Träger des Elbenstabs
In der letzten Nacht hatten sie es seit Tagen zum ersten Mal wieder gewagt, ein Feuer zu entzünden. Die Wälder im südlichen Teil der Dichtwaldmark waren voller Orks. Und wären nicht mit Lirandil und Brogandas zwei Männer mit außerordentlich feinem Gehör unter ihnen gewesen, wären sie ihnen vermutlich geradewegs in die Arme gelaufen. Whuon konnte ebenso wie Arvan und die Halblinge davon nichts hören, aber er wirkte sehr unruhig und schien zumindest die Gefahr zu spüren.
Lirandil ließ sein Pferd anhalten und hob den Kopf. Wieder einmal lauschte er dem vielfältigen Chor der Stimmen, die den Wald erfüllten.
»Es wird immer schwieriger, den Orks auszuweichen«, bekannte Brogandas, der sein Pferd so lenkte, dass es neben dem des Elben zu stehen kam.
Lirandil nickte mit sehr ernstem Gesicht. »Ja, man hört sie von allen Seiten.«
»Und es sind viele.«
»Wir sollten jedem Kampf so weit es möglich ist aus dem Weg gehen.«
»Habt Ihr Euch eigentlich schon genauere Gedanken darüber gemacht, welchen Weg wir einschlagen, wenn wir die Wälder erst einmal hinter uns gelassen haben?«
Lirandil wandte den Kopf und sah den Dunkelalben an. »Es gibt nur einen Weg«, erklärte er. »Den kürzesten. Und über alles andere möchte ich hier und jetzt nicht sprechen.«
In Brogandas’ Gesicht spielte nun ein hartes, sarkastisches Lächeln um den dünnlippigen Mund. Und die Runen in einem Gesicht passten sich auf seltsame Weise der geraden Linienführung seines Mundes an. »Ihr traut mir noch immer nicht.«
»Das würde ich so niemals sagen …«
»Aber Ihr handelt danach, denn das ist der Grund Eures Schweigens. Ihr wollt Euch alle Optionen offenhalten und die nächsten Schritte deshalb niemandem offenbaren, weil Ihr fürchtet, dass sie verraten werde könnten.«
In Lirandils Augen erschien für einen Augenblick wieder das bläuliche Leuchten. Es wurde stärker, pulsierte einige Augenblicke lang und verschwand dann wieder. »Je mehr ich von meinem Wissen zurückhalte, desto besser für uns alle«, erklärte er. »Und ich behandle Euch damit nicht anders als denjenigen, auf dem die größte Last liegen wird.«
»Ihr sprecht von Arvan.«
»Ja.«
»Niemand kann eine Waffe erfolgreich anwenden, in deren Gebrauch er sich nicht geübt hat, Lirandil.«
»Und niemand wird eine Waffe nur für den Zweck anwenden, für die sie ersonnen wurde, wenn sie bereits Macht über ihn erlangt hat und ihn beherrscht. Und jeder Einsatz dieser Waffe erhöht diese Gefahr immens. Elbanador wusste dies …«
Das Lächeln des Dunkelalben wurde breiter. » …und die Vorfahren der Dunkelalben haben es nicht genügend beachtet. War es das, was Ihr sagen wolltet?«
»Ich will Eurer Erkenntnis zumindest nicht widersprechen.«
Während sie weiter durch den Wald zogen, bildete Arvan immer öfter die Nachhut. Er fiel gegenüber den anderen zurück.
Er umfasste dann den Elbenstab, nahm ihn hervor, betrachtete ihn im spärlichen Licht des Waldes. Die Runen begannen dann ihre Farbe zu ändern und mit goldenem Schimmer hervorzutreten. Und dabei veränderten sie sich, formten immer neue Zeichen. Mit den Schriftzeichen, die Arvan beim alten Grebu gelernt hatte, hatten sie nichts gemein und wohl auch nicht mit der Schrift, die gegenwärtig bei den Elben in Gebrauch war.
Und während Arvan den Zeichen bei ihrer andauernden Verwandlung zusah, die ihn immer stärker in ihren Bann zog, entstanden Bilder in seinem Kopf. Gedanken drängten sich ihm auf. Eine Stimme schien zu ihm zu sprechen. »Eine Macht kann sich nur entfalten, wenn man sie benutzt!« Arvan sah in Gedanken, wie Strahlen aus dem Stab hervorschossen. Strahlen aus Schwarzlicht, vermischt mit solchen, die die gleiche rotgoldene Färbung hatten, wie sie die Runen annahmen, sobald er sie ansah.
Oder sobald ich meine Gedanken ausschließlich auf sie richte, ging es Arvan durch den Kopf. Vielleicht war es möglich, den Stab auf ganz gewöhnliche Weise zu beherrschen, so wie Arvan es bei Rankpflanzen und Baumschafen gewohnt war. War diese besondere Fähigkeit nicht letztlich der Grund dafür, dass er offenbar dazu ausersehen war, den Elbenstab zu tragen?
»Benutz mich. Setze meine Macht ein. Nur dann wirst du über meine Macht in dem Moment verfügen können, in dem du sie am dringendsten brauchst«, flüsterte ihm die Gedankenstimme des Elbenstabs zu.
»Arvan!«, drang Zaleas Stimme in seine Gedanken. Sie hatte sich mit ihrem Pferd etwas zurückfallen lassen. Die anderen waren bereits im Unterholz verschwunden. »Hörst du mich überhaupt?«, fügte sie noch hinzu.
