz erhoben sich aufgeregte Stimmen.

»Mir scheint, Ihr solltet Eure magischen Anstrengungen besser sein lassen, denn Ihr erregt damit nur mehr Aufmerksamkeit, als uns allen lieb sein kann, werter Seldos«, erklärte Lirandil, nachdem das Leuchten wieder zurückgegangen war. »Und davon abgesehen solltet Ihr inzwischen auch erkannt haben, dass die Kräfte, die Euch binden, Euch nur umso stärker festhalten, je mehr Ihr Euch gegen sie wehrt.«

Der Gesichtsausdruck des Magiers drückte nichts anderes als pure Verzweiflung aus.

»Dann sagt mir, was ich tun soll!«, rief Seldos.

»Wir werden sehen, ob es möglich ist, Euch zu helfen«, erwiderte Lirandil kühl. Er wandte sich an Brogandas. »Vielleicht schlägt jetzt die Stunde, in der wir auf Eure Hilfe angewiesen sind, Brogandas!«

»Wenn es die Kunst der Dunkelalben so einfach machen würde, diese magische Versiegelung zu lösen, dann hätte es sicher bereits einer von ihnen versucht, nehme ich«, meinte Arvan.

Brogandas wandte Arvan einen Blick zu. »Mag sein«, sagte er. »Andererseits ist auch Asanils Magie letztlich nichts anderes als Elbenzauber. Ich könnte mir denken, dass bis jetzt noch niemand aus Albanoy überhaupt auf den Gedanken gekommen ist, dass in diesem leuchtenden Gemäuer überhaupt etwas von Wert zu holen sein könnte.«

»Nun, wenn Ihr das sagt …«

»Außerdem verachtet man bei uns in Albanoy jeden Dieb. Sich etwas in aller Heimlichkeit anzueignen ist ein Zeichen der Schwäche – und Schwäche verachten wir.«

»Glaubt Ihr, dass Ihr die Versiegelung lösen könnt?«, fragte Lirandil.

»Ich werde es versuchen«, versprach Brogandas. Er wandte sich noch einmal an Arvan. »Ich gehe das Risiko ein, so zu enden wie dieser verachtenswerte Dieb dort oben, und ich hoffe, dass ich diesmal nur mit der Magie dieses Turms zu kämpfen habe und mir nicht auch noch ein gewisser junger Heißsporn hinterher an den Kragen geht.«

»Seid unbesorgt, Brogandas«, antwortete Arvan.

Es war das erste Mal, dass sie seit ihrer Auseinandersetzung miteinander sprachen.

Brogandas trat vorsichtig an das Gemäuer des Turms heran. Eine Tür war nirgends zu sehen, und es schien auch keine Fenster zu geben. Aber das konnte auch eine Illusion sein. Seldos von Thuburg stöhnte indessen auf. Aber weder vor Schmerz noch aufgrund seiner misslichen Lage, sondern weil ihm nun wohl zu dämmern begann, dass er auf die Hilfe eines Dunkelalben angewiesen war. Und das war für einen thuvasischen Magier fast so etwas wie eine grobe Ehrverletzung! Seit das Magiervolk einst durch das Weltentor gekommen und in Thuvasien geblieben war, gab es eine mehr oder minder feindselige Rivalität zwischen ihnen und den Dunkelalben.

»Bleibt ruhig, Thuvasier!«, rief Brogandas. »Und beherrscht Euren unangenehm hämmernd klingenden Herzschlag. Der stört mich in meiner Konzentration!«

Brogandas zögerte, ehe er schließlich das Gemäuer des Turms berührte. Es zischte dabei. Bläuliche Funken sprühten aus der Wand heraus. Kleine Blitze zuckten hervor und krochen wie Spinnen an Brogandas’ Arm entlang und verloschen dann. Der Dunkelalb murmelte dabei eine Formel. Dann hauchte er eine Wolke aus, die wie dunkler Rauch aussah und Arvan an den Zauber erinnerte, den Brogandas mit ihm durchgeführt hatte.

Mit einer Handbewegung verteilte Brogandas diese bis dahin nahezu bewegungslos an derselben Stelle schwebende Wolke. Sie verteilte sich daraufhin auf dem Mauerwerk und drang in die Fugen und Ritzen.

Das Leuchten des Turms ließ etwas nach. Es flackerte.

»Wenn dieser Dunkelalb jetzt das Licht verlöschen lässt, werden wir in dieser Stadt ziemlich unbeliebt werden«, prophezeite Borro an Neldo gewandt.