Arvan blickte auf. »Ich …«
»Wenn ich noch lauter rede, bekommt unser empfindlicher Anführer davon Ohrenschmerzen, Arvan.« Sie lenkte ihr Pferd neben das seine und berührte ihn an der Schulter. »Was bei allen Waldgöttern ist los mit dir?«
»Ich habe mir nur den Elbenstab noch einmal angesehen«, sagte er.
Er hielt das Artefakt noch immer in der Hand.
»Halte ihn besser verborgen, Arvan.«
»Siehst du es nicht?«
»Was soll ich denn sehen?«
»Die Zeichen!«
Er hielt ihr den Stab hin. Sie starrte etwas befremdet darauf und schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht, was du meinst. Ich sehe nur die schwarzen Runen darauf.«
»Sie schimmern golden. Fast so, als würden sie glühen. Und sie verändern sich – so ähnlich wie die Runen des Baums, aus dem der Stab geschlagen wurde.«
Sie schüttelte den Kopf. »Das siehst nur du, Arvan«, widersprach sie. »Arvan, ich habe keine Ahnung, was für Kräfte in diesem Stab gebunden sind. Aber wenn sie für Ghool gefährlich sind, dann vielleicht auch für dich. An einem Schwert kann man sich schließlich auch schneiden, wenn man nicht aufpasst.«
»Mag sein.«
»Arvan, mir gefällt das nicht. Seit wir vom Runenbaum aufgebrochen sind und du dieses …« Sie schien einen Augenblick lang nach dem passenden Wort zu suchen und hatte es dann gefunden. »… Ding bei dir trägst, scheinen deine Gedanken nur noch darum zu kreisen.« Wie wenig ihr diese Entwicklung der Dinge gefiel, kam in der Art und Weise zum Ausdruck, in der sie das Wort Ding ausstieß. Als würde sie über etwas Widerwärtiges sprechen, dachte Arvan.
Er steckte den Elbenstab wieder ein.
»Es ist nicht so einfach für mich«, sagte er. »Ich war immer der Trottel. Ein Tölpel, der grob und ungeschickt ist und dem nur der alte Grebu zugetraut hat, dass man ihm überhaupt etwas beibringen könnte, was über die Kenntnisse hinausgeht, die jemand braucht, um Baumschafe zu hüten.«
»Ja, und?«
»Und jetzt soll ich mit einer Waffe, von der ich nicht genau weiß, wie sie anzuwenden ist, den Schicksalsverderber töten – etwas, was letztlich nicht einmal König Elbanador geschafft hat.«
»Jetzt mach mal halblang und hör auf mit diesen Grübeleien, Arvan! Was in dir steckt, hast du doch längst bewiesen! Und wenn jemand einen siebenarmigen Riesen zu erschlagen vermag, dann traut man ihm auch alles Mögliche sonst noch zu …«
»Wie zum Beispiel das Amt des Hochkönigs, das ich nicht umsonst abgelehnt habe.«
»Arvan, wir haben in einem eigentlich aussichtslosen Kampf vielleicht doch noch die Möglichkeit, das Blatt zu wenden, und du machst dir alle möglichen überflüssigen Gedanken. Wir müssen zusehen, dass wir nicht von Orks entdeckt werden! Stattdessen starrst du fasziniert auf diesen magischen Stab und siehst goldene Zeichen.«
»Aber ich sehe sie wirklich.«
»Komm jetzt!«
Er ritt hinter ihr her.
Als sie Lirandil, Brogandas, Whuon und Borro einholten, waren die bereits von ihren Pferden gestiegen. Lirandil und Brogandas lauschten angestrengt. Borro legte einen Finger auf den Mund, um den Ankömmlingen damit zu bedeuten, keinen Laut von sich zu geben.
Arvan und Zalea stiegen ebenfalls ab. Borro hatte den Bogen in der Hand und bereits einen Pfeil aus dem Köcher genommen, während es Arvans Aufgabe in solchen Fällen war, dafür zu sorgen, dass die Pferde ruhig blieben. Vollkommen ruhig. Kein Schnauben und kein Wiehern durften sie hören lassen.
Die Gefährten verbargen sich im dichten Gestrüpp des Unterholzes. Brogandas murmelte kaum hörbar eine Formel vor sich hin. Vielleicht erschwerte sie dem Gegner, sie zu sehen.
Quälend lange Augenblicke vergingen, ohne dass etwas geschah. Dann hörten schließlich auch Arvan und die Halblinge die Geräusche von mindestens drei Dutzend Orks.
Im Laufschritt stampften sie durch den Wald.
Einer von ihnen führte einen Menschen an einem Seil mit sich. Es war ein Mann, dessen brauner Überwurf ein Wappen trug, dessen wichtigstes Merkmal zwei ineinandergreifende Ovale waren.
»Er trägt die Livree eines Libellenreiters«, wisperte Brogandas. »Ich nehme an, er ist ein Bote, und die Orks haben ihn abgefangen.«
Der Mann strauchelte. Der Ork, der ihn am Strick hinter sich her führte, schleifte ihn ein Stück über den Boden. Aber da dem Libellenreiter die Hände auf den Rücken gefesselt waren, hatte er kaum eine Möglichkeit, wieder auf die Beine zu kommen. Der Ork blieb stehen, stieß einen grunzenden Laut aus und zog ihn grob zu sich heran. Die Schlinge, die man dem Gefangenen um den Hals gebunden hatte, erwürgte ihn fast. Er rang nach Luft, sank röchelnd auf die Knie. Der Ork versetzte ihm einen sehr groben Faustschlag.
Ein Ork, dessen Hauer, wie auf der Insel Orkheim üblich, angespitzt worden waren, und der den Befehl zu führen schien, brüllte den Gefangenentreiber daraufhin auf Orkisch an. Speichel troff ihm dabei von den Hauern.
»Wir müssen ihm helfen«, meinte Arvan.
»Wir können nichts tun«, widersprach Lirandil.
»Was haben die mit ihm vor?«
Aber Lirandil gab darauf keine Antwort. Stattdessen antwortete Brogandas. »Orks pflegen manchmal Gefangene am Leben zu lassen, um sie als Nahrungsvorrat mitzunehmen. Ein anderer Grund könnte sein, dass sie noch keine Zeit hatten, den Libellenreiter zu foltern, um aus ihm mehr über die Botschaft herauszubekommen, die er überbringen sollte.« Brogandas’ Stimme war nur ein leises Wispern. Zu leise, als dass irgendeiner der Orks davon Notiz genommen hätte.
Der Ork mit den angespitzten Zähnen stellte den Gefangenen jetzt grob auf die Füße.
»Sie wollen nach Süden«, sagte Lirandil. »Dorthin, wo wir herkommen. Angeblich gibt es hier nirgends mehr Halblinge im Umkreis von mindestens hundert Meilen.«
Der Gefangene wurde fortgezogen. Er taumelte. Ein stöhnender Laut kam über seine Lippen. Der Ork, der ihn am Seil führte, wollte dem Libellenreiter gerade noch einen wuchtigen Faustschlag versetzen, weil er ihm wohl zu langsam lief, da schwang plötzlich eine Ranke von oben herab und schlang sich um den Hals des Orks. Er wurde emporgerissen und durch den Wald geschleudert. Er kam so hart gegen einen der Riesenbäume, dass er anschließend leblos an dessen Stamm herabrutschte.
Arvan!, erreichte diesen ein entsetzter Gedanke von Lirandil.
Die Scheusale zogen ihre Waffen. Dann deutete der Orkheimer mit den angespitzten Zähnen plötzlich genau dorthin, wo sich Arvan und seine Gefährten verborgen hielten. Er stieß dabei einen Kampfschrei aus. Doch schon im nächsten Augenblick packte auch ihn eine Schlingpflanze und schleuderte ihn fort. Arvan hielt es nicht länger im Gestrüpp. Er bahnte sich einen Weg mit dem Beschützer und stürmte auf die Orks zu. Ein Wurfbeil, das auf ihn geworfen wurde, parierte er mit einem Schwertstreich, und ein Ork, der sich mit einer Lanze auf ihn stürzte, bekam sein Schwert ebenfalls zu spüren. Arvans erster Hieb ließ den Lanzenschaft durchbrechen, mit dem der Ork den Schlag zu parieren versuchte. Der Ork riss ein breites Kurzschwert aus dem Gürtel, aber noch ehe er die Waffe richtig ziehen konnte, hatte Arvan ihm den Kopf vom Rumpf getrennt.
Die Ranken peitschten nun regelrecht von den unteren Ästen der Riesenbäume herab und schlangen sich gleichzeitig um die Körper mehrerer Orks. Diese schlugen mit ihren Sichelschwertern um sich. Ranken wurden durchtrennt. Das Wutgeheul der Orks erfüllte den Wald. Arvan wandte sich dem Gefangenen zu. Mit dem Langmesser löste er diesem die Fesseln.
»Ich danke dir«, stieß der Libellenreiter hervor.
Als ein Ork mit zum Schlag erhobener Streitaxt auf die beiden zustürmte, streckte einer von Borros Pfeilen ihn nieder. Ein anderer wurde von Zalea mit der Schleuder beschossen. Eine Herdenbaumkastanie zerplatzte an seinem Kopf, sodass die ätzenden Dämpfe aus der Frucht austraten.
Er schrie auf und war im nächsten Moment tot, nachdem er auch noch von einem von Whuons Wurfdolchen getroffen worden war.
Ein heftiger Kampf entbrannte. Borro streckte einen der Orks mit einem Pfeil nieder, und auch Lirandil und Brogandas zogen ihre Schwerter. Sie kamen aus dem Unterholz hervor, um Arvan zu helfen. Ihre Klingen wirbelten blitzschnell durch die Luft. Die Schläge, die sie austeilten, waren von solcher Präzision, wie es nur möglich war, wenn man die Augen eines Elbs oder eines Dunkelalben besaß.
Doch die meisten Gegner kamen gar nicht bis zu ihnen heran. Arvan sorgte dafür, dass lose Schlingpflanzen ihnen zur Seite standen. Sie schlangen sich um die Füße und Hälse der Orks und strangulierten sie. Andere wickelten sich um ihre Waffenarme oder schleuderten sie einfach fort. Einer der Orks hing mehr als eine Masthöhe über ihnen und war dabei von dem spitz zulaufenden, abgebrochenen Ast eines Riesenbaums aufgespießt worden.
Ein anderer Ork nahm schließlich Reißaus.