Neldo, der wie meistens in letzter Zeit in düstere Gedanken versunken zu sein schien, sah auf und nickte. »Ja, und vermutlich würden uns dann nicht einmal mehr Brief und Siegel von König Candric XIII. noch etwas nützen.«

»Diese magische Versiegelung ist außerordentlich anspruchsvoll«, erklärte Brogandas inzwischen an Lirandil gewandt. »Es könnte sein, dass das Problem nicht ganz so schnell zu lösen ist, wie wir das erhofft haben.«

»Nehmt Euch die Zeit, die Ihr braucht, werter Brogandas«, gab Lirandil zurück.

Die Runen in Brogandas’ Gesicht hatten sich mittlerweile allesamt neu ausgerichtet. Ihre spitzen Seiten zeigten nach links, die eher runden Konturen waren hingegen nach rechts ausgerichtet. »Wenigstens konnte ich bis jetzt verhindern, dass es mir so ergangen ist wie dem Thuvasier. Aber aus Fehlern anderer kann man ja lernen.«

Brogandas stieß einen weiteren dunklen Hauch aus. Diesmal war die Wolke um einiges größer als beim ersten Mal. Abermals vollführte er eine Handbewegung, diesmal jedoch mit seiner Linken. Die Wolke verteilte sich über einen noch größeren Bereich der Turmwand. Funken aus Schwarzlicht sprühten. Die Leuchtkraft des Turms schien etwas nachzulassen. Plötzlich wurde eine hohe Tür aus dunklem Holz sichtbar, in das Runen aus Elbengold eingearbeitet waren.

»Na also, wer sagst’s denn«, sagte der Dunkelalb, dessen dünnlippiger Mund ein zufriedenes Lächeln formte. »Der erste Schritt ist getan!«

Die goldenen Elbenrunen in der Tür veränderten nun die Farbe. Sie begannen aufzuglühen. Rotgelbe Strahlen schossen aus ihnen heraus, trafen Brogandas und umfingen ihn völlig. Er schrie auf, als sein Körper plötzlich emporgeschleudert wurde, so als hätte eine unsichtbare Riesenhand ihn in die Höhe geworfen. Schreiend und von rötlichem Licht umflort drehte sich Brogandas mehrfach um seinen Schwerpunkt, wand sich um die eigene Achse und ruderte mit den Armen, so als würde er sich gegen einen nicht erkennbaren Feind zur Wehr setzen.

In einer Höhe, die etwa anderthalb Schiffsmasten entsprach, prallte er gegen die Turmwand und blieb kopfüber am Gemäuer haften. Er war offensichtlich unfähig, sich zu bewegen. Die rötlichen Blitze verebbten. Brogandas war nun vollkommen hilflos.

Er hat es gewusst, erkannte Arvan plötzlich, nachdem er seinen Blick von dem erfolglos magische Formeln vor sich hinmurmelnden, kopfüber an der Wand hängenden Dunkelalben zu dem vollkommen ruhig die Szenerie beobachtenden Fährtensucher Lirandil wandern ließ. Die Gesichtszüge des Elben ließen kaum etwas darüber erkennen, was im Augenblick in ihm vorging. Und doch hatte Arvan nicht den geringsten Zweifel, dass er mit seiner Annahme richtiglag. Mögen die Waldgötter wissen, was er alles über den Turm und dessen Versiegelung weiß! Vielleicht hat ihn Asanil einst sogar in die Magie der Turmversiegelung eingeweiht

Jedenfalls war Arvan sicher, dass Lirandil genau gewusst hatte, was mit Seldos und Brogandas geschehen würde. Und langsam dämmerte Arvan auch, was für ein Spiel der Elb da trieb. Er will Stärke und Überlegenheit demonstrieren!

Ein kurzer Blick Lirandils traf Arvan.

Und ein eindringlicher, glasklarer Gedanke des Fährtensuchers drang in Arvans Seele.

Du kannst hier ein Musterbeispiel für eine etwas andere Art der Diplomatie sehen, Arvan. Es ist die Diplomatie der Stärke – und wenn Dunkelalben und thuvasische Magier bei alledem, was sie trennt, eine Gemeinsamkeit haben, dann ist es ihre Skrupellosigkeit und ihr Respekt vor der puren Macht.