Arvan zögerte kurz. »Jetzt! Er wird euch verraten, und in Kürze werden hundert oder zweihundert Orks hinter euch her sein – und die werden sich nicht so einfach töten lassen.« Es war die Gedankenstimme des Elbenstabs, da war Arvan sicher. Er riss das Artefakt aus dem Gürtel, richtete es auf den fliehenden Ork. Auf einmal war es keine Frage mehr, wie diese Waffe zu benutzen war. Sie schien eins mit ihm geworden zu sein. Wie ein zusätzlicher Teil seines Körpers. Er spürte die dämonische, dunkle Kraft, die diesem Gegenstand innewohnte.
»Nein, Arvan!«, rief Lirandil.
In diesem Moment flog etwas durch die Luft.
Es war einer von Whuons Wurfringen. Niemand außer dem ehemaligen Söldner in den Diensten der thuvasischen Magier hätte ihn mit der gleichen Mischung aus Präzision und Kraft zu schleudern vermocht.
Der Ring mit den sich ausklappenden Klingen erwischte den Ork am Hals. Er taumelte noch zwei Schritte vorwärts, während bereits das Blut hervorschoss, schleuderte noch ungelenk die Lanze, die er in der Linken trug, griff mit der Rechten nach dem Wurfbeil an seinem Gürtel. Dann brach er mit einem gurgelnden Laut tot zusammen.
»Wir sollten zusehen, dass wir schleunigst von hier fortkommen«, mahnte Whuon. »Ich gehe jede Wette ein, dass hier noch mehr von diesen Scheusalen herumlaufen.«
»Und zwar gar nicht weit entfernt«, bestätigte Brogandas, der das nicht nur ahnte, sondern offenbar auch hören konnte.
Lirandil wandte sich unterdessen an den Libellenreiter. »Wer seid Ihr?«
»Mein Name ist Nomran-Kar, und ich war als Bote für Waldkönig Haraban unterwegs.«
»Von wo seid Ihr aufgebrochen?«
Nomran-Kar blickte sich um und musterte nacheinander Whuon, Brogandas und Arvan – schließlich auch die Halblinge, die sich inzwischen ebenfalls aus dem Gebüsch hervorgewagt hatten. Dann glitt ein Blick zu den Pferden, die sehr ruhig wirkten und von dem ganzen Kampfgeschehen überhaupt nicht beeindruckt zu sein schienen. Dass dies an Arvans Einfluss auf die Willenskraft der Tiere lag, konnte der Libellenreiter ja nicht ahnen. »Ich hätte nicht einmal etwas davon preisgegeben, wenn die Orks mich gefoltert hätten«, behauptete er dann. »Bevor ich also Dinge sage, die ich nicht sagen darf, will ich meinerseits erst einmal wissen, mit wem ich es zu tun habe. Daran ändert auch die Tatsache nichts, dass Ihr mir das Leben gerettet habt.«
»Ich bin Lirandil der Fährtensucher«, erklärte der Elb.
»Von Euch habe ich gehört«, sagte der Nomran-Kar. »Im Hofstaat des Waldkönigs wird ehrlich gesagt sogar ziemlich viel über Euch und Eure Diplomatie geredet. Und wer sind die anderen?«
Lirandil stellte sie Nomran-Kar der Reihe nach vor.
Bei Brogandas und Whuon umwölkte sich die Stirn des Libellenreiters etwas. Er schien nicht so recht zu wissen, was er von den beiden halten sollte. Zalea und Borro waren ihm wohl ziemlich gleichgültig. Halblinge eben, die man nicht weiter zu beachten brauchte, so schien er zu denken.
Aber Arvan gegenüber war er sehr freundlich – und wie sich herausstellte, war das bei Weitem nicht nur der Tatsache geschuldet, dass dessen mutiges Eingreifen ihn davor bewahrt hatte, von den Orks gefoltert zu werden oder ihnen gar als lebender Proviant während ihres weiteren Vernichtungszugs in der Dichtwaldmark zu dienen.
»Arvan?«, vergewisserte sich Nomran-Kar. »Arvan Aradis, der von Halblingen aufgezogene Mensch, der in der Schlacht an der Anhöhe der drei Länder den siebenarmigen Zarton erschlug und es ablehnte, sich als Hochkönig erheben zu lassen?«
Arvan wurde etwas verlegen.
»Nun, was soll ich dazu … Also, ich meine …«
Zalea gab ihm einen leichten Stoß. »Natürlich ist er es«, sagte sie.
»Welch eine Ehre für mich, den größten Held von Athranor kennenzulernen!«
»Na ja, das ist vielleicht leicht übertrieben«, antwortete Arvan.
»Wenn nur die Hälfte von dem wahr ist, was man über dich erzählt, Arvan Aradis, dann ist das keineswegs übertrieben«, widersprach Nomran-Kar. »Wenige haben in so jungen Jahren schon so viel Ruhm erworben. Ihr werdet sehen, selbst in Pandanor erzählt man schon von deinen Taten. Für viele sind sie so etwas wie ein kleiner Hoffnungsschimmer …« Nomran-Kar seufzte, und sein Gesicht bekam einen finsteren Zug. »Viel Anlass zur Hoffnung gibt es ja auch leider nicht.«
»Ihr kommt gerade aus Pandanor?«, hakte Lirandil jetzt nach.
Der Libellenreiter nickte. »Ja. Und ich kann Euch nur sagen: Es sieht sehr düster aus. Die Orks sind überall. Ein Heer, das nur aus Wolfsmenschen besteht, hat Sepa, die alte Hauptstadt von Rasal am pandanorischen Grenzfluss, dem Erdboden gleichgemacht. Man sieht nur noch rauchende Ruinen. Die etwas flussaufwärts gelegene Burg Sy fiel schon vor einiger Zeit. Und inzwischen haben die Heere der Orks und Wolfsmenschen bereits die Flussgrenze nach Pandanor überschritten. Folom und Epea werden bereits belagert …«
»Was ist mit der Flussinsel Colintia?«, unterbrach Lirandil den Boten.
Nomran-Kar schien etwas verwundert über die Frage zu sein. »Meint Ihr diese Insel an der Flussmündung, die stets von so starkem Nebel umgeben ist, dass ich sie auf meinen Botenflügen immer gemieden habe?«
»Ja, genau die.«
»Ich habe ehrlich gesagt keine Ahnung. Aber das ist ein Ort, der ohnehin niemanden interessiert. Lebt da überhaupt jemand – von ein paar Nebelgeistern vielleicht mal abgesehen?«
»Es war nur eine einfache Frage«, sagte Lirandil kühl.
Warum fragt er nach diesem Ort?, überlegte Arvan. Es musste dafür einen Grund geben, denn wenn Lirandil eine Frage stellte, dann bestimmt nicht, um damit nur irgendeiner plötzlichen Laune zu folgen. Kann es sein, dass diese mysteriöse Insel das vorläufige Ziel unserer Reise ist, das Lirandil uns bisher ja nicht zu nennen bereit war?, fragte sich Arvan.
Insgeheim hoffte er, von dem Fährtensucher darauf eine Antwort in Form eines eindeutigen Gedankens zu bekommen. Aber diesen Gefallen tat ihm der Elb nicht.
»Wie gesagt, Colintia ist ein Ort, den ich meide. Und so geht es vielen. Angeblich soll es dort nämlich spuken …«
»Was ist mit Eurem Reittier geschehen?«, fragte Lirandil.
»Die Orks haben es …« Er schluckte, und sein Gesicht wurde blass dabei.
»… gefressen?«, vollendete Brogandas mit einem breiten Lächeln. »Mein elbischer Gefährte kennt sich zwar aus gewissen Gründen etwas besser mit den Geräuschen der Orks aus, aber da deren Hauptnahrung ja angeblich die Schwärme von Riesenschrecken sind, die zweimal im Jahr den Himmel über dem südlichen Athranor verdunkeln, könnte ich mir denken, dass ihnen auch Euer edles Reittier geschmeckt hat.«
»Sie haben nichts zurückgelassen. Nicht einmal den Panzer«, flüsterte Nomran-Kar, und es war ihm anzumerken, wie sehr ihn das erschüttert hatte. »Diese groben Scheusale ahnen ja gar nicht, was sie damit zerstört haben! Die Aufzucht und Ausbildung einer voll einsatzfähigen Riesenlibelle ist ein höchst komplizierter Vorgang. So ein Tier kann man getrost in purem Gold aufwiegen, und selbst das wäre noch zu wenig! Und diese Narren haben es einfach … gefressen.«
»Es sind Orks«, gab Brogandas zu bedenken.
Nomran-Kar sah sich um und nahm einem der erschlagenen Orks ein Breitschwert weg, das in die leere Lederscheide passte, die der Libellenreiter am Gürtel trug. Anscheinend hatte ihm dieses Schwert ursprünglich ohnehin gehört. Von einem anderen Ork nahm er sich einen Wurfdolch, den er in seinem Stiefelschaft verschwinden ließ, während er einem dritten den Speer abnahm. Es war ein Speer mit einer Spitze aus Obsidian. Die originale Arbeit von Orkpranken also. Aber Nomran-Kar schien zu finden, dass die Waffe gut in der Hand lag und für seine Zwecke brauchbar war. »Ich werde Euch nun verlassen und meinen Weg notgedrungen zu Fuß fortsetzen«, kündigte er an.
»Das wäre Wahnsinn«, stellte Arvan fest. »Die Wälder sind voller Orks. Ihr solltet mit uns mitkommen.«
Nomran-Kar lächelte matt. Als er sich das Haar aus der Stirn strich, war zu sehen, dass auf seiner Stirn eine Platzwunde zu sehen war. Vermutlich hatte er sie sich im Verlauf seiner kurzen, aber grausamen Gefangenschaft bei den Orks zugezogen. »Ihr solltet nicht glauben, dass es im Norden oder Westen anders ist.«
»Kommt mit uns«, sagte Lirandil jetzt sehr bestimmt. »Ihr würdet nicht einmal ein paar Meilen weit kommen. Gleichgültig, wohin Ihr Euch auch wendet, Ihr lauft den Orks in die Pranken.«
»Und ich nehme an, dass sie diesmal deinen Schädel sofort knacken und ausschlürfen, anstatt sich diesen Leckerbissen noch einmal entgehen zu lassen«, mischte sich Whuon ein.
Nomran-Kar atmete tief durch.
Er schien zu überlegen, ob es nicht vielleicht doch besser für ihn war, dem Rat Lirandils und der anderen zu folgen.
»Wo genau wollt Ihr Euch denn hinbegeben, Elb?«, wandte er sich an den Fährtensucher.
»Es gibt einen Ort, der zumindest vorerst sicher sein könnte«, erklärte Lirandil, der wohl keine Neigung verspürte, ausgerechnet gegenüber dem Libellenreiter offener über die Einzelheiten seiner Pläne zu sprechen.