Die Runen aus Elbengold veränderten jetzt abermals ihre Farbe. Die magische Glut, die sie bis dahin erfüllt hatten, färbte sich jetzt bläulich und glich sich damit dem Licht des Turms an. Strahlen schossen aus ihnen heraus, und eine Stimme murmelte Worte in der Elbensprache. Die Strahlen trafen Lirandils Kopf und erfassten ihn völlig. Für einen Augenblick konnte man den Schädelknochen des Elben sehen. Lirandil hob beide Hände, und die Runen in der Tür veränderten daraufhin ihre Formen.

Dann verlosch das magische Leuchten des Turms von einem Augenblick zum anderen, und in der zweifellos hellsten Stadt ganz Athranors wurde es so finster wie in keiner anderen.

Schreie gellten in der Finsternis.

Schreie, die für Arvan fremdartiger klangen als alles, was er je an Stimmen im Halblingwald gehört hatte. Aber er hatte auch noch nie einen thuvasischen Magier und einen Dunkelalben schreien hören. Zwei Schatten fielen entlang des Turmgemäuers zu Boden. Für Arvans menschliche Augen war die Veränderung von der taghellen Stadt des Lichts zur tiefsten Nacht einfach zu schnell gewesen. Am Himmel leuchteten jetzt wieder Mond und Sterne, die zuvor vom allgegenwärtigen Zauberlicht des Turms überstrahlt worden waren.

Auf dem sich den Steinkreis anschließenden Marktplatz erhob sich ein lautes, aufgeregtes Stimmengewirr – wie auch überall sonst in der Stadt. Kaum irgendwo in Asanilon hatte jemand eine Kerze oder eine Öllampe entzündet. Die meisten Leute besaßen so etwas nicht einmal, denn sie konnten sich auf das Licht des Turms verlassen. Die einzigen Feuer, die in dieser Stadt brannten, waren Herdfeuer und die Feuer von Schmiede- und Brennöfen. Aber Feuer zu entzünden, nur um in der Nacht Licht zu erzeugen, war bisher weder in der Stadt noch im meilenweiten Umkreis nötig gewesen.

Zehn Herzschläge lang währte die Finsternis.

Genau zehn Herzschläge – allerdings bemessen nach dem Herzen eines Elben, und deren Herzen schlugen sehr viel langsamer als die von Menschen oder Halblingen.

Dann flackerte das bläuliche Licht des Asanil-Turms wieder auf und gewann nach weiteren zehn Elbenherzschlägen bereits wieder seine gewohnte Helligkeit.

Die Tür stand offen.

Brogandas und Seldos lagen am Boden und richteten sich langsam auf.

»Ich hoffe, es war Euch möglich, den Fall mithilfe Eurer magischen Künste etwas abzumildern«, sagte Lirandil gleichermaßen an den Dunkelalben als auch an den Thuvasier gerichtet.

»Danke Eurer Nachfrage«, knurrte Brogandas, der ja eine weitaus größere Fallhöhe hatte abmildern müssen. »Aber keine Sorge, es war mir möglich, da könnt Ihr versichert sein.«

»Das beruhigt mich«, sagte Lirandil. Er wandte sich an Seldos. »Mir ist, als wären wir uns bereits flüchtig auf der Burg des Statthalters von Gaa begegnet.«

»Eure Erinnerung trügt Euch nicht«, gab der Thuvasier zurück. Man sagte Thuvasiern nach, dass ihre Gesichter wenig an Gefühlen verrieten. Aber Seldos schien die seinen im Moment kaum unter Kontrolle zu haben. Es war ihm überdeutlich anzusehen, wie groß die Demütigung für ihn sein musste, dass er sich aus seiner Lage nicht selbst hatte befreien können.

Lirandil deutete auf die offen stehende Turmtür. »Ihr habt am längsten von uns allen leiden müssen, also lasse ich Euch gerne den Vortritt«, sagte Lirandil.

Der Thuvasier hob die buschigen, nach oben gerichteten Augenbrauen. Die Magierfalte auf seiner Stirn verzog sich etwas und wurde darüber hinaus durch eine Furche ersetzt, die sich senkrecht über die Stirn zog. »Das würdet Ihr nicht vorschlagen, wenn es so einfach möglich wäre, dort hineinzugehen«, sagte Seldos.

Inzwischen hatten sich einige Wachen genähert. Mit gesenkten Hellebarden warteten sie ungefähr dort, wo die Pferde zurückgeblieben waren und geduldig ausharrten. Weiter schienen sich die Soldaten nicht zu trauen. »Nun, dann werde ich den Gang in den Turm wagen. Ihr solltet allerdings hier auf mich warten, Seldos, denn sobald Ihr diesen Platz verlasst, wird man Euch wohl in Gewahrsam nehmen!«

»Gewahrsam?«, echote der Thuvasier.