»Ihr erwähntet gerade die Flussinsel Colintia. Liegt der Ort etwa im Mündungsgebiet? Die Insel selbst kann es ja wohl nicht sein …« Nomran-Kar schüttelte den Kopf. »Das ist Wahnsinn! Der Weg dorthin führt quer durch die Huflande von Rasal – und die habe ich vor Kurzem erst auf dem Weg hierher überflogen und weiß daher sehr gut, wie viele Orks dort unterwegs sind.«
»Trotzdem seid Ihr bei uns sicherer«, sagte Arvan. »Allein auf Euch gestellt würdet Ihr es keine halbe Tagesreise schaffen.« Arvan sah ihn sehr ernst an. »Bitte! Ich habe nicht mein Leben aufs Spiel gesetzt, um Euch zu helfen, damit Ihr dieses Geschenk einfach wegwerft.«
»Er hat auch unser Leben aufs Spiel gesetzt – mal ganz nebenbei bemerkt«, stellte Whuon fest.
Dem Libellenreiter schien zu dämmern, dass ihm wohl gar keine andere Wahl blieb, als sich der Gruppe anzuschließen. Und Lirandil erhoffte sich vielleicht von ihm wertvolle Kunde über die Verhältnisse in dem Gebiet, das sie noch zu durchqueren hatten.
»Also gut«, sagte der Libellenreiter schließlich. »Auch wenn ich damit meinen Eid breche, den ich als Bote des Königs geschworen habe.«
»Scher dich nicht um Eide, Libellenreiter«, meinte Whuon. »Ein Schwur gilt ohnehin immer nur bis zum nächsten.«
»Seid still!«, fuhr Brogandas dazwischen. Er sah angestrengt drein und schien zu lauschen. »Hört Ihr es auch, Fährtensucher?«
Lirandil nickte finster. »Wir sind eingekreist. Gleichgültig, wohin wir uns auch wenden – wir werden Orks begegnen.«
Einige Augenblicke herrschte Schweigen. Arvan kümmerte sich um die Pferde, beruhigte sie noch einmal. Zalea ging mit ihm. »Was Lirandil vorhat, ist Wahnsinn«, wisperte sie Arvan zu. »Er will, dass wir die Huflande von Rasal bis zur Mündung des pandanorischen Grenzflusses durchqueren – aber das ist längst Ghools Land. Wenn dieser Libellenreiter recht hat, dann können wir dort seinen Schergen nicht entgehen.«
»Er ist ein erfahrener Fährtensucher«, erwiderte Arvan. »Und ich vertraue ihm. Er wird sich schon etwas dabei überlegt haben.«
»Fragt sich nur, wie es danach weitergehen soll. Ganz Rasal gehört den Orks, und selbst die eingeschlossenen Küstenstädte könnten inzwischen gefallen sein. Die einzige Möglichkeit wäre, bis zur Küste vorzudringen und dann über das Meer in die Orkländer zu gelangen.«
Arvan zuckte mit den Schultern. »Vielleicht ist es das, was Lirandil plant.«
»Und du glaubst, da liegt irgendwo ein Schiff für uns bereit, das nur auf uns wartet?«
Inzwischen wurde Brogandas immer unruhiger. Er hielt sein Schwert in der Hand, drehte sich abrupt um, blickte suchend mal in jene, mal in eine andere Richtung, so als erwartete er jeden Moment, dass massenweise Orks aus dem Unterholz hervorbrachen. Er murmelte dabei einige Worte in der Sprache der Dunkelalben. Ob das ein Zauberspruch oder nur eine einfache Verwünschung war, konnte niemand sagen.
Whuon überprüfte den Sitz seiner Waffen. Er nahm außerdem den Wurfring wieder an sich, mit dem er den flüchtenden Ork getötet hatte. Als er zurückkehrte, zog er das Langschwert vom Rücken, hielt es in der Rechten und fasste mit der Linken nach dem kurzen Breitschwert, das er am Gürtel trug. Beide Waffen ließ er mit beängstigender Leichtigkeit durch die Luft kreisen. »Sie sollen nur kommen«, meinte er. »Gleichgültig, wie viele es sein mögen.«
Borro wandte sich unterdessen an Lirandil. »Habt Ihr denn keine Idee, was wir jetzt tun können?«
Lirandil beachtete den rothaarigen Halbling nicht weiter. Er schien intensiv nachzudenken und aufmerksam zu lauschen, wie schnell sich die Orks ihnen näherten. Eine tiefe Furche hatte sich auf der ansonsten vollkommen glatten Stirn des Elben gebildet. Auch er hielt das Schwert kampfbereit in der Hand. »Das wird gefährlich«, murmelte er – mehr zu sich selbst als an Borro gerichtet, der bereits einen Pfeil in seinen Bogen eingelegt hatte.
»Die Pferde«, meldete sich nun Brogandas zu Wort.
»Hättet Ihr die Güte, Eure Vorschläge zur Rettung unserer aller Leben vielleicht etwas zu präzisieren?«, meinte Borro.