»Während meine Gefährten und ich mit Brief und Siegel von König Candric hier sind, habt Ihr anscheinend gleich mehrere hiesige Gesetze übertreten, werter Seldos von Thuburg«, stellte Lirandil klar. »Aber ich will gerne ein gutes Wort für Euch einlegen. Ich bin nämlich nicht ganz ohne Einfluss, wenn ich das mit aller Bescheidenheit feststellen darf.«

Das Gesicht des Magiers verfinsterte sich.

Lirandil wandte sich der offen stehenden Tür zu. Dahinter lag nur Dunkelheit. Eine Dunkelheit, die allen natürlichen Gesetzen von Licht und Schatten widersprach und deswegen umso beängstigender wirkte.

Lirandil durchschritt die Tür, ohne dass ihm irgendwelche magischen Widerstände begegneten. Die Finsternis dahinter hellte sich augenblicklich auf. Aus dem Inneren des Turms schien das gleiche bläuliche Leuchten hervor, das auch überall aus seinem Gemäuer herausdrang.

Der Elb drehte sich noch einmal um.

»Wartet auf mich«, sagte er. »Ich werde nicht lange brauchen. Die Bibliothek des Asanil war immer recht gut sortiert.«

»Lirandil!«, meldete sich nun Whuon zu Wort. »Du hast mir versprochen …«

»Richtig«, unterbrach Lirandil den Schwertkämpfer. »Ihr sucht ja nach tiefgründigen Erkenntnissen über das Wesen der Magie … Ich fürchte zwar, dass Ihr hier nicht fündig werdet, weil Eure Kenntnisse dazu noch zu unzureichend sind, aber seht es Euch ruhig an.«

»Unzureichend?« Whuon ließ einige Sätze in elbischer Sprache folgen.

»Das ist erst der Anfang dessen, was Ihr wissen müsst, um die Schriften, die hier gestapelt sind, überhaupt verstehen zu können. Ich gebe es ja ungern zu, aber die meisten dieser Bücher übersteigen selbst mein Begriffsvermögen und das der meisten anderen Elben. Worte zu kennen bedeutet nämlich noch lange nicht, auch wirklich zu verstehen, was ausgedrückt werden soll, aber folgt mir ruhig! Das mag ein Ansporn für weiteren Lerneifer sein.«

Whuon trat vor. Doch als er die offene Tür durchschreiten wollte, stoppte er abrupt. Er prallte gegen eine unsichtbare Wand, die er anschließend mit seinen mächtigen Pranken betastete. Immer wenn er sie berührte, zuckten kleine Blitze, wie aus dem Nichts.

Der Schwertkämpfer versuchte es ein weiteres Mal; diesmal mit etwas mehr Krafteinsatz.

Doch das führte nur dazu, dass Whuon unsanft zu Boden geschleudert wurde. Er lag ausgestreckt auf dem Rücken, und seine Gesichtszüge drückten eine Mischung aus Unglaube und Empörung aus.

»Es scheint, als hätte Asanil nicht vorgesehen, dass Menschen diese Tür durchschreiten«, stellte Lirandil fest. Er wandte sich an Brogandas. »Vielleicht war er Dunkelalben gegenüber ja einladender eingestellt.«

»Wollt Ihr mich verspotten?«, fragte Brogandas.

»Keineswegs«, erklärte Lirandil. »Es ist allgemein bekannt, dass Asanil die Gewohnheiten seines eigenen Volkes fast sämtlich ablehnte. Die Tatsache, dass er sich einen Bart wachsen ließ, ist da nun wirklich noch das Geringste.« Lirandil hob die Schultern. »Es gibt also keinen Grund anzunehmen, dass er die Abneigung der Elben gegen ihre entfernte Verwandtschaft teilte! Ehrlich gesagt, gestand er mir sogar einmal, welche Bewunderung er für die magischen Künste Eures Volkes hegte.«

Brogandas schien zunächst unschlüssig zu sein. Zu unangenehm war ihm wohl die Erfahrung gewesen, kopfüber an der Turmwand zu hängen, gefesselt durch magische Kräfte, gegen die er sich offenbar nicht hatte wehren können. Doch dann schritt er – allerdings sehr viel vorsichtiger als Whuon – voran und versuchte, die Tür des Turms zu durchschreiten.