Brogandas wandte sich an Arvan. »Du musst ihnen deinen Willen aufzwingen und sie dazu bringen, immer weiter in nördlicher Richtung zu laufen. So weit es geht und so lange wie möglich sollen sie einfach nur laufen.«
»Ja, aber das wird uns nicht retten.«
»Doch! Ich würde das ja selbst tun, aber wenn mein Plan klappen soll, dann werde ich mich auf eine andere Aufgabe konzentrieren müssen, zu deren Erfüllung ich alle meine Kräfte brauche.«
»Wovon sprecht Ihr?«
»Davon.«
Er streckte sein Schwert in Richtung der Pferde aus und murmelte dabei mit eindringlicher Stimme eine Formel. Die Runen in seinem Gesicht wurden dabei zu einem Geflecht aus feinsten, miteinander verwobenen Linien.
Eine Wolke aus dunklem Rauch kam aus der Schwertspitze heraus und verteilte sich, bis man nichts mehr davon zu sehen vermochte. Arvan glaubte seinen Augen nicht zu trauen. Auf den Pferden saßen schattenhafte Gestalten. Sie wirkten durchscheinend, und man konnte kaum Einzelheiten an ihnen erkennen. Eines der Pferde wieherte laut und stellte sich auf die Hinterhand. Sein Reiter verschwand daraufhin.
»Habe ich dir nicht gesagt, du musst die Pferde unter deine Herrschaft bekommen?«, drängte Brogandas. »Ich kann mich nicht gleichzeitig darauf konzentrieren, diesen Pferden meinen Willen aufzuzwingen und einen Illusionszauber zu wirken, der gut genug ist, um die Orks zu täuschen.«
Arvan beruhigte das Pferd sofort wieder. Einige Gedanken reichten dazu aus. Er sprach ein paar Worte zu dem Tier, ging darauf zu. Du bist auch nicht viel widerspenstiger als ein stures Baumschaf, dachte er.
»He, habe ich das richtig verstanden?«, rief jetzt Borro. »Die Pferde sollen die Orks ablenken? Aber was wird mit unseren Sachen? Mit dem Proviant?« Er schluckte. »Das heißt ein paar Tage ohne Frühstück, nicht wahr?«
»Anders geht es nicht«, sagte Lirandil. »Und wenn etwas von unserem Eigentum mit ihnen geht, dann wirkt der Illusionszauber überzeugender. Das ist eine magische Grundregel, und an der ändert sich auch nichts, wenn ein Dunkelalb sie anwendet.«
Die Gestalten, die nun auf den Pferden erschienen, hatten erschreckende Ähnlichkeit mit Arvan und seinen Gefährten. Allerdings blieb Arvan keine Zeit, um länger darüber nachzudenken. Er musste seine Gedanken darauf richten, den Willen der Pferde zu lenken. Die Tiere liefen los. Als sie sich aus dem Unterholz befreit hatten, folgten sie einem sehr breiten Trampelpfad der Kriegselefanten von Harabans Söldnern in Richtung Norden. Es dauerte nicht lange, und man konnte sie nicht mehr sehen. Nur den Hufschlag hörte man noch. Und hin und wieder ein Schnauben oder Wiehern.
»Und wir werden uns jetzt sehr unscheinbar verhalten müssen«, erklärte Lirandil.
Bis zum Einbruch der Nacht warteten sie auf der Hauptastgabel eines unbesiedelten Riesenbaums. Ein paar junge Triebe wuchsen dort empor und gaben etwas Sichtschutz. Und außerdem gab es mehrere natürliche Baumhöhlen, in denen man sich notfalls verstecken konnte.
Die meiste Zeit kauerten sie schweigend in einer dieser Höhlen. Viele von ihnen stammten von Stechschnäbeln genannten Vögeln, die etwa so groß wie Halblinge waren und diese Höhlen sehr zahlreich zur Eiablage in Bäume schlugen. Allerdings benutzten Stechschnäbel eine Baumhöhle nur ein einziges Mal.
Brogandas hielt während dieser Zeit zumeist Wache und ließ sich manchmal von Lirandil ablösen. Die beide lauschten dann angestrengt in das Rascheln der Bäume und den Chor der sonstigen Geräusche hinein, dessen Gesang in den Wäldern der Dichtwaldmark allgegenwärtig war.
»Wenn Ihr irgendetwas Ungewöhnliches hören solltet, dann ist das mein knurrender Magen«, flüsterte Borro zwischendurch. Er zupfte sichtlich gereizt an der Sehne seines Bogens herum. Im Moment war es einfach nicht möglich, auf die Jagd zu gehen oder in einem der zahlreichen Bäche und Wasserläufe, die die Wälder durchzogen, einen Fisch schießen zu wollen.
»Stell dich nicht so an«, wisperte ihm Zalea zu.
»Habt ihr schon mal darüber nachgedacht, was die Orks mit unseren Pferden anfangen, wenn sie sie einfangen und gemerkt haben, dass die Reiter nichts als Trugbilder sind?«
»Wenn du dich selbst quälen willst, kannst du dir ja in allen Einzelheiten vorstellen, wie die Scheusale sie über dem Feuer braten und verschlingen, während du hungern musst«, mischte sich Whuon ein.
»Sehr lustig, Söldner«, knurrte Borro etwas beleidigt.
»Mit leerem Magen versteht er keinen Spaß«, versuchte Zalea seine Laune zu erklären.
Whuon war damit beschäftigt, mithilfe eines kleinen Schleifsteins seine Waffen der Reihe nach zu schärfen. Mit einigen Blättern, die er zu diesem Zweck gesammelt hatte, reinigte er die Klingen seiner beiden Schwerter und der diversen Wurfringe und Dolche, die er mit sich führte, außerdem von Blutresten. »Schließlich haben wir unter uns ja zumindest zwei, deren Geruchssinn äußerst empfindlich ist«, meinte er dazu. Lirandil schien im Moment für Whuons groben Humor ebenso wenig empfänglich zu sein wie Borro. Und Brogandas, auf den diese Bemerkung nicht weniger gemünzt war als auf Lirandil, hielt gerade Wache.