Doch es gelang ihm nicht. Er prallte von der unsichtbaren Wand ab, die auch Whuon daran gehindert hatte, das Turminnere zu betreten. Er versuchte es noch einmal, streckte die Hände aus und betastete die magische Barriere. Hin und wieder zischten dabei Blitze wie aus dem Nichts hervor.

»Es tut mir leid, aber meine Befürchtung ist anscheinend zutreffend«, sagte Lirandil mit einem Gesichtsausdruck, dem man nicht anmerken konnte, was er dachte und wie groß vielleicht die klammheimliche Freude war, die er darüber empfand, dass nur ihm allein der Zugang zum Turm möglich schien.

»Was ist mit Euch, Seldos von Thuburg?«, wandte sich der Fährtensucher nun an den Magier aus Thuvasien. »Wollt auch Ihr Euer Glück versuchen, oder hat Euch der Mut verlassen, nachdem Ihr gesehen habt, dass zwei andere bei dem Versuch kläglich gescheitert sind, hier einzutreten?«

Auch Seldos zögerte.

»Ihr wisst doch so gut wie ich, dass es mir nicht möglich sein wird, die Tür zu durchschreiten! Und jetzt beabsichtigt Ihr wohl noch, Euch auf meine Kosten zu amüsieren und mich lächerlich zu machen.«

»Nichts läge mir ferner, werter Seldos. Und lächerlich habt Ihr Euch allenfalls selbst gemacht, daran hatte ich keinen Anteil.«

Seldos ließ den Blick schweifen. Er schien noch unschlüssig zu sein. Einerseits glaubte er wohl nicht, dass es ihm anders ergehen würde als denen, die es vor ihm versucht hatten. Andererseits schien ihm aber auch der Gedanke unerträglich zu sein, es nicht wenigstens versucht zu haben. Sein Stolz schien letztlich aber doch die Oberhand zu gewinnen. So wandte er sich ab. »Ich verzichte auf Euer großzügiges Angebot, Elb«, erklärte er und ging.

»Dann wartet hier auf mich, Seldos!«

Doch darauf hörte der Magier nicht.

Er hatte noch nicht einmal den Steinkreis erreicht, da traf ihn ein Pfeil mit stumpfer Spitze so wuchtig am Kopf, dass Seldos augenblicklich in sich zusammensank und regungslos liegen blieb. Einer der Wachsoldaten senkte daraufhin den Langbogen, während die Hellebardenträger den reglos daliegenden Thuvasier umringten und die Klingen ihrer Waffen auf ihn richteten, so als wären sie sich nicht ganz sicher, ob er nicht vielleicht doch noch im nächsten Augenblick aufspringen würde oder ob sie womöglich sogar einen magischen Angriff zu befürchten hatten.

»Autsch!«, entfuhr es Borro mitfühlend. »Ein Treffer mit einem Kaninchentöter! Das tut weh!« Der in der Jagd und als Bogenschütze erfahrene Halbling konnte wohl am besten nachempfinden, was es bedeutete, mit einem sogenannten Kaninchentöter getroffen zu werden. Bei den Halblingen war der Bogen eine überwiegend der Jagd vorbehaltene Waffe, und geübt wurde mit stumpfen Pfeilen, mit denen man auf die Treibjagd nach Kleintieren ging, ehe es einem gestattet wurde, mit spitzen Pfeilen größere Beute zu erlegen. Immer wieder kam es bei diesen Jagden der Anfänger zu schmerzhaften Unfällen, und Borro selbst war einmal durch den Treffer eines Kaninchentöters zwei Tage bewusstlos gewesen. Manche behaupteten später, danach sei er nicht mehr derselbe gewesen und das Problem mit seinem unbeherrschten Mundwerk wäre danach erst so richtig offenbar geworden.

Arvan wandte sich an Borro. »Der alte Grebu hat mir erzählt, dass man in Carabor mit stumpfen Peilen Jagd auf Diebe macht, um sie lebend zu fangen«, sagte er. »Um sie lebend zu fangen und die Anführer ihrer Banden herauszubekommen.« Er zuckte mit den Schultern. »Würde mich nicht wundern, wenn das in Asanilon genauso wäre.«

»Zumal hier wie dort die besten unter den Dieben Halblinge sein werden«, vermutete Borro.