Lirandil saß in sich versunken da. Immer wieder leuchtete es bläulich durch die geschlossenen Augenlider des Elben. Er schien sich gerade wieder einmal intensiv mit dem Wissen zu beschäftigen, das er in Asanils Turm erhalten hatte. Und wenn er das tat, hatte es auch wenig Sinn, ihn anzusprechen.
Arvan schloss indessen die Hand um den Elbenstab. Und für einen Augenblick spürte er wieder die unheimliche Kraft, die in diesem Gegenstand gebündelt war. Er schloss die Augen und sah sich verändernde Runen vor sich. Dazu eine Stimme, die Worte murmelte, von denen er eigentlich das Gefühl hatte, sie verstehen zu müssen. Aber stattdessen waren sie ihm vollkommen unverständlich. Immer intensiver lauschte er dieser Stimme. Es musste die Gedankenstimme des Stabes sein, die schon einmal zu ihm gesprochen hatte.
Aber diesmal blieb das, was sie ihm sagte, fremd und unverständlich.
Hör auf damit!, drangen plötzlich Lirandils Worte in seine Gedanken. Arvan schreckte hoch. Der Elb sah ihn mit weit geöffneten Augen an. Ein Blick, der Arvan förmlich zu durchbohren schien und ihn dazu veranlasste, augenblicklich den Griff um den Elbenstab in seinem Gürtel zu lösen. Jeglicher blauer Schimmer war aus Lirandils Augen verschwunden, und sein Tonfall hatte eine Strenge, die Arvan nur selten an ihm bemerkt hatte.
»Was … ich meine … wovon sprecht Ihr denn eigentlich?« Arvan schluckte.
»Das weißt du sehr gut«, antwortete der Elb scharf. »Du bist unsere allergrößte Hoffnung, Arvan. Sieh zu, dass du nicht zu unserer größten Gefahr wirst!«
Arvan bewegte die Finger der Hand, die gerade noch den Elbenstab umfasst hatte. Sie fühlten sich auf eigenartige Weise taub an. Ein Kribbeln durchlief ausgehend von den Fingerspitzen seinen gesamten Körper. »Niemand ist mächtiger als du«, wisperte plötzlich die Stimme des Stabes in seinem Kopf. Und gleichzeitig glaubte Arvan in seinem Kopf den Widerhall eines dröhnenden und sehr boshaften Gelächters zu hören.
»Ihr wisst, dass ich immer auf Euren Rat gehört habe, Lirandil«, sagte Arvan dann schließlich.
»Daran tust du auch weiterhin gut, Arvan, so mächtig du dich vielleicht auch als Träger des Elbenstabs zwischenzeitlich fühlen magst. Und wenn wir schon dabei sind, dann gebe ich dir gleich noch einen weiteren Rat.«
»Ich bin ganz Ohr, werter Lirandil«, behauptete Arvan, obwohl er in Wahrheit mehr auf die Botschaften in seinem Inneren achtete. Botschaften, die er mit der Kraft des Elbenstabs in Verbindung brachte.
»Du wirst gewiss manchmal glauben, dass der Elbenstab zu dir spricht.«
»Nun, ich …«
»Du brauchst es nicht zu leugnen. Ich weiß, dass es so ist. Auch wenn der Geist eines Menschen generell weniger empfänglich ist als der eines Elben, gibt es keinen Grund, warum es dir anders ergehen sollte als vor dir König Elbanador.«
»Wie sollte ich auf diese Stimme reagieren?«, fragte Arvan.
»Du solltest vor allem ihre wahre Natur erkennen.«
Arvans Augen wurden schmal. Er schien nicht zu verstehen, worauf Lirandil hinauswollte. »Ihre wahre Natur?«, echote er.
»Es sind nicht die Gedanken des Elbenstabs, die dir etwas einflüstern, auch wenn du das eine Weile glauben magst.«
»Nicht?«
»Das, was der Stab enthält, ist nur Kraft. Kraft der puren Dunkelheit, so finster, dass niemand all ihre Eigenschaften kennt. Nicht einmal die Dunkelalben dürften ernsthaft behaupten wollen, alle Aspekte dieser Art von Kraft auch nur annähernd erforscht zu haben. In dem Stab wohnt keine Seele, kein Wille, kein Gedanke, kein Ziel, keine Form. Nur eine vollkommen chaotische, zerstörerische Macht.«
Arvan konnte das nicht fassen.
»Aber die Gedanken …«
»… sind deine eigenen, Arvan. Oder vielleicht auch nur die Zerrbilder davon. Es sind deine eigenen Worte, die du hörst, auch wenn sie dir bisweilen so fremd und eigenartig vorkommen mögen, dass du sie nicht einmal zu verstehen meinst.«
Arvan schwieg ernüchtert. »Das wusste ich nicht«, gestand er. »Und ehrlich gesagt fällt es mir schwer, das zu glauben.«
»Der Stab ist wie ein Spiegel, Arvan. Wenn du in ihn hineinsiehst, erschafft er nichts Neues. Er zeigt dir nur etwas, was zuvor schon da ist.«