Die Soldaten, die Seldos umringt hatten, stießen ihn vorsichtig an. Dann nahmen vier von ihnen den Reglosen an Armen und Beinen und trugen ihn fort. »Achtet darauf, dass er geknebelt und gefesselt ist, wenn er erwacht!«, rief der Hauptmann seinen Männern hinterher. »Wir wollen ja nicht, dass sich dieser Thuvasier mithilfe eines Zauberspruchs seiner Gerichtsverhandlung entzieht.«

Unterdessen schloss sich die Tür des Asanil-Turms hinter Lirandil, der mit geschlossenen Augen und wie in Trance den Turm betrat. Dass Seldos in Gewahrsam genommen worden war, nahm der Elb kaum zur Kenntnis.

»Wie lange werden wir jetzt auf ihn warten müssen?«, fragte Arvan.

»Kann man bei einem Elben nie so genau sagen«, meinte Zalea.

Whuon ballte unterdessen die Hände zu Fäusten. Sein Gesicht wirkte finster. »Er hat es mir versprochen«, knurrte er. »Lirandil hat es mir versprochen!«

»Beklagt Ihr Euch gerade darüber, dass Ihr dem Elb nicht ins Innere des Turms folgen konntet?«, fragte Brogandas, der sich inzwischen offenbar wieder erholt hatte. »Ihr könnt anscheinend die Elbensprache doch noch längst nicht gut genug, um wirklich jede Nuance zu begreifen – und vermutlich dürfte dazu die kurze Lebensspanne eines Menschen ohnehin nicht ausreichen.«

Whuon runzelte die Stirn und verschränkte die muskulösen Arme vor der Brust. »Was soll das heißen?«, fragte er. »Ich lerne schnell. Und Relinga war auch nicht schwerer als die Sprache dieses bleichen Volkes.«

»Nun, ich gebe zu, dass Lirandil das Talent besitzt, die Dinge mitunter so auszudrücken, dass jeder das heraushört, was er gerne hören will – und das mag auch ein Grund dafür sein, dass er alles in allem ein recht erfolgreicher Diplomat ist! Schließlich hat er es ja immerhin geschafft, einige der Menschenreiche zu einem Bündnis gegen Ghool zusammenzuschmieden, was ich ehrlich gesagt anfangs kaum für möglich gehalten habe.«

Whuon runzelte die Stirn. »Er hat mir versprochen, mich in die Magie der Elben einzuführen, und dieser Turm …«

»Hat er den Turm wirklich in diesem Zusammenhang Euch gegenüber in der Klarheit erwähnt, wie Ihr das jetzt behauptet?«, unterbrach ihn Brogandas. »Es tut mir leid, aber ich konnte kaum umhin, einen Großteil Eurer Gespräche mit anzuhören, da mein Gehör recht empfindlich ist, wie Ihr ja inzwischen wisst. Und ich habe nichts dergleichen gehört. Nichts, was über eine vage Aussicht hinausgegangen wäre.«

»Wenn du das sagst, Dunkelalb …«, knurrte Whuon.

»Lirandil meint es mit Sicherheit ehrlich mit dir, Whuon«, mischte sich nun auch Arvan in das Gespräch ein, obwohl Zalea ihn am Arm fasste, um ihn davon abzuhalten. »Für die Art der Versiegelung dieses Turms kann man ihn nicht verantwortlich machen – und auch nicht dafür, dass er sein dir gegenüber gegebenes Wort nicht in vollem Umfang halten konnte.«

»Ach, wirklich?«, fragte Brogandas in einem Tonfall, der gleichermaßen schneidend und spöttisch war. »Nun, unser tapferer Schwertkämpfer muss selbst entscheiden, wem er glauben will. Aber falls Euch eines Tages die magische Weisheit der Elben langweilen sollte, so könnten das Wissen, das wir Dunkelalben gesammelt haben, ja vielleicht eine Alternative sein, um Euren Durst nach Erkenntnis zu stillen. Denkt darüber nach!«

Daher weht also der Wind!, wurde es Arvan klar. Der Dunkelalb will Whuon auf seine Seite ziehen!

»Danke für dein Angebot, Dunkelalb«, erwiderte Whuon ziemlich schroff. »Aber ich habe inzwischen gehört, dass man bei Euch in Albanoy Menschen nur als beliebig manipulierbare Untertanen ansieht. Und ehrlich gesagt habe ich keine Lust, als dein Sklave zu enden.«

»Ganz wie Ihr wollt, Schwertkämpfer. So bleibt stattdessen lieber Sklave Eurer Illusionen. Das entscheidet ganz allein Ihr!«

Das Lächeln, das daraufhin um den dünnlippigen Mund des Dunkelalben spielte, war breit und kalt.